Rau: Nein, wir sind ein starkes Land, und wir sind allerdings ein Land, in dem man sich sehr stark und stärker als die Nachbarn mit sich selber beschäftigt. Das haben wir im vergangenen Jahr ausgiebig getan, auch weil Bundestagswahl war. Nach meinem Eindruck haben wir dabei ein paar andere Sichtweisen aus dem Blick verloren, zum Beispiel die Sichtweise auf die Tausende von Menschen, die bei der Flutkatastrophe geholfen haben, ohne dazu dienstverpflichtet zu sein. Ich habe noch nie eine solche Welle der Hilfsbereitschaft, sowohl der Spenden als auch der Arbeit, erlebt, wie in den Wochen der Flut. Und die war nicht begrenzt auf die Menschen aus den neuen Ländern und die war nicht begrenzt auf die ältere Generation, sondern gerade Jüngere haben sich engagiert. Und das, was mich bekümmert, ist, dass es uns offenbar nicht gelingt, dieses Gefühl der Solidarität in die übrigen Lebensbereiche zu übertragen. Da haben wir es zu tun mit einer gespaltenen Wirklichkeit. Wir haben immer noch hohe Arbeitslosenzahlen - manche rechnen mit noch größeren Zahlen. Wir haben einen gespaltenen Markt – mir sagen also Unternehmer, nie hatten sie so viele Buchungen wie in diesem Jahr und für das kommende Jahr. Die Samstage im Einzelhandel im Dezember waren besser als in den Vorjahren, aber die Klagen sind lauter als in den Jahren zuvor. Und vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass der Wahlkampf am Wahltag nicht geendet hat. Ich wünschte mir, er würde enden.
Burchardt: Sind wir ein Volk der Nörgler?
Rau: Ich hoffe nein. Insgesamt bekomme ich so viel Aufmunterung zu hören und so viele positive Rückmeldungen auf Reden oder auf Briefe, dass ich nicht sagen kann, wir sind ein Volk der Nörgler. Aber es gibt schon Menschen, die dazu neigen, an allem herumzukritteln, und dabei vergessen sie dann die Dimensionen. Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen: Ich habe in einem Gespräch vor Wochen gesagt, wir dürfen nicht ein Volk der Migränegesellschaft werden. Darauf hin kriege ich Briefe, ich hätte Migränekranke verletzt. Ich wollte doch ganz was anderes sagen, ich hätte auch sagen können, das Sodbrennen darf nicht so aktiv werden. Jedes Bild führt dazu, dass manche es übelnehmen. Das hat schon Kurt Tucholsky reklamiert, aber wir haben es ihm nicht geglaubt.
Burchardt: Auf der anderen Seite wäre es ja vielleicht an der Zeit, noch ein Wort vielleicht von Ihnen auch zur Verstärkung, das Sie hier kürzlich in Berlin gesprochen haben, nämlich anlässlich des 50jährigen Bestehens der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie haben da so etwas wie einen solidarischen Sozialpakt gefordert. Sollte man dieses nicht, im Sinne auch Ihres Vorgängers Roman Herzog, der ja mal diese so genannte 'Ruck-Rede' gehalten hat, vielleicht etwas verstärkt bekräftigen?
Rau: Ich versuche, das immer wieder zu sagen, dass Solidarität das ist, was Hanna Ahrend einmal so formuliert hat, dass sie gesagt hat: 'Politik ist angewandte Liebe zur Welt und zum Nächsten'. Und das scheint mir eine richtige Beschreibung zu sein. Ich habe in der Rede, die Sie gerade erwähnen, auch gesagt angesichts der schwarzen Schafe in der Politik – manchmal hätte ich den Eindruck, dass die sich innerhalb der Parteien abgesprochen haben, wer denn als nächster ein kleines Skandälchen herstellt, damit wir immer nur noch über Skandale reden. Dazu kommt dann der Häppchenjournalismus, und der verdunkelt, dass es Zig-Tausende von Menschen gibt, die im Ehrenamt und ohne Vergünstigung und Bezahlung tätig sind – in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, dass wir ein Volk sind, das auf dem Weg zum Ehrenamt eine ganze Strecke vorangekommen ist. Man könnte inzwischen sagen, dass 24 Millionen Deutsche von 82 Millionen jede Woche im Ehrenamt tätig sind.
Burchardt: Aber kann sich nicht gerade jener ein Ehrenamt leisten, der in Lohn und Brot ist, der möglicherweise auch ein gutsituierter Rentner ist? Wäre dieses nicht, wenn man das fortdenkt und fortentwickelt, und so kann man das, was Sie gesagt haben, ja auch verstehen, wäre hier nicht eine Möglichkeit, die Arbeitslosen in die Sozialbereiche hineinzubekommen, wie auch immer dieses politisch jetzt zu instrumentalisieren ist?
Rau: Es gibt inzwischen solche Versuche, die sind gut gelungen. Man muss natürlich aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht: Wer keine Arbeit hat, soll ehrenamtlich tätig sein, denn . . .
Burchardt: . . . ich meine schon gegen Bezahlung . . .
Rau: . . . ja eben, es muss eine Bezahlung geben, und da ist vielleicht unsere Gesetzgebung nicht flexibel genug.
Burchardt: Das Stichwort 'Arbeitslosigkeit', das Sie eben genannt haben, Herr Bundespräsident, treibt uns ja alle um, man kann schon fast sagen seit Jahrzehnten. Es gab vor nunmehr fast 30 Jahren eine ähnliche Situation, als die Ölpreiskrise war, es gab auch die Situation, dass die Amerikaner von den Deutschen verlangten, Israel zu helfen. Die damalige Regierung Brandt hat gesagt: 'Kommt nicht in Frage, wir bleiben neutral, strikt neutral'. Ist heute diese Regierung nach Ihrer Meinung der Aufgabe gewachsen, auch in der Internationalen Politik deutsches Selbstbewusstsein darzustellen?
Rau: Nach meiner Überzeugung ja, denn wir brauchen selbstbewusste Bescheidenheit oder bescheidenes Selbstbewusstsein. Wir sind nicht die Nummer 1, wir wollen auch nicht die Nummer 1 sein, auch in Europa nicht. Denn wenn Europa eine Nummer 1 hätte, wären alle anderen deklassiert, und Europa lebt davon, dass niemand beansprucht, die Nummer 1 zu sein. Trotzdem hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Das wird in den nächsten Wochen deutlich, wenn wir die 40 Jahre Elysée-Vertrag in Paris und in Berlin feiern. Die deutsch-französische Freundschaft ist ein Fundament der europäischen Einigung, der deutsch-polnische Vertrag von 1970 kommt dazu. Das heißt, wir als Deutsche sind auf dem Weg, den schon Adenauer beschrieben hat, dass Freundschaft mit Frankreich und Polen uns eine auch sicherheitspolitische Situation gibt, wie wir sie so nie gehabt haben. Für die sollten wir dankbar sein, denn wenn ich mich erinnere an meine Jugend: Da hatten wir lauter Gegner. Jetzt sind wir von lauter Freunden umzingelt, das ist ein schönes Gefühl.
