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Rechenaufgabe: Die Kanzlermehrheit

Breker: Am Telefon begrüße ich nun Professor Heinrich Oberreuter, Politologe und Leiter der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Guten Tag, Herr Oberreuter.

    Oberreuter: Guten Tag Herr Breker.

    Breker: Herr Oberreuter, es geistern viele Mehrheiten durch die Lande. Zählen ist schwierig, aber welche Mehrheit ist denn die wichtige?

    Oberreuter: In dem Fall die einfache Mehrheit. Das heißt im Klartext: der Antrag ist gestellt, eine Mehrheit der Abgeordneten muss zustimmen. Die Kanzlermehrheit, also die absolute ist gleich die Hälfte der Mitglieder des Bundestages, plus eine Stimme - die braucht man in diesem Fall nicht.

    Breker: Das heißt in diesem Fall, wo also acht Grünen-Abgeordnete und vier von der SPD gesagt haben, sie würden dagegen stimmen, heißt es, der Kanzler hat die einfache Mehrheit im Bundestag aus eigener Kraft nicht?

    Oberreuter: Na ja, er hat sie mit Unterstützung der Opposition. Die Opposition ist aber selber in einer gewissen Zwickmühle, denn sie unterstützt ja die Politik des Kanzlers, die Außenpolitik des Kanzlers, und verhilft ihm somit zur parlamentarischen Mehrheit, die er braucht. Die Verfassung unterscheidet ja sozusagen fraktions- und parteipolitisch nicht. Klar ist, die Mehrheit kommt nicht durch die Koalition zustande. Das ist richtig.

    Breker: Wir haben eben gehört, die Vorsitzende der CDU nennt dies und die FDP nennt dies ebenfalls - ein Kanzler, der in dieser außenpolitischen Frage, die ja nicht ganz unwichtig ist, sozusagen einer Minderheitenregierung vorstehe.

    Oberreuter: Er wird in dieser Frage toleriert durch die Opposition. Er hat im Grunde zwei Regierungsinstrumente. Ich sage es mal ganz grob: für die Innenpolitik die rot-grüne Koalition und für die Außenpolitik Rot-Grün zu großen Teilen. Selbstverständlich zu überwiegenden Teilen flankierend unterstützt durch die Opposition. Das ist eine hochinteressante Kombination, die natürlich in den Bilderbüchern für das parlamentarische Regierungssystem so nicht vorkommt.

    Breker: Es handelt sich hierbei ja nicht um eine unbedeutende Frage der deutschen Außenpolitik. Würde es für den Kanzler Sinn machen, diese im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage zu behandeln.

    Oberreuter: Das wäre eine Verfahrensmöglichkeit. Die Möglichkeit ist allerdings sehr riskant, denn so wie die Abweichler sich gegenwärtig artikulieren, wäre wahrscheinlich damit zu rechnen, dass sie überwiegend bei ihrer Ablehnung bleiben. Und das Zweite was man sagen muss, ist, dass in dem Moment in dem die Vertrauensfrage mit der Sachentscheidung verbunden wird, die Opposition natürlich einen guten Grund hätte, sich abstinent zu verhalten und ihre Unterstützung zu entziehen. Insofern wäre dann das Amt in Gefahr.

    Breker: Die Kanzlermehrheit in Sachen Außenpolitik, zumindest was den Bundeswehreinsatz im Zusammenhang mit der Anti-Terror-Bekämpfung zu tun hat, ist verloren gegangen - so sieht es zumindest im Moment aus. Hat es so etwas in der Geschichte der Republik schon einmal gegeben und wie lange kann man damit leben?

