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Reaktion auf russische Zensur
Kremlkritikerin lässt sich nicht den Mund verbieten

Seit den Protesten in der Ukraine machen Russlands Medien Stimmung gegen Kiew - fast alle. Als sich ausgerechnet eines der weltweit meistzitierten russischen Internetportale, lenta.ru, dem Diktat entziehen wollte, war es nur eine Frage der Zeit, bis es in die Schranken gewiesen wurde. Im März wagte Ex-Chefredakteurin Galina Timtschenko den Neuanfang - und zwar in Lettland.

Von Sabine Adler | 10.10.2014
    Galina Timtschenko an einem Tisch mit Mikrofon
    Die Journalistin Galina Timtschenko bei einer Podiumsdiskussion im März 2013 in Moskau. (picture alliance / dpa / Vladimir Pesnya)
    Es braute sich etwas zusammen. Aber hätte Galina Timtschenko in ihrem Horoskop gelesen, dass sie ein halbes Jahr später nicht nur lettische Bands wie "Zodiac" hören würde, sondern in Riga leben, in Lettland ein eigenes , neues Portal aufmachen würde, sie hätte es als spinnerte Phantasie abgetan.
    Lenta.ru, eine der einflussreichsten Internetzeitung Russlands, bei der sie Chefredakteurin war, wurde jeden Tag 600.000-mal angeklickt und erwirtschaftete voriges Jahr zehn Millionen Dollar.
    "Alle sagten mir: Du bist als nächste dran. Alle Großen sind aus dem Weg geräumt oder unter Kontrolle, nur Du nicht. Als wir über die Maidan-Bewegung berichteten, bekam ich öfter Anrufe von der staatlichen Medienaufsicht. Am 12. März wegen eines Interviews mit dem Rechten Sektor. Wir hatten es verlinkt zu einem früheren Artikel von dessen Führer Jarosch aus dem Jahr 2008. Wegen dieses Links wurden wir beschuldigt, extremistische Ansichten zu verbreiten. Um drei rief der Eigner unseres Portals an, Alexander Mamut, und sagte mir, das ich in der nächste Sekunde den Posten der Chefredakteurin zu verlassen hätte und mit mir der Ukraine-Korrespondent Ilja Azar."
    Die Entlassung war eine Zeitenwende
    15 Jahre, seit der Gründung, schrieb Galina Timtschenko für lenta.ru, zehn Jahre war sie die Chefredakteurin. Mit ihr gingen 75 von 83 Mitarbeitern des Portals; sie hatten zuvor klargestellt, dass Galina keineswegs selbst gegangen war, sondern gefeuert wurde.
    Ihre Entlassung verstanden sie als Zeitenwende. Lenta.ru würde sich wie viele andere große russische Medien der direkten Zensur beugen.
    "Während Putins erster Amtszeit und Medwedjews Präsidentschaft gab es klare Spielregeln, Manchem wurden sie direkt diktiert, manchem nicht, man musste sie trotzdem kennen. Ich habe mit dem Kreml nie kooperiert, der Direktor der Zeitung 'Iswestija' sagte mir, dass er alles und jeden kritisieren darf außer Wladimir Putin und den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche. Diese beiden Themen sind verboten."
    Seit dem Beginn von Putins dritter Amtszeit gibt es keine Spielregeln mehr, sagt die 52-Jährige. Nach den Dumawahlen 2011 erkannte der Kreml die Macht des Internets, das er bis dahin nicht für voll nahm. Erst, als sich in der Moskauer Schneerevolution 100.000 Menschen allein über soziale Netzwerke zu Massendemonstrationen verabredeten und die Reichweiten von Internetportalen denen der großen Fernsehsender entsprachen. Putins Politikwechsel folgt ihrer Meinung nach keiner ausgeklügelten Strategie, der Kreml habe vielmehr nach einer nationalen Idee gesucht.
    Die nationale Idee: Russland ist von Feinden umgeben
    "Etwas anderes als Stabilität und Wohlstand fiel ihnen nicht ein, bis Leute auf den Plan traten, die Hass und Zorn propagierten. Und wir wissen, wie Hass und Zorn und ein äußerer Feind die Menschen verbinden. Es ging also nicht mehr darum, für etwas zu sein, nach etwas zu streben sondern: Russland ist von Feinden umgeben, gegen die man sich verbünden muss. Das ist die nationale Idee."
    Dass 80 Prozent der Bevölkerung Putins Politik zustimmen, erklärt die erfahrene Internet-Journalistin mit einem Herdentrieb und einer zurückgekehrten Angst.
    "Die Massenpropaganda macht den Menschen vor, dass alle einverstanden sind. Wer zustimmt, ist normal. Wenn du nicht dafür bist, stimmt was nicht mit dir. Zweitens: Für die Umfragen rufen die Institute, wie das Levada-Zentrum, Leute auf Festnetznummern an. Aber wer ist tagsüber zu Hause zu erreichen: Rentner, die ihre Jugend in der Sowjetunion erlebt haben. Wenn sie gegen die Regierung sind, müssen sie Fragen beantworten. Viel schneller hat man seine Ruhe, wenn man sagt: Ich bin dafür. Man kennt ihre Nummer, ihren Namen, daraus entsteht Angst. Ich glaube auch, dass 50 Prozent für den Präsidenten sind, aber keine 80 Prozent."
    Organisierte Kampagnen gegen Regierungsgegner
    Wer nicht auf Linie ist, wird attackiert, das hat Galina Timtschuk lange vor ihrer Entlassung erfahren. Seit die Kreml-Jugend-Bewegung "Naschije" - „Unsere" - sogenannte Trolle anheuert, die in organisierten Kampagnen Autoren beschimpfen.
    "Als Trolle können sehr viele Leute hervorragend Geld verdienen. Für jede beleidigende Mail wird Geld gezahlt. Von der Jugendorganisation. Hackern ist es gelungen, das E-Mail-System von 'Naschije' zu knacken und an die Preislisten zu kommen. Die Trolle arbeiten fünf bis sechs Stunden pro Tag, man gibt ihnen die entsprechenden Seiten, auf denen über Russland geschrieben wird, dazu eine Auswahl von Formulierungen."
    In der kommenden Woche eröffnet Galina Timtschenko ihr eigenes Internetportal, keine Neuauflage von lenta.ru, sondern eine nicht nur aus finanziellen Gründen abgespeckte Variante: Informelle Mindestversorgung will sie bieten, genau so viel, dass ein gebildeter Leser auf dem Laufenden ist. Die Adresse: medusa.io. IO für Indian Ocean, die In-Domäne für Start-up-Unternehmen, aus Prinzip keine russische, aber in russischer Sprache. Deswegen Lettland, in der EU. In Riga habe man sie willkommen geheißen.