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Raus auf die Straße, ran an den Mann

In zehn Wochen wählt das bevölkerungsreichste Bundesland. Die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt für die Sozialdemokraten unter günstigen Vorzeichen - ist doch Jürgen Rüttgers in Erklärungsnot, seit am vergangenen Sonntag die Sponsoringvorwürfe bekannt wurden.

Von Christiane Wirtz |
    Dresden, im November 2009. Es ist der erste SPD-Parteitag nach der Bundestagswahl. Die Partei ist auf 23 Prozent gestürzt. Die Genossen sind verunsichert, ausgelaugt vom Wahlkampf, vom Plakatekleben und dem Diskutieren in der Fußgängerzone. Bis die Rede von Sigmar Gabriel so etwas wie Hoffnung macht:

    "Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Auch das müssen wir ändern. Wir müssen raus ins Leben, da, wo es laut ist, da, wo es brodelt, da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt."

    Düsseldorf, im Februar 2010. Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Es ist die erste Wahl danach. In zehn Wochen wählt das bevölkerungsreichste Bundesland. Hannelore Kraft ist die Spitzenkandidatin der SPD. Sie wirbt um Stimmen, erzählt von sich, von ihrer Familie, von Mann und Sohn:

    "Wenn ich dann abends nach Hause kam und dann an sein Bett kam und noch ein Küsschen gegeben habe, dann war so der geflügelte Spruch immer, rümpfte er so die Nase und sagte: 'Mama, du stinkst, du kommst von der SPD.'"

    An diesem Abend riecht es ganz gut bei der SPD. Oder besser: Es riecht eigentlich nach nichts. Auf den Tabletts liegen Brötchenhälften, darauf unaufdringlicher Schnittkäse. Die Getränke stehen in großen Kühlschränken, hinter Glasscheiben, jeder kann sich selbst bedienen. Und geraucht wird hier auch nicht. Hannelore Kraft sitzt auf einem weißen Ledersofa, es ist für diesen Abend hierher geschafft worden, in den Henkel-Saal einer Düsseldorfer Brauerei. Über der Sofaecke hängen Bilder: Hannelore Kraft mitten in London, im Hintergrund der typische rote Bus. Ein anderes Bild zeigt die gebürtige Mülheimerin inmitten ihrer Familie, mit Mann, Hund und Sohn. Der Sohn – so erfährt man auch an diesem Abend – rümpft schon lange nicht mehr die Nase: Inzwischen ist er 17 und selbst in die SPD eingetreten. So wie seine Mutter vor 16 Jahren:

    "Und habe mich über viele Dinge geärgert. Und bin über diesen Ärger in die Politik gekommen. Ich glaube wie viele, die Politik machen. Ich wollte was verändern. Und ich will auch heute noch, immer noch die Welt verbessern."
    Und weil man die Welt als Ministerpräsidentin noch ein bisschen besser verbessern kann, arbeitet Hannelore Kraft hart in diesen Wochen. Morgen beginnt der Landesparteitag in Dortmund, dort soll sie offiziell zur Kandidatin gewählt werden. Die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt für die Sozialdemokraten unter günstigen Vorzeichen – ist doch Jürgen Rüttgers und seine CDU in Erklärungsnot, seit am vergangenen Sonntag die Sponsoringvorwürfe bekannt wurden. Es gibt Umfragen, denen zufolge liegt die SPD in Nordrhein-Westfalen gerade bei 32 Prozent. Gemeinsam mit den Grünen, denen zwölf Prozent vorhergesagt werden, käme die SPD auf 44 Prozent – und läge damit nur einen Punkt hinter dem aktuellen Regierungsbündnis aus CDU und FDP: Schwarz-Gelb werden in Nordrhein-Westfalen derzeit 45 Prozent prophezeit. Die Spitzenkandidatin ist also optimistisch, gut gelaunt, mit Spaß dabei. Das reicht fürs Erste, um die Menschen neugierig zu machen. Deshalb sind sie an diesem Abend gekommen:

    Umfrage

    "Also um ein bisschen Information zu kriegen. Weil die SPD ja ziemlich am Boden liegt. Und wollen wir mal sehen, was sie neues am Lager hat."

    "Weil mich interessiert, was mit der SPD vorgeht."