Burchardt: Vor gut 14 Tagen, Herr Bundespräsident, wurde in Kopenhagen die Erweiterung beschlossen, die ja nicht nur eine Ost-, sondern auch eine partielle Süderweiterung ist. Wie stark ist, auch gerade vor dem Hintergrund der Unterzeichner des Elysée-Vertrages von 1963, wo ja Deutschland und Frankreich die Führungsrolle in dem kleinen, im Kerneuropa, angenommen haben – wie groß ist eigentlich nach Ihrer Meinung die Gefahr, dass durch die Erweiterung die EU selbst handlungsunfähig wird?
Rau: Ich hoffe, dass nicht nur die zehn Länder beitrittsfähig sind, sondern dass auch die EU aufnahmefähig ist, denn das sind beides Voraussetzungen, die wir brauchen. Es gibt ein wenig die Sorge in den westlichen Ländern, dass die Deutschen jetzt zu stark nach Osten blicken. Deshalb bin ich im Herbst in Spanien gewesen, deshalb fahre ich im Frühjahr nach Portugal, um diesem Eindruck zu widerstehen. Ich glaube, insgesamt können wir das schaffen mit den 25, und wir werden als Deutsche davon stark profitieren. Aber immer vor dem Datum selber und vor den Referenten gibt es eine Phase der Skepsis und der Unsicherheit bei denen, die hinzukommen und bei denen, die aufnehmen. Das spüren Sie in Brandenburg und in Polen ganz deutlich.
Burchardt: Sehen Sie nicht doch die Gefahr, dass möglicherweise zu hohe wirtschaftliche und soziale Erwartungen, gerade in Polen, Tschechien und in den anderen Ländern, den baltischen Ländern, an die EU-Erweiterung gestellt werden, die die EU per se gar nicht erfüllen kann, zumindest nicht in den nächsten zehn Jahren, so dass da eine Enttäuschung entstehen kann, die sogar kontraproduktiv wirken könnte?
Rau: Nach meinem Eindruck ist diese Sorge nicht mehr begründet – nach den Gesprächen der letzten Jahre, die ja sehr intensiv gewesen sind, die ich zum Teil auch geführt habe mit den Staatsoberhäuptern der baltischen Staaten, Tschechiens und Polens und den übrigen. Man darf viel von der EU erwarten, aber wer zuviel erwartet, wird enttäuscht.
Burchardt: Zurück vielleicht nochmal zum Kerneuropa, wenn man das so sagen darf, oder zur Achse Bonn – Paris, die 'Achse des Guten' vielleicht: Die war ein wenig gestört in den letzten Jahren. Gerade in diesem Jahr wurde auch sehr deutlich, dass es doch einige Verwerfungen gibt. Glauben Sie, dass durch neue Konsultationen das leicht ramponierte deutsch-französische Verhältnis wieder aufgebessert werden kann?
Rau: Ich bin immer froh darüber, dass es nicht nur die Regierungen und die Staatsoberhäupter sind, die sich treffen, sondern die Schulklassen und die Sportvereine und die Städte, dass wir inzwischen ein Netzwerk an Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen haben, das nach meiner Überzeugung nicht beschädigt ist und auch durch die Verwerfungen der letzten Monate nicht geschädigt werden konnte. Nach meinem Gefühl sind wir da inzwischen auf einem guten Weg. Wir müssen nur eben bedenken: In beiden Ländern waren Wahlen und in beiden Ländern haben die Wahlen zu mancherlei – ich will nicht sagen Verhärtungen, aber doch zu besonderen Situationen geführt. Denken Sie mal daran, dass Jospin nicht mehr auf der Bühne ist, dass ein neuer Ministerpräsident unter dem alten Präsidenten in Frankreich tätig ist, dass also die Kohabitation so nicht mehr stattzufinden braucht. Das erleichtert manches, obwohl ich damit nicht sage, ich bin froh darüber, dass es jetzt so ist, denn das ist gar nicht meine Sache, das ist Sache der Franzosen selber.
Burchardt: Glauben Sie denn, dass im nächsten Jahr das deutsch-französische Verhältnis wieder einigermaßen auf dem Level ankommen wird, auf dem es jahrelang gewesen ist?
Rau: Ich glaube dass ja, dafür gibt es gute Anzeichen.
Burchardt: Wenn man noch einmal den wirtschaftlichen Aspekt in Europa sieht, so ist festzustellen: Das erste Jahr mit dem Euro ist zu Ende gegangen, ein Jahr – in den letzten Tagen hieß es –, das einen starken Euro produziert hat; man kann ja nie so ganz sicher sein. Wie beurteilen Sie rückwirkend die Einführung des Euros und die Ausführung auch dieser neuen Währung?
Rau: Ich glaube, dass junge Menschen sich da leichter tun, als jemand, der schon in meinem Alter ist. Denn ich gestehe, dass ich immer noch umrechne und dass ich gelegentlich den Eindruck habe, meine Kinder rechnen zu wenig um. Das führt aber nicht zum Familienkrach. Ich glaube insgesamt, dass der Euro gut ist, stabil ist. Und wenn Sie die Meinungsumfrage in Erinnerung haben: Vor 14 Tagen hieß es, die Mehrheit der Bürger ist davon überzeugt, dass der Euro gut ist für die Wirtschaft. Von da aus ist ein relativ kurzer Weg bis zu der Erkenntnis: Er ist auch gut für mich.
Burchardt: Das war nämlich umgekehrt.
Rau: Das war nämlich umgekehrt, und das hat sich doch verändert. Darüber bin ich froh.
Burchardt: Glauben Sie, dass der Euro auch so schnell auf die Erweiterungsländer übertragen werden kann, dass es keine wirtschaftlichen und finanziellen Verwerfungen gibt?
Rau: Wenn er zu schnell übertragen wird, dann wird es Verwerfungen geben. Deshalb muss man das sehr genau ansehen. Da bin ich froh darüber, dass wir mit der Europäischen Zentralbank ein Institut haben, das souverän und unabhängig von jeder Regierung seine Entscheidungen treffen kann.
