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Reaktionen auf Inhaftierung von Deniz Yücel
"Die Türkei geht mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Diktatur"

Die Vorwürfe gegen den in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel seien absurd und politisch motiviert, sagte der SPD-Politiker Niels Annen im DLF. Die Entwicklung in der Türkei sei besorgniserregend. Er sei gegen einen Auftritt des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland, wenn dieser für sein Referendum werben wolle. Ein Verbot sehe er aber kritisch.

Niels Annen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.02.2017
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    Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Niels Annen (Susie Knoll)
    "Der Journalist Deniz Yücel, Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", befindet sich seit dem 14. Februar in Polizeigewahrsam. Gestern Abend ordnete ein Richter Untersuchungshaft an. Dem 43 Jahre alten Journalisten werden Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung vorgeworfen.

    Am Telefon ist Niels Annen, der Sprecher der Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion, guten Tag!
    Niels Annen: Ja, einen schönen guten Tag!
    Heinemann: Herr Annen, Propaganda für eine terroristische Vereinigung, Aufwiegelung der Bevölkerung. Wie bewerten Sie diesen Vorwurf der türkischen Justiz?
    Annen: Ich halte das für absurde Vorwürfe, das ist aus der Luft gegriffen, offensichtlich auch politisch motiviert, und die Inhaftnahme von Herrn Yücel, man kann es nicht anders sagen, ist ein Skandal.
    Heinemann: Was heißt das genau, wie lässt sich das Verhältnis zwischen Justiz und Politik in der Türkei beschreiben?
    Annen: Wir können ja nur hoffe, dass das, was die türkische Regierung uns vermittelt, nämlich dass die Justiz unabhängig agiert, dass das auch wirklich den Tatsachen entspricht. Aber wenn man sich die …
    Heinemann: Aber das haben Sie ja gerade bezweifelt.
    Annen: Genau, wenn man sich die Entwicklung der letzten Monate anschaut, auch die Anzahl der Richter und Staatsanwälte, die nach dem Putsch aus dem Justizdienst entfernt worden sind, so kann man glaube ich ohne Übertreibung davon ausgehen, dass der Einfluss der Regierung doch beträchtlich ist. Und deswegen richtet sich unser Appell sowohl an die Justiz als auch an die politischen Kräfte in Ankara, Herrn Yücel möglichst schnell jetzt auf freien Fuß zu setzen.
    "Eine Rekordzahl von Journalistinnen und Journalisten in Haft"
    Heinemann: Welche politischen Ziele vermuten Sie hinter den Ermittlungen gegen Deniz Yücel?
    Annen: Ja, man muss natürlich ein bisschen vorsichtig sein, aber wenn man sich die politische Lage anschaut: Das Land ist in einer polarisierten Situation, in wenigen Wochen soll das Referendum, das Verfassungsreferendum stattfinden, das ja Herrn Erdogan noch stärkere Machtbefugnisse dann zubilligen sollte. Und die Opposition ist de facto nicht in der Lage, für das Nein eine Wahlkampagne zu organisieren wegen der Einschüchterung, weil es keine De-facto-Pressefreiheit heute mehr gibt. Es ist eine Rekordzahl von Journalistinnen und Journalisten in Haft, es sind Kolleginnen und Kollegen von mir, vor allem der prokurdischen HDP-Partei verhaftet worden, zum Teil sogar ihrer Mandate enthoben worden. Das ist eine politische Situation in einem Land, das ja immerhin noch formal Mitglied der Europäischen Union werden möchte, die sehr, sehr besorgniserregend ist. Man kann auch sagen: Die Türkei geht mit Siebenmeilenstiefeln sozusagen in Richtung Diktatur. Und wir müssen nur hoffen, dass sich die Kräfte in der Politik, in der Zivilgesellschaft, aber auch in der Justiz zu Wort melden, dass sie sich durchsetzen werden, aber im Moment sieht es ziemlich bitter aus.
    Heinemann: Herr Annen, halten Sie ein türkisches Erpressungsmanöver für möglich – Freiheit für Deniz Yücel gegen die Auslieferung mutmaßlicher Gülen-Anhänger?
    Annen: Eine solche Forderung ist mir nicht bekannt und es wird auch deswegen nicht funktionieren, weil die Bundesregierung nicht erpressbar ist.
    Heinemann: Sind Sie sicher?
    Annen: Ich bin mir da ganz sicher und Sie haben ja auch die Äußerung von Bundesaußenminister Gabriel, von Justizminister Maas und auch der Bundeskanzlerin gesehen, die ja in sehr klaren Worten und, ich würde mal sagen: für die Bundeskanzlerin ungewohnter Klarheit diese Entscheidung der türkischen Justiz verurteilt haben. Nein, Deutschland ist nicht erpressbar. Wir sind in einer Situation, in der wir mit der Türkei gerade in schwierigen Zeiten natürlich reden müssen, aber es kommt darauf an, eben auch Klartext zu reden. Das ist in den letzten zwei Tagen glücklicherweise geschehen.
