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Rau

DLF: Herr Bundespräsident, das erste Halbjahr Ihrer Amtszeit nähert sich dem Ende. Was würden Sie selber als Wichtigstes hervorheben, wenn Sie eine erste Bilanz ziehen?

Rainer Burchardt |
    Rau: Es ist ein ganz neues Amt. Selbst für jemanden, der viele Jahre in der Politik gewesen ist, erschließen sich neue Aspekte. Das ist deutlich geworden bei den Besuchen, die ich gemacht habe in den Ländern der Bundesrepublik, aber auch bei unseren Nachbarn. Natürlich ist das erste halbe Jahr vor allen Dingen ausgefüllt mit Antrittsbesuchen, mit ersten Gesprächen, mit Kontakten, die man schließt. Aber es gab ein paar wichtige Themen in diesem halben Jahr, zu denen ich mich geäußert habe – sehr unterschiedliche Themen, von den Fragen der Sonntagsruhe bis zur Zwangsarbeiterentschädigung. Und zu den guten Erfahrungen gehört, dass der Satz von Willi Brandt aus dem Jahr 1972 'Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein', dass der ein Stück Erfüllung gefunden hat. Dass man so aufgenommen wird in Polen wie in Frankreich, in Tschechien wie in England oder in der Schweiz, dass wir Deutsche, das größte Volk innerhalb Europas – wenn ich von den Russen absehe – keine Feinde haben und nicht als Feinde empfunden werden, das ist nicht gerade ein Glücksgefühl, aber das ist für jemanden, der auch noch einen Blick auf die erste Hälfte dieses Jahrhunderts tut, doch ein Gefühl der dankbaren Erfüllung. Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts war eine schreckliche Zeit, auch durch deutsches Versagen, durch deutsche Schuld. Und in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts haben wir Deutschen nicht zuletzt am 9. November vor zehn Jahren erlebt, dass uns Geschichte auch gelingen kann. Und das gibt uns so etwas wie selbstbewusste Bescheidenheit. Für die bin ich dankbar, und die spüre ich bei den Nachbarn und bei uns.

    DLF: Sie haben sich etwas vorsichtig ausgedrückt und gesagt: 'Wir haben keine Feinde mehr um uns herum'. Haben wir denn wirklich schon lauter Freunde? Ich erinnere an Ihren Besuch auf der Westerplatte, wo Sie am 1. September anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsbeginns waren und zu den Polen gesprochen haben und intensive Kontakte gehabt haben. Haben Sie das Gefühl, dass schon eine Aussöhnung mit den Völkern um uns herum, die wir ja überfallen haben vor mehr als einem halben Jahrhundert, dass diese Aussöhnung schon erfolgt ist?

    Rau: Ich halte es nicht für wenig, dass wir mit den Staatsoberhäuptern gute und freundschaftliche Beziehungen haben - ob Sie an die Niederländische Königin oder an den Polnischen Präsidenten denken - und dass die in ihren Ländern Fürsprecher der Deutschen sind. Das führt nicht dazu, dass alle uns lieben, aber die Vorbehalte, die es gibt – zum Teil bei der jungen Generation –, die werden abgebaut, und vor allen Dingen werden sie relativiert dadurch, dass wir in ganz vielen Bereichen – wirtschaftlich und kulturell – eine enge Verzahnung, eine enge Vernetzung haben, wie man das heute nennt. Und ich glaube, dass das dazu führt, dass Vorurteile sich nicht mehr verfestigen können. Und wir müssen nun darauf achten, dass sich bei uns auch keine Vorurteile verfestigen, denn die gibt es ja auch.

    DLF: Was können wir aktiv tun, um in diesem Sinne Fortschritte zu erzielen?

    Rau: Ich bin sehr dafür, dass wir – vor allen Dingen innerhalb Deutschlands, aber dann auch über die Grenzen hinaus – das Instrument der Partnerschaften stärken, der Gemeinden, der Schulen, der Hochschulen. Es gibt da eine Fülle von Aktivitäten. Und wenn wir darauf achten, dass das nicht nur die Prominenten sind, die sich begegnen - also nicht nur die Bürgermeister, sondern auch die Gesangvereine -, ich glaube, dann geschieht etwas, dann kommt etwas in Bewegung.

    DLF: Wäre vorstellbar die Auflebung eines deutsch-polnischen Jugendwerks zum Beispiel?