Burchardt: Herr Präsident, von Europa einen Blick über den Atlantik. Ebenso transatlantische Störungen, wie es im Wetterbericht immer so schön heißt, bestehen insbesondere zwischen Deutschland und den USA. Auch hier gibt es noch einiges zu reparieren. Man hat manchmal den Eindruck, dass in Washington eine gezielte Empfindlichkeit produziert worden ist. Ist dieser Eindruck richtig aus deutscher Sicht?
Rau: Für einige mag das gelten, aber es gilt, glaube ich, nicht für die Fülle unserer Gesprächspartner. Ich habe in den letzten Wochen so viele Gespräche mit Verantwortlichen in Amerika geführt, die ganz deutlich machen, wie eng wir miteinander verbunden sind, die daran erinnern, dass wir in Berlin den Amerikanern die Freiheit dieser Stadt verdanken, dass nach meiner Überzeugung die deutsch-transatlantischen Beziehungen, die europäisch-transatlantischen Beziehungen gut sind, auch wenn es gegenwärtig zwischen dem Präsidenten und dem Bundeskanzler in einer Sachfrage keine Übereinstimmung gibt . . .
Burchardt: . . . dem amerikanischen . . .
Rau: . . . den amerikanischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler. Das ist nicht neu. Das ist gravierender, als es vor Jahren war, weil es um eine konkrete Frage, nämlich um den Krieg gegen den Irak geht. Aber denken Sie mal daran, wie Helmut Schmidt und Jimmy Carter miteinander umgegangen oder einander ausgewichen . . .
Burchardt: . . . aber das hatte damals nicht diese diplomatischen Verwerfungen.
Rau: Nein, das hatte es eben deshalb nicht, aber ich glaube, aus diesem Grunde, weil es das damals gegeben hat, dass wir bald wieder in 'good-speeking-germs' sein werden.
Burchardt: Könnten Sie sich vorstellen, kraft Ihres Amtes eine Art diplomatischer Vermittlungsrolle zu übernehmen?
Rau: Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich war ein paarmal in Amerika, seit ich im Amt bin. Ich empfange regelmäßig Gesprächspartner aus Amerika und korrespondiere mit dem einen oder anderen. Da braucht es keine symbolische Handlung, da bedarf es keiner Gesten, sondern die Menschen wissen schon, dass wir Amerika als die eigentliche Weltmacht nicht nur respektieren, sondern dass wir auch die Tradition Amerikas mit Menschenrechten und Unabhängigkeitserklärung ernst nehmen und dass wir in Amerika eine Demokratie sehen, die uns die Demokratie auch gebracht hat.
Burchardt: Dennoch ist aktuell nicht zu übersehen, dass George Bush einen Krieg will gegen den Irak, dass eine Menge Verbündete damit Probleme haben – nicht nur die Deutschen, auch die Kanadier als Beispiel. Als wir hier vor einem Jahr zusammensaßen nach dem 11. September, haben Sie vor zu martialischen und kriegerischen Auseinandersetzungen gewarnt. Würden Sie diese Warnung auch heute noch erneuern und es genauso beurteilen?
Rau: Die Situation ist deshalb anders, weil inzwischen ja die Vereinten Nationen gesprochen haben und weil die Vereinten Nationen eine klare Forderung an den Irak gestellt haben. Und bisher ist nicht klar, ob diese Forderungen völlig erfüllt werden und erfüllt worden sind. Da ist sicher noch Verhandlungsspielraum, aber ich würde nach wie vor sagen, dass die zivilen Antworten bei einem Angriff auf die Zivilisation, wie es der 11. September ist, die entscheidenden sind. Ich sage damit nicht, dass es nicht verantwortlich sein könnte, auch zu militärischen Mitteln zu greifen, wie wir das an anderen Stellen der Welt ja auch getan haben. Aber ich sehe diese Notwendigkeit gegenwärtig gegenüber dem Irak nicht.
Burchardt: Der Bundeskanzler hat gesagt, bei aller uneingeschränkten Solidarität würde sich seine Regierung nicht auf ein Abenteuer einlassen. Vor diesem Hintergrund: Ist Irak nach wie vor ein Abenteuer?
Rau: Das hat er nicht in dem Zusammenhang gesagt, sondern er hat im Zusammenhang mit der uneingeschränkten Solidarität gesagt: Wir sind zum Risiko bereit, aber nicht zum Abenteuer. Und ich habe diesen Satz damals als sehr hilfreich empfunden, weil es ja doch viele Ängste auch in Deutschland gab. Ich will ihn aber darüber hinaus jetzt nicht kommentieren, weil ich ja nicht für die Regierung zuständig bin sondern für alle. Und ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es politische Kräfte gibt, die das anders sehen als der Bundeskanzler - freilich, wenn ich es richtig sehe, alle unter der Voraussetzung, dass die UNO entscheidet. Ich sehe aber gegenwärtig nicht, dass eine solche Entscheidung ins Haus steht und würde mich an der Diskussion darüber deshalb auch jetzt nicht beteiligen.
Burchardt: Die Irakproblematik war eine zentrale Frage im letzten Wahlkampf – neben der Flut. Viele sagen, der Bundeskanzler habe mit falschen Versprechungen diese Wahl gewonnen. Man hat das Gefühl, dass gerade jetzt hier in Berlin doch eine gewisse Hysterie ausgebrochen ist. Es wird ein 'Lügen-Ausschuss' gebildet im Parlament. Sind das nicht übertreibende Entwicklungen in der politischen Tagesaktualität?
Rau: Vieles halte ich da nicht für hilfreich, ganz unabhängig, von welcher Seite es kommt. Mich hat getröstet, dass ich vor einiger Zeit einen Fernsehfilm sah, in dem im Jahre 1980 der Bundesregierung der Vorwurf gemacht wurde, sie habe die Wahl nur durch Lügen gewonnen. Damals hieß das 'Rentenlüge'. Also, das kommt offenbar in Intervallen immer wieder. Nach meiner Überzeugung sind Untersuchungsausschüsse nicht zuerst Elemente der Wahrheitsfindung, sondern politische Kampfinstrumente. Die sind legal, die sind in der Verfassung vorgesehen, die darf man nicht behindern. Aber zu glauben, da würden die Entscheidungen getroffen, das halte ich für eine falsche Wahrnehmung.
