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Rastplatz für die Seele

Gleich an der A2, in Vlotho-Exter, befindet sich die älteste evangelische Autobahnkirche. Familien auf dem Weg in den Urlaub, Geschäftsleute, ganze Reisebusse: 30.000 Besucher kommen jährlich hierher, zu einer Rast für die Seele.

Von Julia Batist |
    "Das kennen ja alle Leute. Man denkt so nach, während man so fährt. Grad auf der Autobahn fährt man ja ziemlich viel auch stupide geradeaus. Alles sehr routiniert und dann im Hinterstübchen, da rattert es denn so durch und man denkt nach, über sich und sein Leben. Und dieses Unterwegssein ist ja auch ein Bild des Lebens - im Leben unterwegs sein.”"

    Ralf Steiner, Pastor der Autobahnkirche Exter, kann sich gut in seine Gäste hineinversetzen. Schließlich ist auch er Autofahrer. In seiner Kirche gönnen sich täglich Reisende eine Auszeit. Nicht alle Besucher wissen zunächst etwas mit dem Begriff Autobahnkirche anzufangen.

    ""Als ich das erste Mal hier hergekommen bin, da hab ich das Schild gesehen. Ich bin oft vorbeigefahren und wusste eigentlich nicht, was es ist. Und dann hab ich irgendwann mal das ausprobiert und bin hier hergekommen und hab mich einfach reingesetzt. Und das war total toll."

    Nach der Abfahrt weisen fünf Hinweisschilder den Weg von der A2 zum Gotteshaus. Es geht über einen mit Blumen bepflanzten Kreisverkehr hinweg, scharf rechts, bergauf und plötzlich steht man auf dem Parkplatz der Autobahnkirche.

    Mächtige Bäume stehen vor der Kirche. Sie ist umgeben von sattgrünen Wiesen, einer kleinen Mauer und einer Parkbank. Davor: zwei alte Grabsteine und Rosenbüsche. Die Klänge der Autobahn mischen sich mit Vogelgezwitscher. Ein Ort, wie ihn nicht jeder erwartet, weiß Pastor Steiner.

    "Die Besucher, die in unsere Kirche kommen, die erleben, manchmal ganz verwundert, auf Anhieb ja, den Charme einer alten Dorfkirche. Und Staunen, weil sie denken, Autobahnkirche, die kann ja doch nicht älter als die Autobahn sein. Das ist eben hier in Exter und auch in anderen Autobahnkirchen - ungefähr der Hälfte - der Fall, dass das alte Kirchen sind, Gemeindekirchen, die durch ihre Nähe zur Autobahn sich zusätzlich eben öffnen für die Reisenden."

    Die erste Autobahnkirche in Deutschland wurde 1958 an der A8 in Adelsried eingeweiht. In Exter gab es die Idee allerdings schon Anfang der 50er-Jahre - umgesetzt wurde sie 1959. Die Dorfkirche ist die älteste evangelische Autobahnkirche Deutschlands. Bis in den späten Abend können müde oder hektische Autofahrer hier einen Gang runterschalten. Es gibt einen Spielplatz, Bänke im Grünen und behindertengerechte Toiletten.

    "Zum Beispiel: Heute Morgen waren zwei, drei Autos, aus Soest war eins, da, die haben gefrühstückt - einmal vor der Kirche und oben auf dem Rastplatz gefrühstückt. Ob die dann in der Kirche waren, das weiß ich nicht."

    "Im Sommer, so Wohnmobile, Familien mit Kindern, das sieht man, dass die hier auch übernachten, oben auf dem Gemeindeplatz. Das sieht man schon öfters dann im Sommer."

    Doch nicht nur die Möglichkeit zur Rast - ganz unterschiedliche Gründe führen die Menschen von der Autobahn herunter - in die Kirche:

    "Es kommen auch Menschen hierher, die um Angehörige trauern, die auf den Straßen zu Tode gekommen sind. Auf den Landstraßen werden ja sehr häufig Kreuze errichtet, Kerzen und Blumen hingestellt, auf den Autobahnen geht das ja nicht, darf man ja nicht anhalten. Und deswegen haben wir uns das hier mit diesem Kreuzstein ausgedacht."

    Ein Gedenkstein aus Basalt erinnert auf dem angrenzenden Friedhof an die Unfalltoten. Drinnen, in der Kirche umschreibt ein Bibelspruch auf dem Altarbogen den Zweck der Autobahnkirche:

    "Da steht aus dem Matthäus Evangelium ein Wort von Jesus: 'Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken.'"

    Aus dem Rundbogenfenster dahinter schaut Christus hervor und hält segnend seine Hand hoch - Glaskunst der 50er-Jahre. Eine Besonderheit ist der schwebende, mit Gold verzierte Taufengel. Im 19. Jahrhundert waren sie in Mode, mittlerweile gibt es Taufengel nur noch in wenigen Kirchen. Der weiße Innenraum und die hellen Holzbänke mit den roten Sitzkissen wirken freundlich. Am Eingang steht ein Buchständer mit einem aufgeschlagenen Buch. Jeder kann seine Sorgen oder Wünsche hineinschreiben.

