Freitag, 29. März 2024

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Ravel und Mussorgsky
Aufregendes Abenteuer

Für Dirigent François-Xavier Roth ist Musik von Maurice Ravel ein "aufregendes Abenteuer". Mit seinem Ensemble Les Siècles hat er bereits mehrere Ravel-Werke auf CD dokumentiert. Nun auch „La Valse“ und Ravels Orchesterfassung der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky.

Am Mikrofon: Christoph Vratz | 21.05.2020
    Ein Mann mit weißem Hemd und schwarzer Weste blickt zufrieden zur Seite.
    Dirigent François-Xavier Roth ist seit 2015 Generalmusikdirektor der Stadt Köln (Julia Sellmann)
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Promenade
    Der russische Dirigent Sergej Koussevitzky hatte Maurice Ravel um eine Orchester-Bearbeitung der "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgsky gebeten. Im März 1922 erhielt Ravel daher die Originalausgabe für Klavier, vermutlich in der von Nikolai Rimsky-Korsakow revidierten Fassung. Nur wenige Wochen später vermeldet Ravel: "Das große Tor von Kiew ist endlich fertig. Ich habe mit dem Ende begonnen, weil es das Stück ist, dessen Orchestrierung mir am wenigsten interessant erscheint. Aber es ist kaum zu glauben, wie viel Arbeit etwas so Leichtes machen kann."
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Das große Tor von Kiew
    Ravel geht es bei der Ausweitung der Klavierpartitur auf ein ganzes Orchester nicht um Quantität, sondern, mit dem damit verbundenen Perspektivwechsel, um eine ästhetische Qualität. Mussorgsky hatte seinen Zyklus 1874 unter dem Eindruck einer Gedächtnisausstellung für einen verstorbenen Freund geschrieben: den Maler, Zeichner und Architekten Viktor Hartmann. Verbunden sind Mussorgskys einzelne Musikbilder an mehreren Stellen durch sogenannte "Promenaden". Wir folgen also einem imaginären Besucher, wie er durch die Ausstellung schreitet, von Bild zu Bild. Zeugnisse legen den Verdacht nahe, dass Mussorgsky sich hier selbst porträtiert hat. In der Orchesterfassung hören wir aber nicht das direkte Selbstporträt Mussorgskys, sondern die Spiegelung durch Maurice Ravel. Während die Eingangs-Promenade mit "Allegro giusto, nel modo russico" überschrieben ist, also eher zügig, im russischen Stil, trägt die zweite Promenade die Bezeichnung: "Moderato comodo" und mit Delikatesse.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Promenade
    Geniales Außenseitertum
    In der bisherigen Aufnahmegeschichte der Ravel’schen Orchestrierung ist das Spektrum, wie man diese Promenaden deuten kann, sehr weit: Carlo Maria Giulini etwa hat Mussorgsky wie mit einem behäbigen Gehrock bekleidet bei einer feierlichen Vernissage gezeigt. Beim 86-jährigen Arturo Toscanini dagegen erleben wir einen Menschen, der entschlossen und wie im Marschschritt durch die Ausstellung eilt. Nun positioniert sich François-Xavier Roth mit seinem Orchester "Les Siècles" ziemlich in der Mitte – aber keineswegs im Mittelmaß. Roth wählt zunächst einmal den Weg der Verschlankung. Das gilt auch für das erste Bild vom "Gnom".
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Der Gnom
    Roth zeigt in seiner Einspielung, was Mussorgskys Komposition – auch durch die Brille Ravels betrachtet – auszeichnet: ein geradezu geniales Außenseitertum. Mussorgsky hat sich weder um die ästhetischen Maximen der so genannten Programmmusik, noch um die spieltechnischen Standards im 19. Jahrhundert gekümmert. Das betrifft ungewöhnliche Taktarten und einen teils verqueren Klaviersatz. Dessen Charakter schimmert auch in der kongenialen Fassung durch Ravel immer wieder durch. Ravel war ein Pedant, geradezu skrupulös in seiner Arbeit. Er hält sich in seiner Bearbeitung zwar eng an die