    Rau: Es gibt ein deutsch-polnisches Jugendwerk, aber es ist zu unbekannt. Und es ist noch zu sehr begrenzt auf die sogenannten östlichen Länder, also auf Brandenburg, auf Sachsen, auf Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg. Ich wünschte mir, dass auch Westdeutsche an solchen Aktivitäten noch stärker teilnehmen als sie das tun.

    DLF: Herr Bundespräsident, Sie haben eben den 9. November zu recht angesprochen, der ja auch in Ihre Amtszeit fiel als 10-Jahres-Datum. Es ist immer wieder zu hören, bisweilen auch zu spüren, dass die sogenannte Mauer in den Köpfen nicht nur nicht weg ist, sondern möglicherweise auch wieder größer wird, auch angesichts des wirtschaftlich größer werdenden Gefälles zwischen Ost- und Westdeutschland. Was eigentlich kann diese Gesellschaft tun, um diesen Zwiespalt zu überwinden?

    Rau: Miteinander reden, aufeinander zugehen, sich die eigene Lebensgeschichte erzählen, damit wir nicht den Eindruck im Westen verfestigen, 'die im Osten hätten vergeblich gelebt' oder 'alle hätten schuldhaft gelebt'. Wie viele Menschen haben trotz eines Systems, das ihnen aufgezwungen war, das sie nicht mochten, an das sie sich nur partiell angepasst haben, eine eindrucksvolle Lebensleistung, die ihnen jetzt als verfallen erscheint. Wenn Sie bedenken, dass etwa 35.000 Rechtsvorschriften mit dem 3. Oktober 1990 in Kraft getreten sind für 17 Millionen Menschen, die vorher diese Rechtsvorschriften nicht hatten, sondern andere, und wenn Sie jetzt wahrnehmen, dass viele dieser Menschen, soweit sie ältere sind, nicht mehr verstehen können, was sich in der Weltwirtschaft tut, wie nicht nur Firmen gekauft werden, sondern Arbeitsplätze verkauft werden – die kommen aus einem Gefühl sozialer Sicherheit, bei dem sie den Bankrott der DDR, den es gegeben hat, nicht einzukalkulieren brauchen, weil er sie damals nicht betroffen hat, als sie sichere Arbeitsplätze hatten. Und ich glaube, wir müssen einfach nachdenklicher miteinander reden, als wir das tun. Dann wird es nach meiner Überzeugung immer mehr Abbau dieser Vorbehalte geben, und – man kann es in Berlin spüren, aber man spürt es auch zwischen Bayern und Thüringen – es gibt inzwischen mehr Brücken zueinander. Wir müssen bloß dabei deutlich machen: Die Einheit, die wir wollen und an der wir uns freuen, ist keine Einheitlichkeit. Das Ziel ist nicht, dass alle so werden wie wir sind, sondern dass der Reichtum, die Vielfalt - der Sachsen, der Mecklenburger, der Schleswiger, der Bayern, der Rheinländer, der Westfalen -, dass das alles erhalten bleibt und nicht über einen Kamm geschoren wird.

    DLF: Das ist natürlich der ideelle Teil des Zusammenlebens, aber ich denke, gerade im Osten spürt man auch sehr oft Anspielungen auf die materielle Divergenz. Und die Frage wäre ja zu stellen, ob nicht neben dem Solidarbeitrag, den ja alle zahlen müssen ohnehin, noch mal ein Sonderopfer zu bringen wäre, um dieses Wirtschaftsgefälle, das ja auch ein Sozialgefälle und somit auch ein politisches Gefälle werden kann, abgebaut wird.

    Rau: Das wäre gut gewesen, wenn das geschehen wäre mit der Einheit 1990. Aber ich glaube nicht, dass man das im Jahr 2000 nachholen kann. Wir haben in den neuen Ländern, wie wir sie nennen, eine neue Urbanität erreicht in den großen Städten. Wir haben noch nicht in der Fläche - auf dem Land, in den großen Regionen - den Standart erreicht, den wir in vielen Teilen Westdeutschlands haben. Aber wir müssen auch darauf achten: Es gibt auch in Westdeutschland ein Gefälle. Es ist ein Unterschied, ob ich in Ostfriesland lebe oder im Rhein-Main-Gebiet, ob ich in Stuttgart lebe oder auf der Schwäbischen Alb lebe. Und diese Unterschiede darf man nicht nivellieren. Man muss nur aufpassen, dass daraus nicht eine Art westlichen Besitzstandsdenken wird – so nach der Melodie: 'Wir haben ohnehin den höheren Standard, seid Ihr zufrieden mit dem, was Ihr habt.