    "Menschen treffe ich meistens keine, aber ich sehe dieses Buch. Und da hab ich auch selber schon mal reingeschrieben. Und da lese ich manchmal drin. Und dann merk ich auch, was die Menschen, die hierher kommen, was die auch für Probleme haben. Es wird viel über Krankheit geschrieben und über Sorgen. Sorgen und Bitten - und manchmal auch einfach danke sagen."

    ""So eine ganz typische Eintragung hab ich hier gerade gesehen. Da stand: 'Danke, lieber Gott, für alles, dass wir den schweren Autounfall überlebt haben. Michael.'”"

    ""Ein Grundgedanke von Autobahnkirchen ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit. Ganz schlicht: die Idee, dass Menschen, die unter Strom sind und wo richtig Druck auf dem Kessel ist, beruflich, privat, oder schlechte Nachricht gekriegt und so - solche kommen ja auch öfter hierher. Und schreiben dann ja in das Buch, was sie gerade bewegt. Da ist gerade vielleicht was Schlimmes passiert. Die haben einen Unfall erlebt oder die haben gerade die Kündigung in die Hand gekriegt und können jetzt nicht nach Hause fahren, sondern müssen erstmal einen Moment mit sich klarkommen."

    Gleich neben dem Anliegenbuch steht ein großer schwarzer Kerzenständer. Er bietet viel Platz für Teelichter: Opferkerzen. 400 bis 500 Kerzen zünden Besucher jeden Monat an:

    "Das ist ein Bedürfnis der Menschen, die vielleicht kein Gebet formulieren können und gar nicht mehr so religiös geübt sind. Aber eine Kerze anzünden und sich was Gutes dabei denken, das ist so einfach."

    Täglich kommen 50 bis 100 Besucher in die Autobahnkirche Exter. Eine Studie hat ergeben: die meisten von ihnen sind Männer, Mitte 50.

    "Ich erinnere mich an einen Mann, der einen fürchterlichen Streit mit seiner Frau hatte und sich ins Auto gesetzt hat, so in seiner Wut und Verzweiflung und Verlorenheit und dann losgefahren ist. Bestimmt gerast - jedenfalls sicher wird der nicht gefahren sein. Und der ist ja tatsächlich dann 150 Kilometer gefahren, bis er irgendwann angefangen hat nachzudenken, ja wo fahre ich denn jetzt hin und was soll das hier eigentlich alles. Ist hier abgefahren, ist in diese Kirche gekommen. Ja, ist so richtig runtergekommen von seinem Rasen und hat hier gesessen und geweint. Ich hab ihn dann behutsam angesprochen. Und der war dann wieder ganz dankbar, dass auch ein Seelsorger da ist, den die meisten weder suchen noch brauchen."

    Im Alltag scheint die Autobahnkirche etwas von ihrem spirituellen Reiz zu verlieren. Die Anwohner sind ihr zwar räumlich am nächsten. Als einen besonderen Ort der Ruhe und Besinnlichkeit nehmen sie ihre Kirche jedoch nicht wahr:

    "Unbedingt ruhiger ist es ja nicht. Man hört die Autobahn ja auch noch laut genug."

    "Für uns ist es selbstverständlich. Ich finde da jetzt keinen Unterschied zu anderen Kirchen."

    "Nein - das würde ich nicht nutzen. Ich bin nicht in der Kirche. Das brauch ich für mich nicht."

    "Definitiv würde ich da nicht an der Kirche anhalten und da Rast machen."

    So liegt die Faszination offenbar gerade im ganz bewussten Abfahren und Unterbrechen einer Reise. Stammgäste wissen den "Rastplatz für die Seele" zu schätzen. Allein sitzt der Besucher aus Wuppertal noch etwas vor der Kirche auf der Mauer und spielt entspannt auf seinem Didgeridoo.

    "Ich muss mich schon entschließen: Ich fahr jetzt ab. Also wirklich ein ganz bewusster Bruch zu dem, wo ich jetzt hin will und noch einmal eine Zeit, einfach innezuhalten. Wahrnehmen tu ich es als innere Erholung. Wie so ein Geschenk was ich mir mache: weg von der Eile, weg von dem Ziel, wo ich eigentlich hin will. Ich gönn mir dann so eine Auszeit. Diese Idee Autobahnkirche - gerade mit diesem Fahren, wo man so konzentriert ist und so auch in gefährlichen Situationen und dann in dieser Idylle hier und in dieser Ruhe - das finde ich toll."

    Buchtipp:
    Autobahnkirchen in Deutschland: Ein himmlischer Routenplaner
    Herder Verlag, Freiburg, 7,95 Euro