Klavier-Vorlage, dennoch nimmt er sich ganz gezielt einige Freiheiten heraus, etwa indem er einzelne Takte hinzufügt wie in "Il vecchio castello", dem alten Schloss, in "Die Hütte auf Hühnerfüßen" und im "Großen Tor von Kiew". Ravels Orchesterapparat orientiert sich bis auf wenige Ausnahmen an demjenigen, den er bereits in "La Valse" zwei Jahre zuvor verwendet hat, was die Repertoire-Zusammenstellung dieser CD zusätzlich rechtfertigt. Zu diesen Ausnahmen gehören das Altsaxophon und einige Schlaginstrumente. Im Abschnitt "Bydlo", dem alten Ochsenkarren, verlangt Ravel außerdem eine kleine C-Tuba mit sechs Ventilen.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Bydlo
    Dirigent François-Xavier Roth setzt die Vorgaben Ravels genau um. Man hört zunächst leise die tiefen Streicher und Fagotte, die rhythmisch den Ochsenwagen ankündigen, dazu das Solo der Tuba. Fast schwerelos und geradezu wie bei einem Belcanto-Sänger entwickelt sich die Melodie. Anders als in einigen Notenausgaben des Mussorgsky’schen Originals, wo von vornherein ein Fortissimo dominiert. Außerdem betont Roth die Begleitfiguren alle gleichmäßig, also genau so, wie sie bei Mussorgsky und Ravel auch notiert sind, das heißt ohne zusätzliche Zwischen-Akzente. Bei Maurice Ravel erwächst, durch die sich steigernde Dynamik und die weiteren, hinzutretenden Instrumente, aus der anfänglichen Bewegungsstudie ("sempre pesante") ein zunehmend plastisches Bild. Die Vorstellung eines immer näher kommenden und wieder verschwindenden Wagens wird verstärkt durch den zunächst dezenten, dann anschwellenden und später leiser werdenden Trommelwirbel.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Bydlo
    Die in diesem Abschnitt vorgesehene Tuba hatte zu Ravels Zeit der Instrumentenbauer Antoine Courtois hergestellt. Dirigent Sergej Koussevitzky importierte das Originalinstrument eigens für die amerikanische Erstaufführung 1926 nach Boston. In dieser hier vorliegenden Einspielung mit "Les Siècles" stammt die verwendete Tuba ca. aus dem Jahr 1913. Die drei zum Einsatz kommenden Posaunen wurden alle in der Werkstatt von Antoine Courtois gefertigt. Ein Indiz dafür, dass wir hier die "Bilder einer Ausstellung" im konsequent historischen Klanggewand hören können.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Die Katakomben
    Was sich hier in beißenden, geradezu quälend wirkenden Harmonien äußert, Ausdruck eines Klang gewordenen Entsetzens, findet innerhalb des Zyklus einzelne Gegengewichte. Etwa im dritten Bild: "Tuilerien". Ravel macht aus diesem kleinen Scherzo mit Trio-Mittelteil eine muntere, sehr farbige Komposition. Die plötzlichen Läufe stellen in der Praxis oft die Bläser vor spieltechnische Probleme, nicht so hier, ehe in sanfter Bewegung die Geigen im Trio-Teil einsetzen. Roth und "Les Siècles" fangen den Charakter dieses kindlichen Bewegungsspiels auf wunderbar subtile Weise ein, indem sie das Moment der Unberechenbarkeit herausstellen. Die kleinen dynamischen Unterschiede, der Gegensatz von Bläsern und Streichern, die wechselnd sanfte und scharfe Rhythmisierung, all das macht aus dieser Miniatur in der vorliegenden Neuaufnahme ein Ereignis.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Die Tuilerien
    Aus einem Aquarell wird bei diesem "Bild einer Ausstellung" sozusagen ein Abbild von fast fotografischer Genauigkeit. Die einzelnen Gesten von Entspannung, Gelassenheit, Keckheit und verschmitztem Lächeln kommen bei Roth und "Les Siècles" gleichermaßen plastisch zum Ausdruck. Das gilt auch für den Abschnitt "Samuel Goldenberg und Schmuyle". Wir erleben bzw. sehen durch die Musik den Dialog zweier polnischer Juden, der eine reich, der andere arm. Der Reiche spricht in Mittellage, mit deutlicher, durch kleine Pausen sinnfällig gegliederter Akzentuierung, ruhig, aber bestimmt. Daran schließt sich, Andantino, die Rede des Armen an: ein fast hilfloses und gleichzeitig erregtes Stottern, fast fistelnd in hoher Lage. Der insistierende Rhythmus aus Triolen wirkt geradezu zwanghaft. Im weiteren Verlauf wird der Reiche langsamer, der Arme steigert seine Rede, bevor der Reiche mit einem abschließenden Akkord in Moll den Dialog beendet.