    DLF: Aber ist das nicht die Beschreibung der Realität?

    Rau: Das liegt ein bisschen daran, dass wir bei den Hilfen, die im Transfer liegen, nicht haben vermeiden können, dass die Gewinne der Hilfen im Westen ankommen. Und darum dränge ich immer darauf, dass wir alles tun, damit sich in den neuen Ländern ein selbsttragender Mittelstand schaffen kann, damit Eigentum entstehen kann. Das ist eine Aufgabe, die wird sicher länger als eine Generation dauern. Aber wir müssen sie in Angriff nehmen, damit es nicht zu einer Abwanderung kommt, bei der hernach die Leistungsträger weggehen und sich irgendwo im Westen ansiedeln und im Westen dann eine Goldgräberstimmung entsteht.

    DLF: Dies alles, Herr Rau – betrachtet vor dem Hintergrund des eingetretenen Vertrauensverlustes in die Politik im allgemeinen und in die Parteien im besonderen durch die Parteispendenaffäre, auch anderer Affären, Rücktritte zuhauf –, wirft natürlich die Frage auf: Hat diese Demokratie im Augenblick Schwachstellen offenbart, die vermeidbar wären – erstens, und zweitens: Muss nicht in der Politik eine Wende im Denken und im Handeln eintreten in dem Sinne, dass tatsächlich nicht nur über Transparenz gesprochen wird in schönen Interviews und Sonntagsreden, sondern auch Transparenz gesetzlich untermauert wird, mehr als bisher?

    Rau: Es gibt eine Verdrossenheit, die von mancherlei Vorgängen kommt, die nun der Bundespräsident nicht bewerten kann und bewerten darf, zumal ja Ergebnisse von Prüfungen in vielen Fällen noch gar nicht vorliegen. Aber dass wir in der Politik uns immer wieder und neu um Glaubwürdigkeit bemühen müssen, dass wir darauf achten müssen, dass eine öffentliche Meinung besteht und entsteht, die mehr Reportage und weniger Kolportage enthält, die die Recherche ernst nimmt und nicht Menschen jagt, das scheint mir wichtig zu sein, damit wieder Vertrauen entstehen kann. Ich glaube, das ist eine Herausforderung für alle, für die Parteien, für die, die Verantwortung tragen, aber auch für die Medien, denn – ich neige nicht zur Medienschelte, aber ich muss doch darauf hinweisen, dass in vielen Fällen Menschen gezeichnet worden sind, die hernach sich als schuldlos erwiesen. Das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es Verfehlungen gibt und Verfehlungen gegeben hat in allen Phasen der deutschen Politik und dass man solche Verfehlungen deutlich und hart ahnden muss. Nur glaube ich, dass der Bundespräsident in dem Sinne ein Wächteramt wahrnehmen sollte, als er auch gegen Ungerechtigkeiten und gegen ungerechte Urteile sich äußert, gleichgültig, wen sie getroffen haben.

    DLF: Nun ist ja die Verfassung so gestrickt, dass der Bundespräsident begrenzte Mittel und Möglichkeiten hat, um hier einzugreifen. Aber reicht das Wächteramt in diesem Fall wirklich aus, um diesen Vertrauensverlust zu beseitigen? Was könnte, was würde der Bundespräsident Johannes Rau sich vorstellen können, in Zukunft zu tun, um den Vertrauensverlust in die Politik zu beseitigen?

    Rau: Das ist natürlich zuerst eine Anfrage an die Parteien, an die öffentlichen gesellschaftlichen Kräfte. Da sind auch die Kräfte der Selbstreinigung gefragt. Und der Bundespräsident ist nicht der Richter, auch wenn er versucht, zur Glaubwürdigkeit beizutragen in der Art, wie er redet und sein Amt wahrnimmt. Wichtig ist, dass man Glaubwürdigkeit erzielt dadurch, dass man tut, was man sagt und sagt, was man tut. Und wenn das wieder erreicht wird, dann – glaube ich – sind wir ein ganzes Stück weiter. Der Bundespräsident hat eine Möglichkeit, die er nutzt – ich habe das vor 14 Tagen bekannt gegeben –: Der Bundespräsident muss nach dem Parteiengesetzt eine Kommission einrichten, die sich mit der Finanzierung der Parteien aus öffentlichen Mitteln beschäftigt. Das werde ich in diesen Wochen tun. Den Vorsitz wird die Präsidentin des Bundesrechnungshofs übernehmen. Ein Beirat wird die Arbeit dieser Kommission begleiten. Und ganz gewiss werden die sich befassen mit der öffentlichen Finanzierung. Aber wer sich mit der öffentlichen Finanzierung befasst, der kann natürlich nicht den Blick wegwenden von dem, was es jenseits dieser öffentlichen Finanzierung gibt und gegeben hat oder gegeben haben soll. Insofern hoffe ich da auf mehr Klarheit in den nächsten Monaten.