Burchardt: Man hat augenblicklich ein wenig das Gefühl, dass hier in Berlin oder von Berlin ausgehend fast schon zentralistische Lobbypolitik betrieben wird, dass vielleicht sogar die Gefahr darin besteht, dass wir eine 'Lobbykratie' haben demnächst. Der Bundeskanzler hat ja, was immer er vorgeschlagen hat, es sofort mit einer Interessengruppierung zu tun gehabt. Gibt es hier eine Fehleinschätzung der Regierenden, vielleicht auch der Opposition – bezogen auf die Akzeptanz von Opfern, die im Augenblick – von denen Sie ja auch gesprochen haben – zu geben sind?
Rau: Nach meinem Eindruck brauchen wir in den nächsten Jahren eine ausführliche Föderalismusdiskussion zum Erhalt des Föderalismus, denn ich halte das föderalistische System für vorzugswürdig, für demokratiefreundlich. Ich glaube, das es der Überschaubarkeit, und damit der Kontrollierbarkeit politischer Entscheidungen dient. Es muss allerdings wieder Aufgabe zur Ausgabe, und deshalb sage ich: Der Staat insgesamt muss darauf achten, dass der Föderalismus ein Schichtkuchen ist und kein Marmorkuchen. Das heißt, es müssen Konturen wieder sichtbar werden. Und da ist in den letzten Jahren doch manches in Richtung Marmorkuchen gegangen.
Burchardt: Ja, aber gerade in diese Richtung kann man ja – wenn wir bei dem Bild bleiben – den Marmorkuchen teilweise sogar als betoniert ansehen. Entscheidungen sind nicht machbar gegen den Bundesrat. Die jeweilige Opposition behauptet immer, sie würde über den Bundesrat mitregieren – man kann das auch blockieren nennen. Das heißt, politische Entscheidungsprozesse sind so kompliziert, dass manchmal überhaupt nichts geschieht. Gibt es hier ein Mittel und Möglichkeit, vielleicht dann doch diese Partikularinteressen, mit denen wir es ja auch sehr oft zu tun haben, die auch mit Wahlkämpfen zu tun haben, diese Partikularinteressen ein wenig abzubauen?
Rau: Eigentlich nur durch den Appell an die Einsicht, es gibt keine technischen Möglichkeiten, keine gesetzgeberischen Möglichkeiten. Aber wenn ich mir die Reden der Bundesratspräsidenten anhöre, und zwei davon habe ich selber gehalten, dann warnen sie alle davor, den Bundesrat zum parteipolitischen Instrument zu machen. Und wir sollten diese Warnungen vielleicht gelegentlich denen vorlesen, die hernach die Hand heben.
Burchardt: Genau, aber Fakt ist ja, dass das nicht geschieht. Und vor diesem Hintergrund muss man sich ja schon fragen – auch vor dem Hintergrund einer europäischen Einigung, Einheit, Erweiterung: Ist das für eine Demokratie auf Dauer auf nationaler Ebene überhaupt noch machbar und akzeptabel, in Kleinstaaterei zu machen und so viel Entscheidungsfindungsprozesse auf kommunale oder andere Gebietskörperchaftsebenen zu transferieren?
Rau: Ich stelle fest, dass in vielen europäischen Ländern der Weg zur Regionalisierung weitergegangen wird als früher, und dass man von Zentralismus wegkommt. Es kommt nur darauf an, dass klare Verhältnisse sein müssen, dass also Kompetenzen und Zuordnungen den Menschen bewusst sein müssen, damit sie wissen: Bei der Landtagswahl entscheide ich nicht über den Bundeskanzler und bei der Oberbürgermeisterwahl entscheide ich nicht über den Ministerpräsidenten. Wenn da wieder etwas mehr Klarheit entstünde, dann würde auch eine Europawahl, wie wir sie in eineinhalb Jahren vor uns haben, nicht allein ein Stimmungsbarometer für die Bundespolitik, sondern eine Delegation von Interessen und Aufgaben nach Europa.
Burchardt: Vor diesem Hintergrund – Sie selbst waren ja lange Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen: Es gibt die EUREGIO, es gibt ja Dreiländerecks – nicht nur dort, sondern auch woanders. Wäre das nicht ein Zukunftsmodell auch zu einer, ich sage mal, latenten Überwindung blockierender Nationalstaaten?
Rau: Aber ganz gewiss, und es gibt ja Überlegungen in diese Richtung, die gefördert werden durch die wirtschaftliche Verflechtung, die ja zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden sehr viel größer ist als mit manchem deutschen Nachbarland. Und ich habe solche Entwicklungen immer zu unterstützen versucht und will das auch in Zukunft tun, wenn das auch in Richtung auf den Osten geschieht.
Burchardt: Nochmal zurück zum Föderalismus. Zum Föderalismus gehört ja auch immer der Begriff der Konsenspolitik, die ja auch von deutschen Politikern, von deutschen Regierungen eigentlich in den letzten Jahren betrieben worden ist. Ist angesichts der augenblicklichen Wirtschaftskrise eine Konsenspolitik noch gerechtfertigt? Müssen hier nicht tatsächlich klare gesellschaftliche Alternativen aufgezeigt und dann eben auch verwirklicht werden?
Rau: Es muss der Konflikt beschrieben werden, er darf nicht verkleistert werden. Aber das Ziel des Konsenses darf man nach meiner Überzeugung auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht aus dem Blick verlieren.
Burchardt: Auf der anderen Seite stellt man aber immer wieder fest, dass hier sozusagen anstatt Konsens oftmals ein fauler Kompromiss herauskommt.
Rau: Es gibt faule Kompromisse, so wie es faule Kompromisslosigkeit gibt. Und ich bin gegen alles Faule.
Burchardt: Sie haben selber 'versöhnen statt spalten' gesagt. Versöhnen heißt, man hat sich vorher gestritten. Man streitet sich jetzt hier in Berlin wie die Kesselflicker zum Teil - das muss man schon sagen.- in den Parteien selber, aber auch zwischen Regierung und Opposition. Es gibt nicht wenige, die sagen: Wenn die Landtagswahlen am 2. Februar in Hessen und in Niedersachsen gewesen sind und möglicherweise auch ein Ergebnis bringen, das die Bundesregierung nicht gerade ermutigen kann, wäre es an der Zeit, eine große Koalition zu bilden. Was halten Sie von solchen Überlegungen?
Rau: Ich finde, das sind Spekulationen, die uns nicht weiterhelfen. Ich weiß auch niemanden, der eine große Koalition haben möchte. Das, was ich höre von der Oppositionsführerin und vom Kanzler, lässt mich nicht vermuten, dass am 3. Februar dieses Thema auf der Tagesordnung sein wird. Wir haben eine Bundestagswahl gehabt. Sie hatte ein klares Ergebnis, auch wenn es ein knappes Ergebnis war. Und deshalb meine ich, wir sollten jetzt die Aufträge, die erteilt worden sind – zum Regieren und zum Opponieren –, wahrnehmen und einfordern, denn das ist demokratischer Stil.
