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Rainer Eppelmann u.a: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung

Fünf Jahre besteht sie nun, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie ist das Kind zweier Bundestags-Enquetekommissionen zur DDR und hat viele Forschungsprojekte auf den Weg gebracht.

Roger Engelmann | 06.10.2003
    Das Wissen über die DDR ist seit der Wiedervereinigung enorm gewachsen. Vieles weiß man heute besser als vor vierzehn Jahren. Ein Grund mehr, Bilanz zu ziehen und Perspektiven der DDR-Forschung aufzuzeigen. Und zwar als Festschrift zum 75. Geburtstag des Nestors der DDR-Forschung, zum Geburtstag von Hermann Weber, herausgegeben von Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach und Ulrich Mählert.

    Festschriften für emeritierte Hochschullehrer sind zumeist fachlich nur mäßig interessante Publikationen, in denen sich die akademischen Schüler des Geehrten mit thematisch disparaten Beiträgen verewigen – häufig lediglich Aufgüsse anderweitig schon publizierter Texte. Die Festschrift zum 75. Geburtstag des renommierten Mannheimer Kommunismus- und DDR-Forschers Hermann Weber folgt dieser schlechten Tradition nicht. Ganz im Gegenteil, sie setzt sich ein überaus ehrgeiziges Ziel: die umfassende Bilanzierung von Stand und Perspektiven der DDR-Forschung.

    Das Projekt wurde von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert und getragen. Als Herausgeber fungieren Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach und Ulrich Mählert, wobei der überwiegende Teil der damit verbundenen Mühen auf Letzterem gelastet haben dürfte. 55 Autoren – ausnahmslos hochgradige Experten für die jeweiligen Themen – konnten gewonnen werden. Dass sich darunter auch etliche Schüler und ehemalige Mitarbeiter Hermann Webers befinden, liegt nicht an Festschriftkonventionen, sondern in der Natur der Sache. Schließlich war Webers Arbeitsbereich DDR-Geschichte an der Mannheimer Universität für dieses Fachgebiet eine der wichtigsten akademischen Nachwuchsschmieden.

    Mit der Festschrift erfährt Hermann Weber eine außerordentliche Würdigung – sicherlich eine Genugtuung für einen Mann, dessen Lebensweg nicht immer einfach war. Er stammt aus einer Mannheimer Arbeiterfamilie, trat 1945 der Kommunistischen Partei bei und studierte an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow. Später arbeitete er in Westdeutschland für die FDJ, die nach ihrem Verbot 1951 in der Illegalität agierte. Unter dem Eindruck zunehmender doktrinärer und repressiver Verhärtung löste sich Weber Anfang der fünfziger Jahre in einem längeren Prozess vom Kommunismus. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Lebensthema war daher nie eine rein akademische Angelegenheit. Vielleicht liegt hier der Grund für seinen nüchternen und illusionslosen Blick auf die DDR, der ihn die Schattenseiten des SED-Systems auch in den Zeiten nicht übersehen ließ, als dies nicht unbedingt im Einklang mit dem Zeitgeist stand.

    Zurück zum Buch. Um die entscheidende Bewertung vorwegzunehmen: Das anspruchsvolle Ziel des Bandes wurde eingelöst. In 53 Einzelbeiträgen werden Forschungsstand und Forschungsdesiderata zumeist ausgesprochen kompetent dargelegt. Dabei erweist es sich als sehr vorteilhaft, dass die Herausgeber eine weitgehende Konzentration auf die nach 1989/90 erschienene Literatur vorgegeben haben. Denn auch das nach der Öffnung der DDR-Archive entstandene wissenschaftliche Schrifttum ist kaum noch zu überblicken, wie die über 2000 Titel umfassende Bibliografie am Ende des Bandes verdeutlicht.

    Die politische Geschichte der DDR bildet den Schwerpunkt des Kompendiums. Das entspricht nicht nur den fachlichen Vorlieben des Jubilars, sondern durchaus auch der thematischen Struktur der jüngeren Forschung. Erkennbar ist die Dominanz einer eher herkömmlichen institutionsgeschichtlichen Perspektive: Die für die Machtausübung bedeutsamen Apparate wie Parteien und Massenorganisationen, Justiz und Stasi, Polizei und Militär können inzwischen als gut erforscht gelten.