    DLF: Herr Rau, würde es nicht Ihrem Naturell sehr entsprechen, jenseits dieser Kommission – die sicherlich richtig ist – so etwas wie ein integrierendes Moment zu stabilisieren oder zu installieren, also etwas wie einen 'runden Tisch' beim Bundespräsidenten, der die Parteivorsitzenden mal zu sich bittet und hier einfach auch mal hinter verschlossenen Türen Tacheles redet?

    Rau: Ich rede mit den Parteivorsitzenden hinter verschlossenen Türen, aber ich tue das gegenwärtig einzeln. Und mir scheint das auch richtig zu sein, denn ich kann ja nicht eine Art Bundestagspräsidium oder Hauptausschuss ersetzen . . .

    DLF: . . . ich denke mehr an die moralische Instanz . . .

    Rau: . . . ja, aber die moralische Instanz hat aber immer nur zu tun mit geschlossenen Türen und mit vertraulichem Gespräch. Und ich hoffe, dass ich es da an nichts fehlen lasse. Nur gehört es zum Wesen der vertraulichen Gespräche, dass man über sie nicht öffentlich berichtet.

    DLF: Wenn wir über die Probleme der Zeit des auslaufenden Jahrhunderts sprechen in Deutschland – im vereinigten Deutschland –, so ist natürlich unübersehbar, dass es neben der persönlichen Not, die in vielen Familien ja besteht, so etwas wie eine institutionelle Not gibt, nämlich der öffentlichen Kassen. Trägt unsere augenblickliche Länderverfassung eigentlich noch dem Rechnung, was wir im Augenblick an Mitteltransfers, die gesetzlich sind, die auch viel mit Europa zu tun haben, zu erledigen haben? Haben wir nicht irgendwann einen Punkt erreicht, wo auch Bundesländer sagen müssen: 'Wir sind pleite' oder 'wir müssen diesen Bundesstaat neu ordnen'?

    Rau: Ich bin überzeugt davon, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die gegenwärtige Finanzverfassung bis zum Jahre 2004 bestätigt, eine große Chance ist zur Neuordnung. Wir brauchen eine große Finanzreform, die die Ausgaben und Einnahmen zu den Aufgaben bringt. Es muss deutlich sein: Was belastet den Bund, was belastet Europa, was belastet Länder und Gemeinden. Und da ist eine Grauzone entstanden, die muss dringend bereinigt werden. Das ist sehr schwierig, aber ich halte es für zu schaffen. Und ich hoffe, dass die Verfassungsorgane in Bund und Ländern jetzt nicht zögern und nicht sagen: 'Wir haben ja Zeit bis zum Jahre 2002 mit einem Maßstäbegesetz oder bis zum Jahre 2004', sondern dass sie das jetzt anpacken und dass jetzt ein Gespräch darüber beginnt, wie die europäische und die deutsche Finanzverfassung auf Dauer aussehen soll. Da ist dringender Handlungsbedarf.

    DLF: Die Rolle Deutschlands in diesem Europa, das wir eben angesprochen haben, hat sich – so kann man den Eindruck haben – zumindest nicht gerade verbessert. Man hat bisweilen sogar den Eindruck, Deutschland – das geteilte Deutschland, also Westdeutschland – war als EU-Partner gewichtiger, als es jetzt im gesamteuropäischen Kontext ist. Das hat vielleicht auch viel damit zu tun, dass wir im Augenblick nicht mehr 'der' Wirtschaftsriese sind, der wir mal waren oder als zumindest so dastehen. Was müsste geschehen, damit die Rolle Deutschlands in der EU nicht gerade die dominierende ist, aber wieder eine bestimmendere wird, denn etwa auch die Divergenzen mit Frankreich haben ja nicht gerade zu einer Stärkung im Inneren beigetragen?

