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Realismus des Sterbens

Andreas Dresen begleitet in seinem neuen Spielfilm, "Halt auf freier Strecke", einen Mann beim Sterben: von der Diagnose Hirntumor über die Klinik bis zum letzten Atemzug. Es ist kein Dokumentarfilm, und doch zeigt dieser Film, warum Andreas Dresen eine Ausnahmefigur unter den Regisseuren ist.

Von Josef Schnelle |
    "Also, das ist ein Tumor, der von seiner Lokalisation in einem Gebiet, wo sehr, sehr wichtige Hirnfunktionen sind. Wenn man da operieren würde, das würde zu schlimmen Auswirkungen führen. Das ist sozusagen noch eins drauf, die schlimmere Variante."

    Eine Szene wie ein Keulenschlag. Ganz sachlich trägt der Arzt die Diagnose vor. Frank wird nur noch wenige Monate zu leben haben. Kein Zweifel. Simone - Franks Ehefrau - fragt noch: "Soll man es den Kindern sagen." Das Gespräch wird unterbrochen durch einen Telefonanruf. Ganz kurz beschäftigt sich der Arzt mit einem anderen Fall. Simone und Frank schauen sich an. Ratlos. Und dann sind sie allein mit dem frühen Todesurteil für den 44-jährigen Frank Lange. Auch mit den Folgen, die das für ihr Leben im eben erst gekauften Reihenhaus am Berliner Stadtrand mit zwei halbwüchsigen Kindern nun haben wird. Andreas Dresen hält sich nicht lange auf mit Reflexionen über die Ungerechtigkeit des Todes. Als Zuschauer begreift man zunächst nicht, wieso diese Szene so außergewöhnlich ist. Die Lösung ist jedoch ganz einfach. Andreas Dresen hat einfach einen Arzt, dessen tägliche Arbeit es ist, solche Gespräche zu führen, gebeten, diese Szene ohne Drehbuchvorgabe zu spielen. Ihm war aufgefallen, dass der Krebstod im normalen Spielfilm alles andere als realistisch dargestellt wird.

    "Was ich vor allen Dingen bei den Filmen, die ich geschaut habe, vermisst habe war eine alltägliche Darstellung. Was bedeutet das Sterben, das Sterben eines lieben Menschen für alle Beteiligten wirklich und zwar ohne alle dramaturgischen Ausflüchte."

    "Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich nen Hirntumor habe." - "Worum geht's denn die ganze Zeit." - "Bin sehr, sehr krank." - "Um deinen Tumor. Ja ist ja klar, dass du irgendwann sterben musst." - "Aber ich muss weitermachen. Ich muss die ganze Scheiße weitermachen."

    Streit und Verletzungen gehören dazu, ebenso wie zärtliche und sogar humorvolle Elemente. Andreas Dresen, letzter Spross der Ostberliner DEFA-Studios, noch ausgebildet an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, beschreibt mit bewundernswerter Konsequenz, wie einer stirbt. In allen Stadien und mit allen Details. Ein erbarmungslos realistischer Film, der keine Tabuzone gelten lässt. Schritt für Schritt verfällt Frank Lange. Bald kann er sich kaum noch rühren. Chemotherapie und Morphium schwächen ihn. Die Familie versucht so lange es geht, den Alltag aufrecht zu erhalten. Andreas Dresen besann sich für diesen Film seiner Methode des improvisierten Realismus. Mit einem kleinen Team und den Schauspielern zog er in das Haus, in dem die Dreharbeiten stattfinden sollten. Szene für Szene hat man dort am Küchentisch den Film entwickelt. Andreas Dresen:

    "Das ist nicht einfach zu improvisieren für einen Schauspieler weil quasi das Geländer, an dem er sich sonst festhalten kann, der Dialog, der geschriebene Drehbuchtext, den man vorher lernen kann, wegfällt. Den hat er ja nicht. Er kommt genauso wie ich und alle Beteiligten an den Drehort. Man hat häufig das Gefühl, man betritt einen dunklen Raum und man weiß nicht so richtig, wie man da wieder raus findet. Man muss dann gemeinsam auf die Suche gehen. Dieser Prozess, dieses Prozesshafte das ist für mich häufig etwas Beglückendes."

    "Halt auf freier Strecke" ist ein beeindruckender Film, vielleicht der beste deutsche Film des Jahres. Ganz sicher ist das der Methode Dresens zu verdanken, die nur er beherrscht und die eine offene filmische Untersuchung des menschlichen Lebens ist, das er beschreibt.

    "Den Prozess des Suchens kann man sehr gut in den Mustern für so einen Film sehen, wo zwischen dem ersten Take und dem letzten Take häufig ein himmelweiter Unterschied ist. Manchmal fängt man nach dem ersten Take an zu überlegen, warum etwas nicht stimmt. Dann wechselt man das Kostüm, dann wechselt man das Licht, dann wechselt man das Arrangement, die Art, wie es gefilmt wird. Am Schluss werden andere Worte gesagt. Eine Szene verändert sich teilweise in extremem Maße durch diesen Prozess des gemeinsamen Suchens."

    Aus 80 Stunden Material wurde "Halt auf freier Strecke" schließlich zu einem meisterlichen Film montiert. Im deutschen Kino ist Andreas Dresen mit seinen filmischen Methoden und seinem interessierten Blick auf die Extremzonen der Wirklichkeit ein Einzelfall. Niemand außer ihm vermag es derzeit, solche dichte und packende realistische Filme zu drehen.