    Ausgeprägt sind auch die zeitlichen Schwerpunkte der Forschung. Sowohl für die Phase der Sowjetischen Besatzungszone und die fünfziger Jahre als auch für die achtziger Jahre liegen mittlerweile fundierte Erkenntnisse vor, während in den sechziger und siebziger Jahren noch zahlreiche blinde Flecken zu beklagen sind.

    Auffällig ist zudem die intensive, gewissermaßen nachholende Beschäftigung mit den Themenfeldern Repression und Opposition. Sie war vor 1989 von der akademischen Forschung vernachlässigt worden – aus politisch motivierter "selbst gewählter Abstinenz", wie Karl Wilhelm Fricke in seinem Beitrag zutreffend formuliert.

    Die Beiträge sind in sieben Blöcke gegliedert: Zunächst werden Gesamtdarstellungen, Perioden und Schlüsselereignisse der DDR-Geschichte behandelt. Es folgen die Themenbereiche Herrschaft und Repression, Widerstand und Opposition sowie Kirchen und Religionsgemeinschaften. Hinter der Kapitelüberschrift "Politikfelder und ihre Zielgruppen" verbergen sich die Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Den sechsten Block bildet das Thema Außen- und Deutschlandpolitik. Im "Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur" überschriebenen Schlussteil finden sich auch Artikel zu unterschiedlichen Themen der gesellschaftlichen und politischen Aufarbeitung, was an dieser Stelle den wissenschaftlichen Charakter des Bandes sprengt.

    Es ist in diesem Rahmen kaum möglich, auf einzelne Beiträge einzugehen, ohne bestimmte Themen unzulässig hervorzuheben und so einen verzerrten Eindruck vom Charakter des Gesamtwerkes zu vermitteln. Daher nur einige allgemeine Aspekte, insbesondere im Bereich der Forschungsperspektiven:

    Im grundlegenden einleitenden Artikel befasst sich Bernd Faulenbach mit dem Ort der DDR in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Pointiert diskutiert er kontroverse Deutungen des Phänomens DDR unter den Rubriken "antifaschistischer Staat", "Schöpfung der Arbeiterbewegung", Überwindung oder Fortsetzung des "deutschen Weges", "homunculus sovieticus" und "deutscher Teilstaat". Ohne sich wirklich festzulegen, lässt Faulenbach eine Präferenz für die Verortung der DDR "in der säkularen Auseinandersetzung zwischen liberalem Kapitalismus und sowjetischem Sozialismus" erkennen. Als Teil des sowjetischen Systems sei die DDR an ihrer strukturell bedingten Entwicklungsunfähigkeit in der Systemkonkurrenz gescheitert.

    In diesem Licht erscheint die vom internationalen Kontext isolierte Erforschung der DDR als problematisch. Allerdings sieht Klaus-Dietmar Henke gerade in den einzigartigen Bedingungen der DDR-Forschung die Chance zu einer Erweiterung ihrer engeren Fragestellungen hin zur paradigmatischen Betrachtung der sowjetischen Hegemonialstrukturen, der allgemeinen Funktionsmechanismen staatsozialistischer Systeme und überhaupt der Existenzbedingungen von Weltanschauungsdiktaturen in der Moderne.

    Auch Thomas Lindenberger plädiert für eine Erweiterung der Perspektive auf die transnationalen und zwischenstaatlichen Handlungsräume, gleichzeitig aber auch auf den Mikrobereich der sozialen Alltagspraxis von Herrschaft.

    Kritisch anzumerken ist, dass die thematische Struktur des Bandes immer wieder zu inhaltlichen Überschneidungen führt. Doch diese Redundanzen sowie einzelne schwächere Artikel mindern den Wert der Publikation kaum. Im Ganzen ist ein bemerkenswert vollständiges und vielschichtiges Kompendium entstanden. Es enthält nicht nur eine beeindruckende Bestandsaufnahme, sondern gibt darüber hinaus eine Fülle von Anregungen für die weitere Forschung – ein Werk mit Handbuchcharakter, an dem auf absehbare Zeit niemand vorbeikommt, der sich einen Überblick über die Forschung verschaffen will oder den Einstieg in ein spezielles Thema der DDR-Geschichte sucht.