    Rau: Wir sind mit Frankreich auf einem guten Weg, und die deutsch-französische Zusammenarbeit ist konstituierend für Europa. Natürlich gibt es statische Probleme, wenn Europa sich verändert, wenn es sich erweitert – und es wird sich erweitern in der vor uns liegenden Zeit. In den östlichen Nachbarländern gibt es kein anderes Thema als die Aufnahme in die Europäische Union. Und das wird auch noch einmal Auswirkungen haben auf die Situation in Deutschland; das kann auch noch zu einer innenpolitischen Diskussion führen . . .

    DLF: . . . durch größere Lasten . . .

    Rau: . . . durch größere Lasten und durch geringere Anteile, denken Sie nur an den Landwirtschaftsteil, der ja über 50 Prozent des europäischen Haushaltes ausmacht. Ich möchte nicht, dass Deutschland die Nummer 1 in Europa wird. Wir haben nie die Führungsrolle beansprucht, sondern es gibt vier Große in Europa, und es gibt elf Kleinere, die werden sich verstärken in den nächsten Jahren. Ich bitte die vier sehr, dass sie die Kleinen nicht beiseite schieben, sondern sie mit hinein nehmen in die Integrationsprozesse. Und dabei kann Deutschland zum Beispiel durch sein föderales System das eine oder andere anbieten, wonach andere Partner Ausschau halten. Das gilt für Spanien, das gilt für England, für Frankreich, für Italien. Wie weit das dann greift, wie stark man darauf achtet, dass aus dem Föderalismus nicht Separatismus wird, das ist eine Sorge, die viele Staatsoberhäupter und Regierungen beschäftigt. Ich glaube, dass Deutschland keine Sorge zu haben braucht um seine rolle in Europa. Wenn wir darauf verzichten, die Nummer 1 zu sein, dann gehören wir zu den prägenden Kräften.

    DLF: Wir erleben gerade, Herr Bundespräsident, dass der EURO einen historischen Tiefstand hat, dass vielleicht die Skeptiker recht behalten könnten, die immer gesagt haben, das sei eine künstliche Währung, die den wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht Rechnung trägt und könnte auch kontraproduktiv für die innere Integration werden. Vor diesem Hintergrund: Ist da nicht auch die von Ihnen angesprochene und auch angestrebte Osterweiterung eher eine Gefährdung als eine – ich will mal sagen – Öffnung und Erweiterung im positiven Sinne für die Europäische Gemeinschaft?

    Rau: Ich glaube das deshalb nicht, weil ja mit der Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft nicht automatisch verbunden ist die Übernahme des EURO, von dem ich hoffe, dass er seine Schwäche überwindet und dass er eine der stabilen Leitwährungen auf der Welt sein wird. Jedem musste klar sein: Ein neuer EURO kann nicht binnen weniger Monate die Bedeutung des Yen oder des Dollar bekommen, sondern da gibt es natürlich Anpassungsprobleme über die konjunkturellen Schwierigkeiten hinaus, die wir in einigen Teilen Europas haben. Ich sehe Europa insgesamt auf einem guten Weg, auch bei der Formulierung einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Nach meiner Meinung wird sich das auf Dauer auswirken. Und wenn wir stärker mit einer Stimme sprechen in Europa, dann sind uns auch Variationen im Text eher möglich, dann kann es die Akzentuierung des französischen, des britischen, des deutschen geben. Und ein Europa der Vielfalt wird eine große Anziehungskraft auch auf die anderen Kontinente haben. Dessen bin ich sicher.

    DLF: Vielleicht noch ein Wort zur Rolle Deutschlands in der Weltpolitik. Im Augenblick sehen wir, dass Deutschland zumindest in die Kritik geraten ist - aufgrund der unseligen Diskussion über die Entschädigung von Zwangsarbeitern; da ist noch immer nicht das letzte Wort gesprochen - aber auch der vielleicht doch etwas unbekümmerte schnelle Einsatz im Kosovo, auch durch Bruch von UNO-Gesetzgebung. Hat hier Deutschland sich vielleicht ein wenig übernommen und muss jetzt eine Rechnung begleichen, die man so eigentlich nicht erwartet hat?