Burchardt: Herr Bundespräsident, zum Abschluss, wenn Sie mir gestatten, eine persönliche Beurteilung: Man hat das Gefühl, dass Ihnen, je länger Sie im Amt sind, dieses Amt immer mehr Spaß macht . . .
Rau: . . . es macht mir sehr viel Freude.
Burchardt: Würde das heißen, dass Sie auch noch sich vorstellen könnten, eine zweite Amtszeit anzutreten?
Rau: Das will ich erst dann mitteilen, wenn der Zeitpunkt dazu gekommen ist.
Burchardt: Sie würden es aber nicht ausschließen?
Rau: Auch das will ich erst dann mitteilen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.
Burchardt: Sind wir ein Volk der Nörgler?
Rau: Ich hoffe nein. Insgesamt bekomme ich so viel Aufmunterung zu hören und so viele positive Rückmeldungen auf Reden oder auf Briefe, dass ich nicht sagen kann, wir sind ein Volk der Nörgler. Aber es gibt schon Menschen, die dazu neigen, an allem herumzukritteln, und dabei vergessen sie dann die Dimensionen. Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen: Ich habe in einem Gespräch vor Wochen gesagt, wir dürfen nicht ein Volk der Migränegesellschaft werden. Darauf hin kriege ich Briefe, ich hätte Migränekranke verletzt. Ich wollte doch ganz was anderes sagen, ich hätte auch sagen können, das Sodbrennen darf nicht so aktiv werden. Jedes Bild führt dazu, dass manche es übelnehmen. Das hat schon Kurt Tucholsky reklamiert, aber wir haben es ihm nicht geglaubt.
Burchardt: Auf der anderen Seite wäre es ja vielleicht an der Zeit, noch ein Wort vielleicht von Ihnen auch zur Verstärkung, das Sie hier kürzlich in Berlin gesprochen haben, nämlich anlässlich des 50jährigen Bestehens der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie haben da so etwas wie einen solidarischen Sozialpakt gefordert. Sollte man dieses nicht, im Sinne auch Ihres Vorgängers Roman Herzog, der ja mal diese so genannte 'Ruck-Rede' gehalten hat, vielleicht etwas verstärkt bekräftigen?
Rau: Ich versuche, das immer wieder zu sagen, dass Solidarität das ist, was Hanna Ahrend einmal so formuliert hat, dass sie gesagt hat: 'Politik ist angewandte Liebe zur Welt und zum Nächsten'. Und das scheint mir eine richtige Beschreibung zu sein. Ich habe in der Rede, die Sie gerade erwähnen, auch gesagt angesichts der schwarzen Schafe in der Politik – manchmal hätte ich den Eindruck, dass die sich innerhalb der Parteien abgesprochen haben, wer denn als nächster ein kleines Skandälchen herstellt, damit wir immer nur noch über Skandale reden. Dazu kommt dann der Häppchenjournalismus, und der verdunkelt, dass es Zig-Tausende von Menschen gibt, die im Ehrenamt und ohne Vergünstigung und Bezahlung tätig sind – in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, dass wir ein Volk sind, das auf dem Weg zum Ehrenamt eine ganze Strecke vorangekommen ist. Man könnte inzwischen sagen, dass 24 Millionen Deutsche von 82 Millionen jede Woche im Ehrenamt tätig sind.
Burchardt: Aber kann sich nicht gerade jener ein Ehrenamt leisten, der in Lohn und Brot ist, der möglicherweise auch ein gutsituierter Rentner ist? Wäre dieses nicht, wenn man das fortdenkt und fortentwickelt, und so kann man das, was Sie gesagt haben, ja auch verstehen, wäre hier nicht eine Möglichkeit, die Arbeitslosen in die Sozialbereiche hineinzubekommen, wie auch immer dieses politisch jetzt zu instrumentalisieren ist?
Rau: Es gibt inzwischen solche Versuche, die sind gut gelungen. Man muss natürlich aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht: Wer keine Arbeit hat, soll ehrenamtlich tätig sein, denn . . .
Burchardt: . . . ich meine schon gegen Bezahlung . . .
Rau: . . . ja eben, es muss eine Bezahlung geben, und da ist vielleicht unsere Gesetzgebung nicht flexibel genug.
Burchardt: Das Stichwort 'Arbeitslosigkeit', das Sie eben genannt haben, Herr Bundespräsident, treibt uns ja alle um, man kann schon fast sagen seit Jahrzehnten. Es gab vor nunmehr fast 30 Jahren eine ähnliche Situation, als die Ölpreiskrise war, es gab auch die Situation, dass die Amerikaner von den Deutschen verlangten, Israel zu helfen. Die damalige Regierung Brandt hat gesagt: 'Kommt nicht in Frage, wir bleiben neutral, strikt neutral'. Ist heute diese Regierung nach Ihrer Meinung der Aufgabe gewachsen, auch in der Internationalen Politik deutsches Selbstbewusstsein darzustellen?
Rau: Nach meiner Überzeugung ja, denn wir brauchen selbstbewusste Bescheidenheit oder bescheidenes Selbstbewusstsein. Wir sind nicht die Nummer 1, wir wollen auch nicht die Nummer 1 sein, auch in Europa nicht. Denn wenn Europa eine Nummer 1 hätte, wären alle anderen deklassiert, und Europa lebt davon, dass niemand beansprucht, die Nummer 1 zu sein. Trotzdem hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Das wird in den nächsten Wochen deutlich, wenn wir die 40 Jahre Elysée-Vertrag in Paris und in Berlin feiern. Die deutsch-französische Freundschaft ist ein Fundament der europäischen Einigung, der deutsch-polnische Vertrag von 1970 kommt dazu. Das heißt, wir als Deutsche sind auf dem Weg, den schon Adenauer beschrieben hat, dass Freundschaft mit Frankreich und Polen uns eine auch sicherheitspolitische Situation gibt, wie wir sie so nie gehabt haben. Für die sollten wir dankbar sein, denn wenn ich mich erinnere an meine Jugend: Da hatten wir lauter Gegner. Jetzt sind wir von lauter Freunden umzingelt, das ist ein schönes Gefühl.
