Archiv

Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“
Der Underground der Wiener Moderne

Zwischen Ragtime, Freud und Schönberg: Die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer schickt ein Trio jugendlicher Sinnsucher in den bellizistischen Hexensabbat, der Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs heimgesucht hat.

Von Günter Kaindlstorfer |
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen"
Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen" (Portraitfoto: Apollonia Bitzan / Buchcover: Klett - Kotta Verlag)
Wien in den letzten Julitagen 1914: Die Stadt gleicht einem Tollhaus. Kriegsfreiwillige strömen zu tausenden in die Kasernen, auf der Ringstraße wird die „Wacht am Rhein“ gesungen, vor dem Kriegsministerium ertönt die „Kaiserhymne“, Bier fließt in Strömen, die Rotationsmaschinen der großen Zeitungsdruckereien kommen mit der Produktion der Extraausgaben nicht mehr nach. In dieser bellizistisch affizierten Atmosphäre hat Raphaela Edelbauer ihren Roman angesiedelt – eine Studie über das Kippen einer Gesellschaft vom Alltagsmodus in den Furor entfesselter Kriegstreiberei.
„Es gibt eine Vielzahl an Themen, die mich dazu inspiriert haben, dieses Buch zu schreiben“, erklärt Raphaela Edelbauer. „Ob es das intellektuelle Klima ist, ob es die Stadt selber ist, damals eine der größten Städte der Welt, all das verdichtet sich zu einer Atmosphäre, die vielleicht ein bisschen begreifbarer machen kann, wie es dazu kommen konnte, dass eine Generation, die so sicher aufgewachsen ist wie keine andere zuvor, plötzlich in einen Massenvernichtungskrieg zieht.“

Ultimatum an den Zaren

Edelbauers Roman beginnt klassisch: mit der Ankunft eines etwas tumben jungen Mannes vom Land in der großen, mythenumwobenen Stadt. Im Falle der „Inkommensurablen“ ist es der Tiroler Pferdeknecht Hans Ranftler, der am Morgen des 30. Juli 1914 mit der Eisenbahn in der Reichshaupt- und Residenzstadt ankommt. Das Ultimatum des deutschen Kaisers an den Zaren läuft in wenigen Stunden aus, in den Straßen brodelt der Patriotismus.
Raphaela Edelbauer schickt ihren Helden auf einen traumnovellenartigen Trip durch das von Kriegshysterien überschäumende Wien. Anders als Stefan Zweig und Karl Kraus, deren Schilderungen der Sommertage 1914 als kanonisch gelten dürfen, interessiert sich Edelbauer dabei vor allem für die Gegen- und Untergrundkulturen der Stadt. Sie lässt ihren Protagonisten Freundschaft mit einer frauenbewegten Mathematikstudentin und einem blässelnden Jung-Aristokraten schließen, dann verordnet sie dem jugendlichen Trio eine Abenteuerreise durch den Underground der Habsburgermetropole: Hans und seine Freunde machen die Lesben- und Schwulenszene an der Wienzeile unsicher, treten morphinistisch indizierte Traumreisen an und nehmen im Kanalsystem der Stadt – der „Dritte Mann“ lässt grüßen – mit Kanalstrottern und verzückten Spiritistinnen an einer eigentümlichen Séance teil.

In den Untergrund verdrängt

„Eine der größten Gefahren, wenn man ein solches Buch schreibt“, so Raphaela Edelbauer, „ist, dass man in so einen Sissi-Kitsch hinein kippen kann. Für mich war die Frage: Wie vermeidet man auf der einen Seite Klischees, und was kann man den Leuten jenseits touristischer Hofburg-Stereotype mitgeben? Und da habe ich mir die faszinierende Welt des Untergrunds angeschaut: Wie haben eigentlich diese buchstäblich in den Untergrund verdrängten Menschen, die die Metropole ausgespuckt hat, gelebt?“
Edelbauer wagt viel mit ihrem Roman – und gewinnt. Das queere, späthabsburgische Wien, das sie auf die Bühne hebt – von Schönberg- und Ragtimeklängen durchweht – ist in der Sphäre der erzählenden Prosa ein bisher eher unbestelltes Feld. Dass Edelbauer auf diesem Terrain reiche Ernte einfahren kann, hängt mit dem farbigen und klaren Stil zusammen, den sie pflegt – und mit der erstaunlichen Kunstfertigkeit, mit der sie die Balance zwischen Spannungsroman, Traumerzählung und politischer Parabel mit aufklärerischem Anspruch hält. Dass sich da und dort kleine Fehler eingeschlichen haben, sieht man der Autorin gerne nach: der „Reumannplatz“, nach Wiens erstem sozialdemokratischem Bürgermeister benannt, hieß 1914 noch „Bürgerplatz“, und ob man in der österreichischen Hauptstadt wirklich die Formulierung „halt den Rand“ verwendet hat, wie von der Autorin mehrfach insinuiert, wäre noch einmal zu diskutieren. Aber das sind Lässlichkeiten. Ansonsten: ein famoses, mehr noch: ein großes Buch.
Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart
352 Seiten, 25 Euro.