    "Ja, um heute mal, die Frau Kraft zu fragen, wie sie sich die Zukunft denkt, besonders bis zum 8. Mai."
    Die SPD in Nordrhein-Westfalen ist der SPD im Bund einige Zeit voraus. Denn die Genossen an Rhein und Ruhr mussten schon vor fünf Jahren Demut lernen. 2005 wurde die SPD abgewählt, nach 39 Jahren an der Macht. Das tat weh. Es war eine Niederlage, die weit über Düsseldorf hinausreichte, in Berlin kündigte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am selben Abend Neuwahlen an. Die SPD in Nordrhein-Westfalen habe ihre eigenen Schlüsse aus dem verheerenden Ergebnis der letzten Landtagswahl gezogen, sagt Hannelore Kraft. Seit 2005 ist ihr Motto: Raus auf die Straße, ran an den Mann – ganz so wie es Sigmar Gabriel auf dem Parteitag in Dresden gefordert hat.

    "Geht man dahin, wohin es stinkt. Ja, wir gehen jetzt ganz gezielt auch raus, Klinken putzen, das haben wir bei den letzten Wahlkämpfen schon gemacht, zurück zur Kümmerer-Partei. Das ist harte Arbeit, aber wir wissen, dass man hart arbeiten muss, wenn man erfolgreich sein will."
    Hart arbeiten muss die SPD vor allem deshalb, weil sie ihr ureigenes Klientel verschreckt hat. Agenda 2010, Hartz IV, Rente mit 67: Das sind die Schlagworte, die Wählerstimmen gekostet haben. Hannelore Kraft will weg von diesen Überschriften, wie sie es nennt, sie will in die Textarbeit einsteigen, einzelne Vorschriften überarbeiten und so mehr Gerechtigkeit schaffen.

    "Nicht alles bei Hartz IV war schlecht. Die Zusammenlegung der beiden Systeme, kenne ich eigentlich niemanden, der das für schlecht hielt. Wir haben trotzdem in manchen Bereichen ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und wir müssen das Problem lösen. Sagen wir mal, bei Hartz IV ist das Problem, dass diejenigen, die lange gearbeitet haben, relativ schnell auf eine Stufe mit denen gestellt werden, die nie gearbeitet haben."
    Kümmern möchte sich die SPD – um die Menschen, zumal um die "Schlechter-Verdienenden". Und am liebsten möchten die Genossen das alleine tun: Die Linkspartei brauchen sie dazu nicht. Oder besser: Wollen sie dazu nicht brauchen. Weder regierungswillig, noch regierungsfähig – so nennt Hannelore Kraft die Linken an Rhein und Ruhr. Sie will Rot-Grün, keine Frage. Doch schließt sie Rot-Rot-Grün sicher aus? Keine Antwort. Den Ypsilanti-Fehler macht sie nicht. Auch andere Farben werden in diesen Wochen aneinandergehalten: Schwarz-Grün zum Beispiel. Nach den aktuellen Umfragen wäre ein solches Bündnis machbar. Und den Vorschlag von Norbert Röttgen, Atomkraftwerke nach 40 Jahren abzuschalten, hat man in Düsseldorf sehr wohl gehört. Hannelore Kraft weiß das Signal des CDU-Politikers zu deuten:

    "Es geht darum, neue Machtoptionen zu eröffnen. Und wie beliebig die Machtperspektiven inzwischen genutzt werden, vonseiten der Kanzlerin und von CDU/CSU, das konnten wir in den letzten Wochen doch sehr deutlich betrachten. Eine klare Positionierung sieht anders aus."
    Die Kandidatin lässt sich davon nicht beeindrucken, den Eindruck jedenfalls vermittelt sie. Sie kommt aus dem Pott. Sie ist eine, die anpackt. Die Genossen wissen das zu schätzen, nicht nur in Düsseldorf, auch in Schwerte.

    Hannelore Kraft tritt dort auf, gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden, gemeinsam mit Sigmar Gabriel. Der Saal ist voll, besetzt bis auf den letzten Platz, 800 Menschen sind gekommen. Noch im vergangenen Herbst hätte man der SPD so viel Lebenskraft kaum zugetraut. Viele Männer haben sich einen roten Schal um den Hals gelegt, sie haben Plakate geschrieben: "Hannelore, wir packen das." Denn: Die Hannelore, die spricht ihnen aus der Seele, aus der Seele der Sozialdemokratie.

    "Der hat gesagt, wenn ich Arbeit habe, dann bin ich ein ganz normaler Mensch. Das sind die Menschen, denen ein Guido Westerwelle offensichtlich niemals begegnet, weil er nicht begreift, was Arbeit mit Würde zu tun hat. Der begreift das nicht."