    Oberreuter: Man kann natürlich die ganze gegenwärtige Situation nicht beurteilen ohne die Legislaturperiode im Auge zu haben. Wir haben im Grunde genommen wenn wir Weihnachtspause, Sommerpause und Wahlkampf abziehen mit etwa einem halben Jahr seriösen Regierens zu tun, d.h. im Klartext: Man kann sich ein halbes Jahr lang durchwurschteln mit solch einer Situation. Man könnte aber nicht dauerhaft regieren, auch wenn die Wähler und die Parteien die Innenpolitik wichtiger nehmen als die Außenpolitik. Man braucht aber doch gerade in einer verzwickten Weltlage Verlässlichkeit, und insofern kann das eigentlich nur ein Übergangsstadium sein. Aber es ist ein Übergangsstadion und natürlich kommt noch hinzu, dass wir uns in einem Themenbereich befinden, der in der Geschichte der Bundesrepublik selten so herausfordernd und so wichtig gewesen ist. Man muss es ja eigentlich mit der Wiederbewaffnung, mit der Aufstellung der Bundeswehr, vielleicht auch noch mit den Notstandsgesetzen und ähnlichen Dingen vergleichen, aber so weichenstellende Entscheidungen wie diese hat der Bundestag selten zu fällen gehabt und da wäre natürlich eine gewisse Stabilität der Regierung, eine eigene Stabilität der Regierung, schon sehr von Nöten.

    Breker: Nun bietet sich die FDP, die Freien Demokraten, diesem Kanzler, dieser SPD in Sachen Außenpolitik an. Macht es Sinn zu diesem Zeitpunkt, die Pferde zu wechseln?

    Oberreuter: Es wäre, glaube ich, für beide Parteien im Regierungslager eher ein Nachteil, die Pferde zu wechseln, denn im Grunde würden sie dann am Ende der Legislaturperiode bestätigen, was man am Anfang ja vermutet hat: dass sie eigentlich in dieser Konstellation nicht regierungsfähig ist. Wer seine Mehrheit und seine Regierungskraft über den Wahltermin 2002 verteidigen will, sollte eigentlich ein ureigenes Interesse haben, dieses Ufer zu erreichen, wobei man ohnehin nicht genau weiß, was nach dieser Bundeswahl sein wird, denn was wir jetzt außenpolitisch erleben, hat natürlich immense innenpolitische Konsequenzen, speziell für die Verhältnisse im grünen Lager und speziell natürlich auch für das Verhältnis zwischen grüner Abgeordnetenschar und ihrer Wähler und Regionalbasis. Die Gefahr ist also recht groß, dass die Grünen, die ja mehrheitlich nun doch zustimmen werden, sich regionale Konflikte antun werden und dass die Wählerbasis weg schwimmt, und dann eben nicht zur SPD sondern zur PDS. Das wäre eine hochinteressante Konstellation für 2002 im Herbst.

    Breker: Vielleicht noch ganz kurz zum Schluss, Herr Oberreuter: Würde es Sinn machen, die Wahlen vorzuziehen?

    Oberreuter: Ich denke eigentlich, dass eine der Möglichkeiten, mit der der Kanzler spielen könnte, in der Tat wäre, die Wahlen vorzuziehen, indem er die Dinge mit der Vertrauensfrage verbindet. Sie hatten vorher nach der Geschichte gefragt: In der Geschichte der Bundesrepublik gab es so ernste Probleme ganz selten, wo erstens die Vertrauensfrage gestellt worden ist und zweitens eine Koalitionsfraktion ausgeschert ist - das gab es eigentlich nur beim Röhrenembargo -, aber Schröder könnte der Versuchung erliegen, doch noch die Vertrauensfrage, vielleicht gekoppelt mit einer ganz anderen oder weitergehenden Thematik im außenpolitischen Bereich, zu stellen. Der Vorteil für ihn wäre: Die Opposition ist gegenwärtig ganz unaufgestellt, sie hat riesengroße innere Probleme, sie hat keine Führungsmannschaft, sie hat keinen Kanzlerkandidaten und wäre in eine große Verlegenheit gebracht, wenn im Februar oder März gewählt werden würde. Also, damit könnte man rechnen, aber ich glaube nicht, dass Schröder damit rechnet.

    Breker: Vielen Dank. Das war in den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk Professor Heinrich Oberreuter. Danke für dieses Gespräch.