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Rafael Chirbes: "Am Ufer"
Eine Stimme für die Abgehängten

Rafael Chirbes "Am Ufer" wurde in Spanien als der "Roman der Krise" gelesen. Mit luzidem Pessimismus beschreibt der Autor die Kleinstadt Olba als Mikrokosmos der Sozial- und Wirtschaftsflaute, die an der Substanz der spanischen Gesellschaft zehrt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 15.09.2014
    Ein Bettler sitzt in Palma de Mallorca auf dem Bürgersteig.
    Rafael Chirbes ist ein großartiger Erzähler, der mit gallenbitterem Humor die Floskeln und Worthülsen der heutigen Arbeits- beziehungsweise Arbeitslosenwelt entlarvt. (Julian Stratenschulte / dpa)
    "Wegen der Krise werden meine Bücher jetzt in Spanien mehr gelesen. Die Leute sind sich bewusst, dass der soziale Aufstieg bei Weitem nicht für alle ist. Der Klassenkampf geht weiter, es gibt ein Oben und ein Unten, und der soziale Aufstieg ist nur in einigen wenigen Ausnahmefällen möglich. Der Nukleus der Macht reproduziert sich. Die Macht der großen und einflussreichen Familien Spaniens ist ungebrochen. Ein Großteil konsolidierte sich im 19. Jahrhundert. Es folgten die Franco-Zeit, die Demokratie, doch der Klassenkampf prägt nach wie vor die Welt. Ursprünglich wollte ich den Roman "Ein Held unserer Zeit" nennen, weil er von einem Mann handelt, der nichts riskierte, dem die übliche Skrupellosigkeit abging."
    In diesen Worten bezieht sich Rafael Chirbes auf seinen Roman "Am Ufer", der zu Recht als "Roman der Krise" gelesen wird, weil er von der Sozial-und Wirtschaftskrise Spaniens ausgeht, die sich in den letzten Jahren dramatisch zuspitzte. Erzählt wird aus der Sicht der Unterprivilegierten, der zu kurz Gekommenen, der Einwanderer aus Nordafrika, Lateinamerika und Osteuropa, doch auch von spanischen Arbeitern und Arbeitslosen, von Firmenpleiten und der Fragwürdigkeit eines Wirtschaftsmodells, das die soziale Ungleichheit vergrößert.
    Rafael Chirbes ist ein großartiger Erzähler, der mit gallenbitterem Humor die Floskeln und Worthülsen der heutigen Arbeits- beziehungsweise Arbeitslosenwelt entlarvt und dabei so weit ausholend erzählt, dass die vielfältigen Bezüge zur spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – Bürgerkrieg, Francodiktatur, Übergang zur Demokratie- die heutige Krise erhellen.
    "Ich gehe in all meinen Romanen von mir aus und meiner Projektion nach außen. Aus meiner Sicht ist die Welt ein Schrank mit vielen Anzügen. Wir alle tragen eine Vielzahl von Personen in uns, die sich je nach Umständen, Bestrebungen und Wünschen entwickeln. Im Grunde genommen bin ich all meine Romanfiguren. Im dem Roman "Der Fall von Madrid" gibt es einen böswilligen Polizisten. Auf die Frage, wer mich zu dieser Figur inspiriert hätte, antwortete ich, der böswillige Teil in mir. Und bei der Frau, die vergewaltigt wurde, ging ich von meiner Fragilität aus."
    In dem Roman "Am Ufer" kommen mehrere Stimmen zu Wort. Zum einen der Ich-Erzähler, der unambitionierte Sohn des Schreiners Esteban, der Rückschau auf sein Leben hält: Das Schreinerdasein in der Werkstatt seines Vaters, der sich im Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner engagierte, während der Franco-Ära ins soziale Abseits geriet und heute mit seinen 90 Jahren ein demenzkranker Pflegefall ist. Das getrübte Verhältnis zu seinen Geschwistern, das durch heftige Erbauseinandersetzungen belastet wurde.
    Unterbrochen werden diese Erzählfragmente immer wieder von monologartigen Einschüben, in denen andere Romanfiguren das Wort ergreifen, die erzürnt und wütend Dampf ablassen: Arbeitslose, die nicht mehr wissen, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Frauen, die es bei grässlichen Männern aushalten und endlich einmal all das aussprechen, was sie gemeinhin für sich behalten.