    Rau: Also ich habe im Kosovokonflikt dem Eingreifen zugestimmt und habe gesagt: Ich tue das mit zerrissenem Herzen, weil Menschenrecht und Völkerrecht gegeneinander zu stehen schienen, und weil man nach meiner Meinung nicht mehr mit ansehen durfte, was da geschah. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt das, was im früheren Jugoslawien geschieht, nicht einfach geschehen lassen, sondern dass wir mitwirken, dass wir mithelfen. Ich glaube nicht, dass wir uns übernommen haben und dass wir überfordert sind, aber ich wundere mich darüber, dass Teile der deutschen Wirtschaft nicht erkennen in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung, dass es höchste Zeit ist und dass es im deutschen Interesse liegt, dies Thema abzuschließen und dass deutlich wird: Das hat eine moralische Dimension, die nicht aufgehoben wird dadurch, dass man gegenrechnet, was es denn noch für Fremdarbeiter gegeben hat. Die Frage ist, ob uns das gelingt, und ich kann nur hoffen, dass viele so vernünftig sind wie die 15 oder 30 Unternehmen und wie VW, die freiwillig da etwas tun - denn das dient dem deutschen Interesse, und das macht nichts ungeschehen, was geschehen ist, aber es gibt uns neue und zusätzliche Möglichkeiten friedlicher Zusammenarbeit. Und die brauchen wir, auf die sind wir angewiesen als ein Volk ohne Rohstoffe.

    DLF: Begriff 'Thema abschließen': Wäre es da nicht dann auch sinnvoll, innenpolitisch auch zur sozialen Beruhigung dazu beizutragen, dass gewisse Urteile gegen alte DDR-Größen nicht immer wieder wie 'Siegerjustiz' sich ausnehmen, oder dass ein Mann wie Gorbatschow sagen muss, er könne nicht verstehen, dass jetzt in diesen Verfahren Krenz und andere Leute noch hinter Gitter müssen, die mit das Tor aufgemacht haben?

    Rau: Es ist schwer, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, weil ja der Bundespräsident in diesem Falle gar nicht der Gnadenherr wäre. Das wäre das Land Berlin, soweit es nicht eine gesetzliche Bestimmung gibt. Wir müssen nur andererseits darauf achten, dass wir nicht Mauerschützen verurteilen dürfen und die, die die Befehle gegeben oder mitgetragen haben, kommen davon. Deshalb glaube ich, von 'Siegerjustiz' ist hier keine Rede. Aber dass wir in der vor uns liegenden Zeit uns Gedanken darüber machen müssen, und dass auch das Jahrtausend – dieser mich gar nicht bewegende Wechsel des Jahrtausends – Anlass gibt, nachzudenken über Schuld und Sühne, über die Frage, wie wir miteinander leben und wie wir Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammenbringen, das spüre ich in allen gesellschaftlichen Gruppen und allen Parteien. Und ich nehme an, das wird dann eine bewegende und bewegte Diskussion, die sich nicht festmacht an den Namen Krenz und Schabowski, sondern die Häber einschließt und viele, viele Themen aufgreifen wird, bei denen wir Deutsche mit unserer Geschichte ins Reine kommen müssen.

    DLF: Mit welchem Gefühl, Herr Rau, gehen Sie persönlich aber auch als Amts-träger in das neue Jahrhundert?

    Rau: Zuversichtlich, nicht fasziniert von der großen neuen Zahl, sondern in diesem Gefühl, dass Geschichte uns gelungen ist in den Jahren, die hinter uns liegen – in der Hoffnung, dass Friede keine Metapher bleibt, sondern Wirklichkeit wird, auch für die Menschen, die in Jugoslawien in einem Konflikt stehen, der längst nicht bewältigt ist, und in der Hoffnung, dass wir eine junge Generation finden, die nicht mehr die Schultern zuckt, wenn von gesellschaftlicher Verantwortung die Rede ist, sondern die zupackt und mitmacht, damit wir Älteren eines Tages die Aufgaben an diese junge Generation abgeben können.

    DLF: Welches wird Ihre persönliche vordringlichste Aufgabe sein?

    Rau: Wachsam zu bleiben, nachdenklich zu sein und das Wort zu sagen, das nach meiner Überzeugung gesagt werden muss zu den jeweiligen Anlässen, die es gibt. Und diese Anlässe die beschafft man sich nicht, die kommen. Und da bin ich völlig furchtlos, dass es genug Anlässe geben wird, um ein freimütiges Wort zu sagen und andere zum Mitdenken anzuregen.

    DLF: Herr Bundespräsident, danke für das Gespräch.