    Dann tritt Sigmar Gabriel ans Mikrofon. Sein Gesicht wirkt leicht fahl an diesem Abend, er hatte einen langen Tag, die Erschöpfung ist ihm anzusehen. Seit 105 Tagen führt er die SPD nun. Und er stemmt sich mit seiner ganzen Kraft dagegen, dass der Volkspartei das Volk abhandenkommt. Die Regierung in Berlin macht es ihm nicht allzu schwer: Wenn drei sich streiten, freut sich der Vierte. In den Umfragen profitieren die Sozialdemokraten zwar noch nicht von den schwarz-gelben Fehlern: Die Werte für die SPD liegen zwischen 22 und 27 Prozent. Der Trend aber stimmt: Abwärts geht es für die anderen.

    "Und die, die Partei einmal stolz aufgebaut haben, die für bürgerliche Freiheitsrechte in der FDP gekämpft haben. Die müssen sich doch heute schämen, was Westerwelle und Co. aus dieser stolzen Partei gemacht hat. Hingerichtet hat er seine FDP, zu einer Steuersünder- und Sozialbetrügerpartei."

    Nach der Rede stehen Hannelore Kraft und Sigmar Gabriel auf der Bühne, winken ins Publikum. Den Saal haben sie für sich gewonnen. Zum Abschied schüttelt der Parteivorsitzende den Musikern die Hände, den sechs älteren Herren: Sie haben den Abend mit "Jazz aus dem Revier" begleitet. Und wie er so dasteht, zwischen Schlagzeug und Trompete, denkt man für einen Augenblick an Sigi Pop, an jene glücklose Zeit als Sigmar Gabriel nur noch der Pop-Beauftragte seiner Partei sein durfte. Doch schnell geht dieser Augenblick vorüber, inzwischen wird er für ganz andere Ämter gehandelt. Den Saal in Schwerte jedenfalls kann er nur mühsam verlassen, die Genossen umringen ihn, legen ihren Arm um seine Schultern, ob er nun will oder nicht – ganz so als sei er schon längst eine Figur bei Madame Tussaud.

    Umfrage: "Gabriel soll unser Kanzler werden. Erst müssen wir die NRW-Wahl gewinnen, und dann wird er Kanzler."
    "Sigmar hier" und "Sigmar da": Die einen wollen eine Unterschrift in ihrem roten Parteibuch. Die anderen ein Foto mit ihrem Vorsitzenden. Hände drängen nach vorne mit Kugelschreibern und Kameras, Stimmen kommen aus allen Richtungen, und in der Luft liegt der Duft von Mettbrötchen – von denen man nur weiß, dass sie eben noch auf den langen Tischen standen. So muss sich das wohl anfühlen: Dieses "mitten im Leben".

    "Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen müssen den Alltag von Menschen gut kennen. Egal, ob im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb, im Krankenhaus, im Pflegeheim, bei der Polizei. Nur wenn man viel weiß, übers Leben, dann kann man auch ne gute Politik machen," sagt Sigmar Gabriel, und er sagt auch: "Die SPD ist keine Regierung im Wartestand". Fürs Erste hat er sich in der Opposition eingerichtet, gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier. Und beide sind klug genug, sich nicht in einer Totalopposition zu verlieren – wie es die Linke so gerne tut. Ob nun Afghanistan oder Jobcenter: Manchmal muss es eben auch mit und nicht gegen die Regierung gehen, das weiß der SPD-Parteichef.

    "Ich halte nix davon, dass die SPD nur die anderen verhaut. Sondern sie muss vor allem selber glaubwürdig, und das nachhaltig, Ideen entwickeln, wie wir dafür sorgen, dass Menschen wieder von ihrer Hände Arbeit leben können."
    An der Basis kommt dieser Stil an.

    Umfrage:

    "Ich bin begeistert von der Arbeit von Herrn Gabriel. Weil er einfach wieder nah ans Volk geht, nah an die Mitglieder, und das ist einfach super."

    "Er tut der Partei sehr gut."

    "Er macht einen kompetenten Eindruck, er ist sprachlich so gewandt, dass er auch die Mitglieder erreicht, ich denke, das ist im Moment ganz wichtig."
    Und was ist mit der Frau an der Spitze der SPD, was ist mit der Generalsekretärin Andrea Nahles?

    Umfrage:

    "Gut ... ist ... vielleicht ... entwickelt sie sich noch, sagen wir mal so."

    "Ähm, ja, Frau Nahles ist der Generationswechsel, mal schaun."