Burchardt: Vor gut 14 Tagen, Herr Bundespräsident, wurde in Kopenhagen die Erweiterung beschlossen, die ja nicht nur eine Ost-, sondern auch eine partielle Süderweiterung ist. Wie stark ist, auch gerade vor dem Hintergrund der Unterzeichner des Elysée-Vertrages von 1963, wo ja Deutschland und Frankreich die Führungsrolle in dem kleinen, im Kerneuropa, angenommen haben – wie groß ist eigentlich nach Ihrer Meinung die Gefahr, dass durch die Erweiterung die EU selbst handlungsunfähig wird?
Rau: Ich hoffe, dass nicht nur die zehn Länder beitrittsfähig sind, sondern dass auch die EU aufnahmefähig ist, denn das sind beides Voraussetzungen, die wir brauchen. Es gibt ein wenig die Sorge in den westlichen Ländern, dass die Deutschen jetzt zu stark nach Osten blicken. Deshalb bin ich im Herbst in Spanien gewesen, deshalb fahre ich im Frühjahr nach Portugal, um diesem Eindruck zu widerstehen. Ich glaube, insgesamt können wir das schaffen mit den 25, und wir werden als Deutsche davon stark profitieren. Aber immer vor dem Datum selber und vor den Referenten gibt es eine Phase der Skepsis und der Unsicherheit bei denen, die hinzukommen und bei denen, die aufnehmen. Das spüren Sie in Brandenburg und in Polen ganz deutlich.
Burchardt: Sehen Sie nicht doch die Gefahr, dass möglicherweise zu hohe wirtschaftliche und soziale Erwartungen, gerade in Polen, Tschechien und in den anderen Ländern, den baltischen Ländern, an die EU-Erweiterung gestellt werden, die die EU per se gar nicht erfüllen kann, zumindest nicht in den nächsten zehn Jahren, so dass da eine Enttäuschung entstehen kann, die sogar kontraproduktiv wirken könnte?
Rau: Nach meinem Eindruck ist diese Sorge nicht mehr begründet – nach den Gesprächen der letzten Jahre, die ja sehr intensiv gewesen sind, die ich zum Teil auch geführt habe mit den Staatsoberhäuptern der baltischen Staaten, Tschechiens und Polens und den übrigen. Man darf viel von der EU erwarten, aber wer zuviel erwartet, wird enttäuscht.
Burchardt: Zurück vielleicht nochmal zum Kerneuropa, wenn man das so sagen darf, oder zur Achse Bonn – Paris, die 'Achse des Guten' vielleicht: Die war ein wenig gestört in den letzten Jahren. Gerade in diesem Jahr wurde auch sehr deutlich, dass es doch einige Verwerfungen gibt. Glauben Sie, dass durch neue Konsultationen das leicht ramponierte deutsch-französische Verhältnis wieder aufgebessert werden kann?
Rau: Ich bin immer froh darüber, dass es nicht nur die Regierungen und die Staatsoberhäupter sind, die sich treffen, sondern die Schulklassen und die Sportvereine und die Städte, dass wir inzwischen ein Netzwerk an Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen haben, das nach meiner Überzeugung nicht beschädigt ist und auch durch die Verwerfungen der letzten Monate nicht geschädigt werden konnte. Nach meinem Gefühl sind wir da inzwischen auf einem guten Weg. Wir müssen nur eben bedenken: In beiden Ländern waren Wahlen und in beiden Ländern haben die Wahlen zu mancherlei – ich will nicht sagen Verhärtungen, aber doch zu besonderen Situationen geführt. Denken Sie mal daran, dass Jospin nicht mehr auf der Bühne ist, dass ein neuer Ministerpräsident unter dem alten Präsidenten in Frankreich tätig ist, dass also die Kohabitation so nicht mehr stattzufinden braucht. Das erleichtert manches, obwohl ich damit nicht sage, ich bin froh darüber, dass es jetzt so ist, denn das ist gar nicht meine Sache, das ist Sache der Franzosen selber.
Burchardt: Glauben Sie denn, dass im nächsten Jahr das deutsch-französische Verhältnis wieder einigermaßen auf dem Level ankommen wird, auf dem es jahrelang gewesen ist?
Rau: Ich glaube dass ja, dafür gibt es gute Anzeichen.
Burchardt: Wenn man noch einmal den wirtschaftlichen Aspekt in Europa sieht, so ist festzustellen: Das erste Jahr mit dem Euro ist zu Ende gegangen, ein Jahr – in den letzten Tagen hieß es –, das einen starken Euro produziert hat; man kann ja nie so ganz sicher sein. Wie beurteilen Sie rückwirkend die Einführung des Euros und die Ausführung auch dieser neuen Währung?
Rau: Ich glaube, dass junge Menschen sich da leichter tun, als jemand, der schon in meinem Alter ist. Denn ich gestehe, dass ich immer noch umrechne und dass ich gelegentlich den Eindruck habe, meine Kinder rechnen zu wenig um. Das führt aber nicht zum Familienkrach. Ich glaube insgesamt, dass der Euro gut ist, stabil ist. Und wenn Sie die Meinungsumfrage in Erinnerung haben: Vor 14 Tagen hieß es, die Mehrheit der Bürger ist davon überzeugt, dass der Euro gut ist für die Wirtschaft. Von da aus ist ein relativ kurzer Weg bis zu der Erkenntnis: Er ist auch gut für mich.
Burchardt: Das war nämlich umgekehrt.
Rau: Das war nämlich umgekehrt, und das hat sich doch verändert. Darüber bin ich froh.
Burchardt: Glauben Sie, dass der Euro auch so schnell auf die Erweiterungsländer übertragen werden kann, dass es keine wirtschaftlichen und finanziellen Verwerfungen gibt?
Rau: Wenn er zu schnell übertragen wird, dann wird es Verwerfungen geben. Deshalb muss man das sehr genau ansehen. Da bin ich froh darüber, dass wir mit der Europäischen Zentralbank ein Institut haben, das souverän und unabhängig von jeder Regierung seine Entscheidungen treffen kann.
Burchardt: Herr Präsident, von Europa einen Blick über den Atlantik. Ebenso transatlantische Störungen, wie es im Wetterbericht immer so schön heißt, bestehen insbesondere zwischen Deutschland und den USA. Auch hier gibt es noch einiges zu reparieren. Man hat manchmal den Eindruck, dass in Washington eine gezielte Empfindlichkeit produziert worden ist. Ist dieser Eindruck richtig aus deutscher Sicht?
Rau: Für einige mag das gelten, aber es gilt, glaube ich, nicht für die Fülle unserer Gesprächspartner. Ich habe in den letzten Wochen so viele Gespräche mit Verantwortlichen in Amerika geführt, die ganz deutlich machen, wie eng wir miteinander verbunden sind, die daran erinnern, dass wir in Berlin den Amerikanern die Freiheit dieser Stadt verdanken, dass nach meiner Überzeugung die deutsch-transatlantischen Beziehungen, die europäisch-transatlantischen Beziehungen gut sind, auch wenn es gegenwärtig zwischen dem Präsidenten und dem Bundeskanzler in einer Sachfrage keine Übereinstimmung gibt . . .