    Ernsthafte Darstellung ohne Plattheit
    Bei François-Xavier Roth wird, dank aller denkbaren Differenzierungen, daraus ein tiefsinniges Doppel-Porträt. Dem Trompetengeplärre des armen Juden wird jede Überspitzung genommen, die in vielen anderen Aufnahmen wie eine klingende Karikatur wirkt. Erst durch diese sehr ernsthafte Darstellung erschließt sich bei Roth auch das Spannungsfeld gegenüber dem reichen Juden. Aus den behutsam gewählten Gegensätzen entstehen letztlich zwei komplementäre Farben.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Samuel Goldenberg und Schmuyle
    In der Klavierfassung folgt an dieser Stelle eine weitere Promenade, Ravel aber leitet direkt zum nächsten Bild über, "Marktplatz von Limoges". In der Aufnahme mit François-Xavier Roth und "Les Siècles" ein keckes Allegretto vivo.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Der Marktplatz von Limoges
    Das apotheotische "Große Tor von Kiew" am Schluss der "Bilder einer Ausstellung" erscheint hier weniger breit und opulent. Dirigent Roth zeigt uns, dass man diese Musik ganz ohne Plattheit und Gewalt deuten kann, feierlich und mit genauem Gespür für das Russische in diesem Abschnitt. Denn Mussorgsky greift hier auf eine Volksliedtradition des Wechsels von Solo- und Chorgesang zurück und überträgt diese aufs Klavier. Ravel macht daraus einen raffinierten orchestralen Klangmix, den Roth und "Les Siècles" mit großer erzählerischer Kraft vermitteln.
    Musik: Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, Das große Tor von Kiew
    Das zweite Werk auf dieser neuen CD mit François-Xavier Roth und "Les Siècles" ist Ravels "La Valse". Obwohl erst im April 1920 fertiggestellt, reichen die Anfänge der Entstehung bis ins Jahr 1906 zurück. In einem Brief schreibt der Komponist, er habe "einen großen Walzer ins Auge gefasst, eine Art Hommage an den großen Strauß, […] Johann. […] wie ich diese wunderbaren Rhythmen liebe."
    Ekstatischer Tanz vor dem inneren Auge
    Doch die Ereignisse rund um den Ersten Weltkrieg haben aus einer jubelnden Hommage eine brüchige Welt werden lassen, auch wenn Ravel diese Deutung zunächst nicht gelten lassen wollte: "Es ist eine tanzende, kreisende, ja fast halluzinierende Ekstase, ein Wirbel von Tänzerinnen, die sich mit letzter Leidenschaft bis zur Erschöpfung ausschließlich durch den Walzer mitreißen lassen."
    Musik: Maurice Ravel: La Valse
    Auch in "La Valse" besticht die Neueinspielung mit François-Xavier Roth und "Les Siècles" durch Prägnanz, klare Staffelung der einzelnen Instrumentengruppen sowie durch eine Mischung aus tänzerischem Schwung und dekadentem Taumel. Roth meidet klug jede Form von Überzeichnung, dennoch wird Ravels Musik in keinem Moment zum Kompromiss verkleinert. So entsteht eine musikalische Erzählung, die den Untertitel "Poème choréographique" als Appell an die Vorstellungskraft der Hörer versteht. Man kann sich diesen Tanz, diese verdeckte musikalische Würdigung von "Glanz und Untergang einer ganzen Epoche" durchaus vor dem inneren Auge getanzt vorstellen.
    Modest Mussorgsky
    "Bilder einer Ausstellung" (Bearb. v. Maurice Ravel)

    Maurice Ravel
    "La Valse"

    Les Siècles
    Leitung: François-Xavier Roth

    Harmonia mundi (LC 07045) CD HMM 905282