    "Frau Nahles äh, ist ein ganz anderer Typ, vergleichen kann man sie nicht, aber ich denke, die haben so eine ganz gegensätzliche Komponente, das die sich dann gut tun."
    Dass die beiden sich gut tun würden – das war vor dem Parteitag in Dresden alles andere als sicher. Schließlich kommen Sigmar Gabriel und Andrea Nahles aus ganz verschiedenen Lagern der SPD: Er war bei den Falken, sie war bei den Jusos. Beide haben in den vergangenen Jahren eher gegeneinander als miteinander gearbeitet. Doch heute – alles anders, sagt zumindest Gabriel:

    "Ansonsten verstehen wir uns gut. Haben die gleichen Ziele und haben Spaß an der gemeinsamen Arbeit. Nur CDU und FDP haben sich als Liebeshochzeit und Traumpaar bezeichnet, und wie das ausgeht gerade, ist eher ein abschreckendes Beispiel."

    Andrea Nahles hat ihr Berliner Büro im Paul-Löbe-Haus gerade erst bezogen. Noch stehen Umzugskisten vor ihrer Tür, in den Regalen liegen die Elektro-Kabel, die Wände sind kahl und weiß. Allein darf man hier keinen Nagel in die Wand schlagen, dazu gibt es im Bundestag den Beauftragten für Bildhängung, der muss erst noch vorbeikommen. Inhaltlich aber hat die Generalsekretärin ihre Arbeit bereits voll aufgenommen, denn die SPD hat keine Zeit zu verlieren.

    "Wir streiten uns nicht. Wir haben nicht diese Zerrissenheit, die wir über die letzten Jahre leider immer wieder hatten. Und das hat natürlich, wenn man ehrlich ist, auch der SPD enorm geschadet in den letzten Jahren. Und das war vielleicht diese Härte des Ergebnisses, diese 23 Prozent, das war so schlimm, dass jetzt alle verstehen, dass wir uns mit wechselseitigen Nickeligkeiten nur wechselseitig schaden können."
    Schade nur, dass die SPD das nicht schon viel früher gemerkt hat. Vielleicht wäre sie dann noch an der Regierung – oder zumindest nicht ganz so tief in der Wählergunst gesunken. Doch wenn man Andrea Nahles glauben darf, dann hat die Niederlage der SPD viel Gutes gebracht: Die Flügelkämpfe sind vorbei und die Kreativität zurück. Auch hat der Druck von links etwas nachgelassen. Die Abgrenzung von der Links-Partei hat die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren viel Kraft gekostet. Zurzeit aber wird die Gretchenfrage nicht ganz so laut gestellt und das, obwohl demnächst gewählt wird, in Nordrhein-Westfalen. An Rhein und Ruhr aber ist die Linke nicht allzu stark – wenn überhaupt, wird sie es nur knapp über die Fünfprozenthürde schaffen. Schafft sie es nicht, könnte das die entscheidenden Punkte für Rot-Grün bringen. Die SPD müsse daher die Gunst der Stunde nutzen, so Andrea Nahles:
    "Es kann durchaus sein, dass es sich positiv auswirkt, dass der Rückzug von Lafontaine, besonders im Westen, die ein oder anderen Stimmen für die anderen Oppositionsparteien bringt, also auch für die SPD und die Grünen. Und wir werden auch aktiv darum werben."

    Bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen geht es nicht nur um den Düsseldorfer Landtag – sondern auch um den Bundesrat in Berlin. Denn die sechs Stimmen des bevölkerungsreichsten Bundeslandes werden darüber entscheiden, ob Schwarz-Gelb die Mehrheit in der Länderkammer behält. Geht Nordrhein-Westfalen an die SPD, so kann die Opposition wichtige Vorhaben der Regierung stoppen. Kein Wunder, dass Andrea Nahles die Grünen in Düsseldorf davor warnt, sich für den falschen Partner zu entscheiden. Und falsch: Das wäre ein Bündnis mit der CDU.

    "Kurzum die Grünen haben machttechnisch kurzfristig vielleicht die Nase vorn, aber verlieren das Wichtigste – das kann die SPD aus eigener Erfahrung sagen - was eine Partei hat, nämlich Glaubwürdigkeit."
    Andrea Nahles geht zu ihrem Büroschrank, in dem sich Spiegel und Waschbecken verbergen. Sie schiebt die Brille nach oben, über die Stirn, und schmiert sich Make-Up auf die Wangen. Gleich steht sie vor der Kamera. Seit Dezember hat sie einen wöchentlichen Video-Blog.

    Videoblog (1.Dezember): "Hallo, das ist der erste Beitrag in meinem Videoblog, den ich jetzt wöchentlich schalten möchte. Schön, dass Sie dabei sind. Sie können auch Kommentare abgeben, über die Kommentarfunktion. Ich würde mich sehr darüber freuen. Zur aktuellen politischen Lage ... "
    Mitreden sollen sie, die Menschen, egal, ob sie nun in der SPD sind oder nicht. Schluss mit Basta! Denn darunter haben die Genossen lange genug gelitten – damals als Gerhard Schröder noch Bundeskanzler war. Mitreden, Basis, Demokratie – das ist schön gesagt, aber was heißt das in der Praxis? Man denkt an lange Nächte auf Parteitagen, an unzählige Tagesordnungspunkte, nicht enden wollende Aussprachen – und fragt sich, ob das einer Partei wirklich gut tut? Wenn alle mitreden?