Burchardt: . . . dem amerikanischen . . .
Rau: . . . den amerikanischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler. Das ist nicht neu. Das ist gravierender, als es vor Jahren war, weil es um eine konkrete Frage, nämlich um den Krieg gegen den Irak geht. Aber denken Sie mal daran, wie Helmut Schmidt und Jimmy Carter miteinander umgegangen oder einander ausgewichen . . .
Burchardt: . . . aber das hatte damals nicht diese diplomatischen Verwerfungen.
Rau: Nein, das hatte es eben deshalb nicht, aber ich glaube, aus diesem Grunde, weil es das damals gegeben hat, dass wir bald wieder in 'good-speeking-germs' sein werden.
Burchardt: Könnten Sie sich vorstellen, kraft Ihres Amtes eine Art diplomatischer Vermittlungsrolle zu übernehmen?
Rau: Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ich war ein paarmal in Amerika, seit ich im Amt bin. Ich empfange regelmäßig Gesprächspartner aus Amerika und korrespondiere mit dem einen oder anderen. Da braucht es keine symbolische Handlung, da bedarf es keiner Gesten, sondern die Menschen wissen schon, dass wir Amerika als die eigentliche Weltmacht nicht nur respektieren, sondern dass wir auch die Tradition Amerikas mit Menschenrechten und Unabhängigkeitserklärung ernst nehmen und dass wir in Amerika eine Demokratie sehen, die uns die Demokratie auch gebracht hat.
Burchardt: Dennoch ist aktuell nicht zu übersehen, dass George Bush einen Krieg will gegen den Irak, dass eine Menge Verbündete damit Probleme haben – nicht nur die Deutschen, auch die Kanadier als Beispiel. Als wir hier vor einem Jahr zusammensaßen nach dem 11. September, haben Sie vor zu martialischen und kriegerischen Auseinandersetzungen gewarnt. Würden Sie diese Warnung auch heute noch erneuern und es genauso beurteilen?
Rau: Die Situation ist deshalb anders, weil inzwischen ja die Vereinten Nationen gesprochen haben und weil die Vereinten Nationen eine klare Forderung an den Irak gestellt haben. Und bisher ist nicht klar, ob diese Forderungen völlig erfüllt werden und erfüllt worden sind. Da ist sicher noch Verhandlungsspielraum, aber ich würde nach wie vor sagen, dass die zivilen Antworten bei einem Angriff auf die Zivilisation, wie es der 11. September ist, die entscheidenden sind. Ich sage damit nicht, dass es nicht verantwortlich sein könnte, auch zu militärischen Mitteln zu greifen, wie wir das an anderen Stellen der Welt ja auch getan haben. Aber ich sehe diese Notwendigkeit gegenwärtig gegenüber dem Irak nicht.
Burchardt: Der Bundeskanzler hat gesagt, bei aller uneingeschränkten Solidarität würde sich seine Regierung nicht auf ein Abenteuer einlassen. Vor diesem Hintergrund: Ist Irak nach wie vor ein Abenteuer?
Rau: Das hat er nicht in dem Zusammenhang gesagt, sondern er hat im Zusammenhang mit der uneingeschränkten Solidarität gesagt: Wir sind zum Risiko bereit, aber nicht zum Abenteuer. Und ich habe diesen Satz damals als sehr hilfreich empfunden, weil es ja doch viele Ängste auch in Deutschland gab. Ich will ihn aber darüber hinaus jetzt nicht kommentieren, weil ich ja nicht für die Regierung zuständig bin sondern für alle. Und ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es politische Kräfte gibt, die das anders sehen als der Bundeskanzler - freilich, wenn ich es richtig sehe, alle unter der Voraussetzung, dass die UNO entscheidet. Ich sehe aber gegenwärtig nicht, dass eine solche Entscheidung ins Haus steht und würde mich an der Diskussion darüber deshalb auch jetzt nicht beteiligen.
Burchardt: Die Irakproblematik war eine zentrale Frage im letzten Wahlkampf – neben der Flut. Viele sagen, der Bundeskanzler habe mit falschen Versprechungen diese Wahl gewonnen. Man hat das Gefühl, dass gerade jetzt hier in Berlin doch eine gewisse Hysterie ausgebrochen ist. Es wird ein 'Lügen-Ausschuss' gebildet im Parlament. Sind das nicht übertreibende Entwicklungen in der politischen Tagesaktualität?
Rau: Vieles halte ich da nicht für hilfreich, ganz unabhängig, von welcher Seite es kommt. Mich hat getröstet, dass ich vor einiger Zeit einen Fernsehfilm sah, in dem im Jahre 1980 der Bundesregierung der Vorwurf gemacht wurde, sie habe die Wahl nur durch Lügen gewonnen. Damals hieß das 'Rentenlüge'. Also, das kommt offenbar in Intervallen immer wieder. Nach meiner Überzeugung sind Untersuchungsausschüsse nicht zuerst Elemente der Wahrheitsfindung, sondern politische Kampfinstrumente. Die sind legal, die sind in der Verfassung vorgesehen, die darf man nicht behindern. Aber zu glauben, da würden die Entscheidungen getroffen, das halte ich für eine falsche Wahrnehmung.
Burchardt: Man hat augenblicklich ein wenig das Gefühl, dass hier in Berlin oder von Berlin ausgehend fast schon zentralistische Lobbypolitik betrieben wird, dass vielleicht sogar die Gefahr darin besteht, dass wir eine 'Lobbykratie' haben demnächst. Der Bundeskanzler hat ja, was immer er vorgeschlagen hat, es sofort mit einer Interessengruppierung zu tun gehabt. Gibt es hier eine Fehleinschätzung der Regierenden, vielleicht auch der Opposition – bezogen auf die Akzeptanz von Opfern, die im Augenblick – von denen Sie ja auch gesprochen haben – zu geben sind?
Rau: Nach meinem Eindruck brauchen wir in den nächsten Jahren eine ausführliche Föderalismusdiskussion zum Erhalt des Föderalismus, denn ich halte das föderalistische System für vorzugswürdig, für demokratiefreundlich. Ich glaube, das es der Überschaubarkeit, und damit der Kontrollierbarkeit politischer Entscheidungen dient. Es muss allerdings wieder Aufgabe zur Ausgabe, und deshalb sage ich: Der Staat insgesamt muss darauf achten, dass der Föderalismus ein Schichtkuchen ist und kein Marmorkuchen. Das heißt, es müssen Konturen wieder sichtbar werden. Und da ist in den letzten Jahren doch manches in Richtung Marmorkuchen gegangen.
