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Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land"
Abgründe, die niemand sehen will

Von Ferne wirkt das Städtchen in Edelbauers Roman idyllisch. Aber mittendrin brechen immer mehr Löcher auf, die düster sind wie Österreichs Schweigen über die eigene Nazi-Vergangenheit. Eine surreale Parabel, mit der die Debütantin für den Deutschen Buchpreis nominiert ist.

Von Eva Pfister | 04.10.2019
Die Autorin Raphaela Edelbauer und ihr Roman „Das flüssige Land“
Literarischer Shootingstar aus Österreich: Raphaela Edelbauer (Buchcover Klett&Cotta, Autorenportrait (c) Victoria Herbig)
"Groß-Einland" ist auf keiner Karte von Österreich verzeichnet. Aber die Eltern von Raphaela Edelbauers Ich-Erzählerin Ruth Schwarz sind dort aufgewachsen und wollen auch dort beerdigt werden. Als beide bei einem Autounfall ums Leben kommen, unterbricht die junge Physikerin ihre Arbeit an der Universität Wien und fährt los. Ruth weiß ungefähr, in welcher Gegend der Ort liegt, und versucht sich an Hinweise in den Erzählungen ihrer Eltern zu erinnern. Nach ein paar Tagen hört sie zufällig an einer Tankstelle, wie ein Mann auch nach Groß-Einland fahren will und folgt ihm.
Als der Weg über Stock und Stein durch ein wegloses Waldstück führt, ahnt man als Leserin schon, dass nun im Roman der Übergang in eine andere Welt stattfindet. Und tatsächlich scheint in "Groß-Einland" die Zeit stehengeblieben zu sein: Eine Stadtmauer umgibt die Ansammlung mittelalterlich anmutender Fachwerkhäuser, in deren Mitte ein Kirchturm aufragt. Aber die Idylle trügt: Der Turm steht schief, Plätze senken sich ab, Löcher tun sich auf. Bald wird Ruth klar, dass diesem Ort die baldige Zerstörung droht. Aber die Einwohner des Städtchens benehmen sich so, als wäre alles ganz normal:
"Sämtliche Pflastersteine, die den historischen Belag der Stadt bildeten, waren von den Absenkungen geradezu fortgesprengt worden und lagen nun lose auf den Plätzen und Straßen. Zwar hatte man zwischendurch immer wieder versucht, sie anzubetonieren, doch lösten sie sich, sobald das Loch durch eine feuchte Nacht auch nur einen Millimeter absackte. Ganzjährig herrschte akute Rutschgefahr; nur waren wir Meister darin geworden, uns dennoch fortzubewegen. Sogar die Greise, normalerweise kaum in der Lage, auf festem Untergrund im Equilibrium zu bleiben, streckten versiert den Gehstock von sich, als wären sie auf hohen Seilen unterwegs. Der Kirchturm indessen hatte eine neue Dimension der Bedrohlichkeit entwickelt: Manche behaupteten, er stehe im 45-Grad-Winkel, und auch wenn offizielle Messungen die Überzogenheit dieser Aussage bestätigten, war die Kipptendenz nicht vollständig von der Hand zu weisen."
Trügerische Realität
Die Atmosphäre in Raphaela Edelbauers Roman "Das flüssige Land" ist ausgesprochen kafkaesk. Ruth erfährt, dass alles in Groß-Einland einer Gräfin gehört; schon bald fängt sie selbst an, in deren Schloss zu arbeiten. Sie erhält als Physikerin die Aufgabe, ein Verfahren zur Auffüllung des "Lochs", wie die Einheimischen beschönigend sagen, zu entwickeln. Groß-Einland liegt nämlich über der weit verzweigten Aushöhlung eines Bergwerks, in dem durch Jahrhunderte hindurch Rohstoffe gewonnen wurden. In den lokalen Mythen ist von Gold und Silber die Rede, zuletzt wurde Kalk abgebaut. Noch immer liegt eine weiße Staubschicht über dem Ort.
Dass der Debütroman der 29-jährigen Österreicherin so spannend zu lesen ist, liegt an der bizarren Mischung von konkreten Schilderungen einer kleinstädtischen, durchaus heutigen Realität und fantastischen Gegebenheiten, die wie Versatzstücke aus einer anderen, vergangenen Welt aufblitzen. Edelbauers Protagonistin Ruth nimmt diese surreale Wirklichkeit in einem schlafwandlerischen Zustand wahr, der von ihrem ausgiebigen Konsum von Beruhigungs- und Aufputschmitteln herrührt. Denn seit ihrer Studienzeit leidet sie an einem gestörten Verhältnis zur Realität.
"Anfangs war es nur ein leichtes Befremdungsgefühl, als wären diese Straßen, die ich doch so gut kannte, Fälschungen. Als wäre ich in Kulissen unterwegs, die ein Hollywoodproduzent gewieft angefertigt hatte, um mich zu täuschen. … Es war ein quälendes Gefühl, ein dauernder Derealisierungszustand."