    "Wenn alle mitreden, wäre ich sehr froh. Weil ich glaube, dass wir nur dann eine Chance haben, so einen Funken rüberzubringen, wenn wir lebendig sind. Wenn von uns was ausgeht. Wenn die Menschen auch am Tresen bereit sind, für die SPD ein gutes Wort einzulegen."
    Der Goldene Kappes in Köln. Die Genossen vom Ortsverein Nippes sitzen an einem langen Holztisch. In der Luft hängt kalter Rauch. Der goldene Kappes ist fast 100 Jahre alt, eine traditionsreiche Kölner Kneipe, draußen am Eingang hängt stolz ein Aufkleber: weiße Zigarette auf blauem Grund. Durchgestrichen ist da nichts. Dabei hatte doch Andrea Nahles in Dresden für einen ganz anderen Duft geworben:

    "Ich will eine Partei, die nicht nur nach Pfeife, Zigarillo und Zigarre riecht, sondern ruhig auch mal ein bisschen nach Jil Sander."
    Christiane Schmitz wird an diesem Abend – wie jeder andere auch – vermutlich nach kaltem Rauch riechen, auch wenn sie selbst nicht mitraucht. Das lässt sich gar nicht vermeiden in einer Kneipe wie dem Goldenen Kappes. Und doch: Interpretiert man die Worte der Generalsekretärin richtig, dann könnte sie dem Duft von Jil Sander schon sehr nahe kommen. Eine junge, kompetente Frau, selbstständige Rechtsanwältin und engagiert genug, um sich an den Wochenenden auf die Straße zu stellen und für die SPD zu werben. Ganz in diesem Sinne hat Christiane Schmitz auch ihren Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel verstanden:

    "Und er hat uns auch zum Mitarbeiten aufgerufen. Das heißt ganz konkret, wir machen das jetzt hier nicht alleine. Wir nehmen euch alle in Anspruch."
    220 Mitglieder hat der Ortsverein in Köln Nippes. Etwa zehn Prozent, also 22 Genossen, arbeiten hier aktiv mit. Was so viel heißt: Sie kämpfen für das Schwimmbad in Nippes, damit es nicht geschlossen wird – und für die Gesamtschule, die endlich eröffnet werden soll. Genau diese Menschen will der neue SPD-Vorstand für sich gewinnen. Sie neu motivieren. Von einer Urwahl spricht Gabriel in Interviews – davon, dass sie den Kanzlerkandidaten wählen sollen. Alles schon mal da gewesen, sagt Hans-Dietmar Eisele, der Ortsvorsitzende in Nippes. Denn per Urwahl hat die SPD schon mal einen Parteivorsitzenden gewählt – und damit keine guten Erfahrungen gemacht. Damals, als Björn Engholm überraschend zurückgetreten war:

    "Wir hatten das ja mal gehabt, vor ca. zehn Jahren haben wir ja mal basisdemokratisch gewählt, und dabei ist dann Scharping rausgekommen. Ja, und hat keiner mit gerechnet, jeder hat gedacht, da käme der Favorit bei raus, und da kam Scharping bei raus. Hat uns auch nicht weitergeholfen. Ja, und das war gut und schön, da haben wir demokratisch gewählt, aber genützt hat es uns nix."
    Ob es nun nützt, auch Menschen in die Parteiarbeit einzubeziehen, die nicht in der SPD sind – so wie es sich der Parteivorstand vorstellt, auch da ist Eisele eher skeptisch. Denn natürlich seien in Nippes auch jetzt schon Nicht-Mitglieder willkommen – so eine "Schnupper-Mitgliedschaft" gebe es schon lange im Organisations-Statut, sagt er. Nur dass eben kaum jemand komme, zum Schnuppern. Wenn denn nun doch einer kommt, was riecht er denn in der SPD?

    "Ja, es stinkt, sagen wir mal, nur noch virtuell. Die Zeiten sind im Prinzip vorbei. Er meinte sicherlich damit, jeder interpretiert das ja anders, ich hab das für mich so interpretiert: Das ist da, wo gearbeitet wird."
    Und es macht ganz den Eindruck, als wäre auch das für ihn nichts Neues. Schließlich hat er sich deshalb vor 38 Jahren für die Partei entschieden.