Burchardt: Ja, aber gerade in diese Richtung kann man ja – wenn wir bei dem Bild bleiben – den Marmorkuchen teilweise sogar als betoniert ansehen. Entscheidungen sind nicht machbar gegen den Bundesrat. Die jeweilige Opposition behauptet immer, sie würde über den Bundesrat mitregieren – man kann das auch blockieren nennen. Das heißt, politische Entscheidungsprozesse sind so kompliziert, dass manchmal überhaupt nichts geschieht. Gibt es hier ein Mittel und Möglichkeit, vielleicht dann doch diese Partikularinteressen, mit denen wir es ja auch sehr oft zu tun haben, die auch mit Wahlkämpfen zu tun haben, diese Partikularinteressen ein wenig abzubauen?
Rau: Eigentlich nur durch den Appell an die Einsicht, es gibt keine technischen Möglichkeiten, keine gesetzgeberischen Möglichkeiten. Aber wenn ich mir die Reden der Bundesratspräsidenten anhöre, und zwei davon habe ich selber gehalten, dann warnen sie alle davor, den Bundesrat zum parteipolitischen Instrument zu machen. Und wir sollten diese Warnungen vielleicht gelegentlich denen vorlesen, die hernach die Hand heben.
Burchardt: Genau, aber Fakt ist ja, dass das nicht geschieht. Und vor diesem Hintergrund muss man sich ja schon fragen – auch vor dem Hintergrund einer europäischen Einigung, Einheit, Erweiterung: Ist das für eine Demokratie auf Dauer auf nationaler Ebene überhaupt noch machbar und akzeptabel, in Kleinstaaterei zu machen und so viel Entscheidungsfindungsprozesse auf kommunale oder andere Gebietskörperchaftsebenen zu transferieren?
Rau: Ich stelle fest, dass in vielen europäischen Ländern der Weg zur Regionalisierung weitergegangen wird als früher, und dass man von Zentralismus wegkommt. Es kommt nur darauf an, dass klare Verhältnisse sein müssen, dass also Kompetenzen und Zuordnungen den Menschen bewusst sein müssen, damit sie wissen: Bei der Landtagswahl entscheide ich nicht über den Bundeskanzler und bei der Oberbürgermeisterwahl entscheide ich nicht über den Ministerpräsidenten. Wenn da wieder etwas mehr Klarheit entstünde, dann würde auch eine Europawahl, wie wir sie in eineinhalb Jahren vor uns haben, nicht allein ein Stimmungsbarometer für die Bundespolitik, sondern eine Delegation von Interessen und Aufgaben nach Europa.
Burchardt: Vor diesem Hintergrund – Sie selbst waren ja lange Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen: Es gibt die EUREGIO, es gibt ja Dreiländerecks – nicht nur dort, sondern auch woanders. Wäre das nicht ein Zukunftsmodell auch zu einer, ich sage mal, latenten Überwindung blockierender Nationalstaaten?
Rau: Aber ganz gewiss, und es gibt ja Überlegungen in diese Richtung, die gefördert werden durch die wirtschaftliche Verflechtung, die ja zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden sehr viel größer ist als mit manchem deutschen Nachbarland. Und ich habe solche Entwicklungen immer zu unterstützen versucht und will das auch in Zukunft tun, wenn das auch in Richtung auf den Osten geschieht.
Burchardt: Nochmal zurück zum Föderalismus. Zum Föderalismus gehört ja auch immer der Begriff der Konsenspolitik, die ja auch von deutschen Politikern, von deutschen Regierungen eigentlich in den letzten Jahren betrieben worden ist. Ist angesichts der augenblicklichen Wirtschaftskrise eine Konsenspolitik noch gerechtfertigt? Müssen hier nicht tatsächlich klare gesellschaftliche Alternativen aufgezeigt und dann eben auch verwirklicht werden?
Rau: Es muss der Konflikt beschrieben werden, er darf nicht verkleistert werden. Aber das Ziel des Konsenses darf man nach meiner Überzeugung auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht aus dem Blick verlieren.
Burchardt: Auf der anderen Seite stellt man aber immer wieder fest, dass hier sozusagen anstatt Konsens oftmals ein fauler Kompromiss herauskommt.
Rau: Es gibt faule Kompromisse, so wie es faule Kompromisslosigkeit gibt. Und ich bin gegen alles Faule.
Burchardt: Sie haben selber 'versöhnen statt spalten' gesagt. Versöhnen heißt, man hat sich vorher gestritten. Man streitet sich jetzt hier in Berlin wie die Kesselflicker zum Teil - das muss man schon sagen.- in den Parteien selber, aber auch zwischen Regierung und Opposition. Es gibt nicht wenige, die sagen: Wenn die Landtagswahlen am 2. Februar in Hessen und in Niedersachsen gewesen sind und möglicherweise auch ein Ergebnis bringen, das die Bundesregierung nicht gerade ermutigen kann, wäre es an der Zeit, eine große Koalition zu bilden. Was halten Sie von solchen Überlegungen?
Rau: Ich finde, das sind Spekulationen, die uns nicht weiterhelfen. Ich weiß auch niemanden, der eine große Koalition haben möchte. Das, was ich höre von der Oppositionsführerin und vom Kanzler, lässt mich nicht vermuten, dass am 3. Februar dieses Thema auf der Tagesordnung sein wird. Wir haben eine Bundestagswahl gehabt. Sie hatte ein klares Ergebnis, auch wenn es ein knappes Ergebnis war. Und deshalb meine ich, wir sollten jetzt die Aufträge, die erteilt worden sind – zum Regieren und zum Opponieren –, wahrnehmen und einfordern, denn das ist demokratischer Stil.
Burchardt: Herr Bundespräsident, zum Abschluss, wenn Sie mir gestatten, eine persönliche Beurteilung: Man hat das Gefühl, dass Ihnen, je länger Sie im Amt sind, dieses Amt immer mehr Spaß macht . . .
Rau: . . . es macht mir sehr viel Freude.
Burchardt: Würde das heißen, dass Sie auch noch sich vorstellen könnten, eine zweite Amtszeit anzutreten?
Rau: Das will ich erst dann mitteilen, wenn der Zeitpunkt dazu gekommen ist.
Burchardt: Sie würden es aber nicht ausschließen?
Rau: Auch das will ich erst dann mitteilen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.