    Während Don Esteban, der Inhaber der Schreinerei, noch von sich sagen konnte, dass er von seiner Hände Arbeit leben und niemand ausbeuten würde, gehört sein Sohn zu den Verlierern, wenn man ihn an einem sozialen Umfeld misst, das vom Immobilienboom der 90er-Jahre und der Grundstücksspekulation profitierte. Doch selbst der Sohn ließ sich irgendwann auf ein riskantes Immobiliengeschäft ein und verlor dabei seine gesamten Ersparnisse. Er musste daraufhin die vier Mitarbeiter der Schreinerei entlassen und Liliana, die kolumbianische Altenpflegerin seines Vaters. Sie ist die Lichtgestalt des düsteren Romans, die sich mit ihren plastischen und farbenfreudigen Erzählungen über Kolumbien, Don Estebans Zuneigung sichert und seine trüben Tage erhellt. Dabei hätte sie allen Grund, über ihren arbeitslosen und alkoholabhängigen Ehemann zu klagen. Nach Lilianas Entlassung muss sich der Sohn allein um seinen pflegebedürftigen Vater kümmern, der ohne Lilianas Zuwendung zusehends verkümmert.
    "Es ist ein Roman über das Ende des Lebens, über das Alter und den Tod. Wie einem das Alter, wenn es sich tatsächlich bemerkbar macht, viele Dinge lehrt, uns unsere Grenzen aufzeigt, etwa die Schwierigkeit, Liebesbeziehungen einzugehen."
    Der Roman "Am Ufer" spielt weitgehend im dem in der Provinz Valencia gelegenen Kleinstadt Olba und Umgebung. Dort wurden wie an der gesamten Ostküste Spaniens in den 90er-Jahren Bettenburgen für Touristen hochgezogen, die die Mittelmeerküste verschandeln. Sie sind heute die trostlosen Wahrzeichen des gescheiterten Immobilienbooms, die Mahnmale einer Modernisierung, die nicht an den Machtverhältnissen der Franco-Ära rüttelte. Im Roman gibt es außerdem einen Sumpf, der die Kehrseite der Moderne verkörpert, ihre politischen und sozialen Fehlentwicklungen. Der Sumpf ist eine Art Mülldeponie der Geschichte, wo jede Generation das entsorgt, was sie nicht haben will und was keiner sehen soll: Müll, Leichen, Waffen.
    "Ich erwähne diesen Sumpf schon in der ersten Zeile von "Krematorium" neben den Baukränen und Maurerarbeiten. Ich hatte mir zuerst gesagt, er kommt ans Ende. Der Sumpf ist unberührt. Doch dann wurde mir klar, dass er sich ja gar nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern ein Teil von ihr ist. Der Sumpf enthält viele Elemente der spanischen Geschichte: Der Müll, der früher dort hineingeworfen wurde, die Toten des Bürgerkriegs, die Asphaltblöcke der Entwicklungsjahre, den Schutt des Baubooms, die Waffen der Mafia, das alles steckt im Sumpf."
    Mit luzidem Pessimismus beschreibt Rafael Chirbes die Kleinstadt Olba als Mikrokosmos der Sozial- und Wirtschaftskrise, die an der Substanz der spanischen Gesellschaft zehrt.
    "Ich erahne eine finstere Zukunft. In dieser Schlacht zwischen Oben und Unten haben sie den Respekt vor uns verloren. Vor zehn Jahren verdiente jedweder Spanier mehr als heute. Dabei ist heute alles drei Mal so teuer wie damals. Es gibt keine Gegenbewegung von unten, und die da oben machen, was sie wollen. Sie kürzen die Gehälter, verschlechtern die Arbeitsbedingungen. Auf internationaler Ebene Interventionen nach Gutdünken. Sie machen einfach, was sie wollen."
    Rafael Chirbes: "Am Ufer"
    Übersetzung aus dem Spanischen: Dagmar Ploetz
    Verlag Antje Kunstmann, München 2014
    24,95 Euro