Der Grund für Ruths Entfremdung von der Wirklichkeit liegt in ihrer Forschungstätigkeit begründet. Sie studierte theoretische Physik und spezialisierte sich auf die Blockuniversums-Theorie. Diese stellt die linear ablaufende Dimension von Zeit in Frage und behauptet stattdessen das gleichzeitige Vorhandensein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Je begeisterter der Intellekt der jungen Physikerin diese Theorie bejahte, desto mehr verlor ihr Körper den Biorhythmus. Die Folge war, dass Ruth schon bald kein Gefühl mehr für Tag und Nacht hatte, niemals müde wurde, aber immer nervöser – und schließlich begann, sich mit Medikamenten zu beruhigen.
Die Vergangenheit ist nicht wirklich vergangen
Ob diese Erklärung in dem surrealen Setting von Edelbauers Debüt überhaupt notwendig gewesen wäre, ist fraglich. Auch die eingeschobenen Theorie-Texte über Eternalismus oder Schwarze Löcher überfrachten den Roman eher, als dass sie den Inhalt vertiefen würden.
Denn auch ohne Erklärungen folgt man beim Lesen problemlos und neugierig dem widersprüchlichen, oft irrationalen Verhalten von Ruth Schwarz. Sie lässt ihre Wiener Existenz völlig hinter sich und lässt sich in Groß-Einland von der Gräfin ein Haus zuweisen, das sich als das Haus ihrer Großeltern entpuppt. Darin fühlt sich Ruth glücklich, als hätte sie endlich eine lang ersehnte Heimat gefunden.
Andererseits beginnt sie als Wissenschaftlerin ganz rational, die befremdliche Realität dieses Ortes zu hinterfragen, und recherchiert seine Geschichte. Bald entdeckt sie, dass sich in Groß-Einland während des Zweiten Weltkriegs eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen befand, – und dass viele der Zwangsarbeiter dort ums Leben kamen.
Aber wie konnte eine Gräfin sich nach dem Krieg in den Besitz der gesamten Kleinstadt bringen? Rätselhaft ist auch Ruths Familiengeschichte: Ihr Großvater verschwand 1944 plötzlich spurlos. Und ihre Eltern verunglückten ausgerechnet in dem Augenblick tödlich, als sie bei ihren Nachforschungen über die familiäre Vergangenheit der Wahrheit auf die Spur kamen.
Viele KZ-Häftlinge starben unter Tage
In ihren Debütroman hat Raphaela Edelbauer die österreichische Geschichte der Nazizeit verarbeitet. So wie in Groß-Einland betrieb das Konzentrationslager Mauthausen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs 40 Außenstellen in unterirdischen Anlagen. In einem Stollen in Hinterbrühl bei Wien, wo die Autorin aufgewachsen ist, wurden zum Beispiel Flugzeugteile produziert.
Das fiktive Groß-Einland ist von daher auch eine Metapher für den immer noch tabuisierten Umgang Österreichs mit der eigenen Vergangenheit. Bis heute wird dort kaum über die Mitverantwortung an den Verbrechen der NS-Zeit öffentlich geredet. Lieber schiebt man die Schuld daran den deutschen Nationalsozialisten zu. Wie Edelbauers Erzählerin Ruth an einer Stelle des Romans rabenschwarz raisoniert:
"Ein letztes Teilrätsel bestand in der Frage, wie zehn Wachmänner das Töten von achthundert Menschen zustande gebracht hatten. Ich vermutete längst, dass man dem Wachpersonal geholfen haben musste, doch auch das wurde unter einer formelhaften, pittoresk bedauernden Standardversion der Dinge verborgen: Die Wehrmacht hatte das getan, die Wehrmacht, die Wehrmacht, die Wehrmacht hatte alles beschlagnahmt. Das heißt, ganz so problemlos war es ja nicht, denn an drei oder vier Stellen der Geschichte, die man nach ihren Auffaltungen wieder hatte glattstreichen wollen wie eine widerspenstige Tischdecke an der Sonntagstafel, war die unbelehrbare Erdkruste überraschend aufgerissen."
Waren nur die Deutschen böse Nazis?
Tatsächlich hatten sich die meisten Österreicher lange nur als Opfer von Hitlers Aggression betrachtet. Erst in den 80er-Jahren entzündete sich am Fall des Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der in der NS-Zeit Offizier der Wehrmacht war, eine Debatte über die Verstrickungen des Landes in den Nationalsozialismus. Bis dahin pflegte man in Österreich die nostalgischen Traditionen des Kaiserreichs und der bäuerlichen Folklore, so wie es Raphaela Edelbauer in "Das flüssige Land" beschreibt. Der Roman ist in dieser Hinsicht auch eine sarkastische Abrechnung mit dem gerade wieder aufblühenden Heimatkitsch. Er besticht aber zusätzlich durch intensive Naturbeschreibungen einer Landschaft, die mal lieblich, mal düster erscheint und deren feuchter und hohler Untergrund wie eine Zeitbombe tickt.
Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land"
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. 352 Seiten, 22 Euro