    Lage der Flüchtlinge in der Türkei mitbedenken
    Heinemann: Reden ist das eine. Dietmar Bartsch von der Linkspartei twittert jetzt: Mit dieser Türkei paktiert man nicht. Richtig?
    Annen: Ja, ich weiß nicht ganz genau, was Herr Bartsch meint, ich habe eine Ahnung …
    Heinemann: Ja, vielleicht das Flüchtlingsabkommen.
    Annen: Ja, ich persönlich bin der Meinung, bei allem Verständnis für die Empörung, die ich ja auch empfinde, ich habe unter anderem mit Herrn Bartsch zusammen einen Brief an den türkischen Botschafter unterzeichnet, in dem wir uns für die Pressefreiheit und für die Freiheit von Herrn Yücel eingesetzt haben. Nur, bei der sogenannten Vereinbarung mit der Türkei über die Flüchtlingsfrage geht es darum, dass die über zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei weiterhin gut behandelt werden; wenn man diese beiden Dinge miteinander vermischt, dann hilft man glaube ich weder den Beziehungen zur Türkei noch den Menschen, die in der Türkei auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
    Heinemann: Um den Preis, so sagen die Kritiker, eben einer Erpressbarkeit Deutschlands.
    Annen: Ja, worin sollte die Erpressbarkeit liegen? Herr Erdogan …
    Heinemann: Ja, dass zum Beispiel mehr Flüchtlinge kommen.
    Annen: Ja, Herr Erdogan kündigt das alle paar Wochen einmal an, geschehen ist bisher nichts. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Vereinbarung sowohl im europäischen als auch im türkischen Interesse ist. Ich sehe das mit großer Gelassenheit. Wenn die Türkei sich tatsächlich entscheiden sollte, diese Vereinbarung aufzukündigen, dann kündigt sie sie eben auf. Wir sind nicht erpressbar, wir setzen uns für die Freiheit von Herrn Yücel ein, wir setzen uns für die Medien- und Pressefreiheit in der Türkei insgesamt ein und die Türkei muss wissen: Es handelt sich in diesem Fall um einen deutschen Staatsbürger. Wir werden all die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, die rechtlichen, aber eben auch die politischen Möglichkeiten nutzen, um die Freiheit zu erwirken, und wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen. Insofern muss niemand die Sorge haben, dass es hier ein Druckpotenzial gegenüber der Bundesregierung geben kann.
    "Ich bin gegen einen Auftritt von Herrn Erdogan"
    Heinemann: Stichwort "nicht erpressbar", machen wir die Probe aufs Exempel: Sollte Erdogan für sein Referendum in Deutschland werben dürfen?
    Annen: Auch da müssen wir sehr genau darauf achten, wie wir uns jetzt verhalten. Ich bin gegen einen Auftritt von Herrn Erdogan, gerade in einer Situation, wo er ja Wahlkampf in Deutschland machen möchte, für dieses Referendum und die Opposition in seinem eigenen Land aufgrund der Repression nicht in der Lage ist, Wahlkampf zu machen. Das passt nicht zusammen. Aber wir müssen auch aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es gibt Versammlungs- und Pressefreiheit, Meinungsfreiheit in Deutschland und die gilt auch für ausländische Staatsbürger. Wir sollten also nicht Erdogan ein Argument quasi frei Haus liefern, das da lauten würde, Deutschland diskriminiert einseitig türkische Staatsbürger, aber die politische …
    Heinemann: Darum geht es doch vielleicht gar nicht. Darf man in Deutschland Reklame für Diktatur machen?
    Annen: Man darf sich in Deutschland äußern, auch zu abwegigen Meinungen, das ist ein Teil unserer Freiheit. Und deswegen, wenn Sie mich fragen: Sollte Herr Erdogan auftreten?, dann sage ich: Nein, er sollte nicht auftreten, er sollte erst dann auftreten dürfen, wenn die Chancengleichheit in seinem Land gewährleistet ist. Das ist nicht der Fall. Aber die Frage: Sollten wir den Auftritt verbieten? Da bin ich vorsichtiger, weil wir dann möglicherweise eine Freiheit einschränken, die wir selber verteidigen wollen. Diesen Widerspruch müssen wir aushalten.
    Heinemann: Wobei dann Kritiker sehr schnell wieder mit dem Argument der Erpressbarkeit kommen werden, aber das haben wir jetzt schon diskutiert. Sie haben gerade eben, Herr Annen, die deutlichen Worte der SPD gelobt. Der designierte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat zu einem möglichen Auftritt von Erdogan gesagt, er sei zwar willkommen wie jeder andere Vertreter benachbarter und befreundeter Staaten auch, vorausgesetzt, er halte sich an die demokratischen Regeln des partnerschaftlichen Umgangs in und mit einem demokratischen Rechtsstaat, ohne Wenn und Aber. Können Sie uns entschlüsseln, was Martin Schulz meint?
    Auf einen möglichen Auftritt Erdogans politisch reagieren
    Annen: Ja, Martin Schulz meint genau dasselbe, was ich auch eben dargestellt habe, dass wir ein Land sind, das stolz ist auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber wir haben natürlich auch Gesetze, die sie einschränken in dem Augenblick, wo sozusagen Äußerungen und Aufrufe zulasten der Freiheit anderer gehen. Das muss Herr Erdogan auch wissen.
    Heinemann: Das ist doch erwartbar.
    Annen: Ja, aber die Justiz in Deutschland und unser Rechtsverständnis gibt ja nicht vor, dass wir aufgrund eines Verdachtes einen Auftritt absagen oder unterbinden. Ich glaube, wir müssen dort gelassen mit umgehen, wir haben eine klare Haltung formuliert und wir sollten uns auch selber nicht kleiner machen, als wir sind. Wir sind stolz auf unsere Versammlungsfreiheit und auf die Meinungsfreiheit in Deutschland, das ist doch gerade der Unterschied zu dem, was Herr Erdogan macht. Und insofern: Ich wünsche mir diesen Auftritt nicht, aber wenn er stattfindet, dann sind wir stark genug als Demokratie, darauf auch politisch zu reagieren. Und wenn Herr Erdogan in seinen Äußerungen deutsche Gesetze missachten oder übertreten sollte, dann wird das Konsequenzen haben. Ihn darauf hinzuweisen, da hat Martin Schulz vollkommen recht, ist der richtige Weg.
    Heinemann: Aber kommt diese Gelassenheit bei vielen Menschen nicht als Schwäche des Rechtsstaats an?
    Annen: Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Denn wir wollen doch auch nicht, dass politisch in Deutschland darüber entschieden wird, wer sich wann wo versammeln kann. Das ist ja nun gerade Teil sozusagen des demokratischen Rechtsstaates. Aber ich glaube, es ist eben wichtig, dass wir das Gespräch jetzt nicht nur auf der Spitzenebene führen, sondern wir müssen die Diskussion suchen. Wir haben viele wahlberechtigte Menschen, die eine deutsche und türkische Staatsbürgerschaft in Deutschland haben, die sind Teil unserer Gemeinschaft, die genießen hier Versammlungs- und Redefreiheit und wir sollten möglichst dafür sorgen, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass das Nein möglichst stark wird und dass dieses Referendum eine Niederlage erleidet.
    "Zustimmung für AKP ist in Deutschland höher als in vielen Teilen der Türkei"
    Heinemann: Wie erklären Sie es sich, Herr Annen, dass Erdogan unter den Türken, die hier in Deutschland leben, teilweise in zweiter, dritter Generation, viel Zuspruch findet?
    Annen: Ja, das ist durchaus für uns auch kein besonders gutes Zeugnis, das uns dort ausgestellt wird, Sie haben recht. Die Zustimmung für die AKP, also für die Partei von Herrn Erdogan, ist in Deutschland höher als in vielen Teilen der Türkei. Ich glaube, das zeigt auch, dass wir trotz der ganzen Bemühungen der letzten Jahre und Jahrzehnte weiterhin Integrationsdefizite in diesem Land haben und dass es vielleicht auch zu wenig Diskussion, zu wenig Gespräche gegeben hat zwischen den Vertretern eben dieses Teils der Bevölkerung und der deutschen Politik. Wir müssen dort in diese Debatte eintreten, die ist nicht ganz einfach, die ist sogar schwierig und ich glaube, dass wir manchmal auch zu wenig Verständnis für die Entwicklung in der Türkei aufgebracht haben. Es gibt ja Gründe dafür, dass Präsident Erdogan so populär ist, und die liegen vor allem im wirtschaftlichen Aufschwung, der unter seiner Präsidentschaft und seiner Zeit als Ministerpräsident eben weite Teile der Türkei erreicht hat, die vorher unterentwickelt waren. Und das sind genau die … Das sind sozusagen genau die Gegenden, aus denen sehr, sehr viele Migranten aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind.
    Heinemann: Was heißt das für die Verhältnisse hierzulande? Kann man gleichzeitig für die Diktatur eventuell mit Todesstrafe demonstrieren und Bürgerin und Bürger der freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik sein?
    Annen: Ja, wir haben hier in Hamburg, wo ich wohne, regelmäßig Versammlungen, Demonstrationen für alle möglichen politischen Entwicklungen. Wir haben Gesetze, die für alle gelten. Die gelten für Sie, die gelten für mich und die gelten für Menschen, die hier bei uns leben. Darauf werden wir achten und wir werden diese Gesetze durchsetzen. Aber wir werden nicht politische Vorgaben machen und damit selber sozusagen ein Grundrecht einschränken, auf das wir sehr stolz sind. Das würde übrigens auch unsere Glaubwürdigkeit im Gespräch in diesem Fall mit der türkischen Regierung doch unterminieren, weil uns ja vorgehalten würde: Ihr kritisiert etwas, was ihr letztlich in Deutschland auch praktiziert! Nein, deswegen, glaube ich, ist das der falsche Weg. Aber wir werden – darauf kann sich jeder verlassen – unsere Gesetze durchsetzen, notfalls eben auch mit den staatlichen Mitteln, über Polizei und Staatsanwaltschaften, die uns dazu zur Verfügung stehen.
    Heinemann: Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Annen: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.