Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Recht auf Vergessenwerden
"Man muss im Einzelfall prüfen"

Der Medienrechtler Thomas Hoeren hat die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf Vergessenwerden als Stärkung der Pressefreiheit bezeichnet. Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen hätten nicht "absolut Vorrang vor den Belangen der Presse", sagte Hoeren im Dlf.

Thomas Hoeren im Gespräch mit Henning Hübert | 28.11.2019
Ein von Pflanzen umranktes und eingewachsenes Fahrrad steht an einem Zaun angelehnt am Straßenrand
Das Bundesverfassungsgericht hat das "Recht auf Vergessenwerden" im Netz gestärkt (picture alliance/dpa/Peter Kneffel)
Henning Hübert: Was muss sich nun ändern für Medienarchive wie zum Beispiel vom Spiegel, Spiegel Online oder dem Zeit-Archiv?
Thomas Hoeren: Ja, das sind ja zwei Entscheidungen. Und in beiden Entscheidungen hat erstmal das Bundesverfassungsgericht gesagt: Es gibt keinen Vorrang automatisch des Betroffenen, gegen den EuGH. Der EUgH, der Europäische Gerichtshof, hatte gesagt: Wir müssen immer das Persönlichkeitsrecht an oberster Stelle sehen. Das hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt und gesagt, man muss eine umfassende, komplizierte Güterabwägung machen. Und der BGH hat allerdings bei der Güterabwägung versagt.
Hübert: Was muss sich ändern für Medienarchive?
Hoeren: Man muss eingehend prüfen, ob man im Einzelfall vielleicht auf Klarnamen verzichten kann, vor allem bei lange zurückliegenden Fällen. Da bietet sich eher an, anonymisiert Daten vorrätig zu halten. Aber grundsätzlich hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Es ist möglich, auch bei lange zurückliegenden Taten solche Daten zum Zugriff bereitzuhalten.
"Güterabwägung zwischen Grundrechten"
Hübert: Herr Hoeren, Ihre Einschätzung: Ist das Urteil denn dann eine Stärkung der Pressefreiheit? Das sagt zum Beispiel die Organisation Reporter ohne Grenzen. Die begründet es so, weil nach dem Urteil der Schutz des Persönlichkeitsrechts nicht grundsätzlich schwerer wiegt als das Grundrecht auf Pressefreiheit.
Hoeren: Ja, der Europäische Gerichtshof hatte ja gesagt im Fall von Recht auf Vergessenwerden, es gäbe einen grundsätzlichen Vorrang des Persönlichkeitsrechts. Das hat das Bundesverfassungsgericht in beiden Urteilen strikt abgelehnt und ganz sauber argumentiert, man müsse eine Güterabwägung machen zwischen Pressefreiheit, Informationsfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Und bei dieser Güterabwägung muss jedes Grundrecht auf jeden Fall zur Geltung kommen.
Hübert: Im Einzelfall wird dann immer geprüft werden oder kann man dann auch als Medienhaus aktiv werden?
Hoeren: Man muss im Einzelfall prüfen, wie schwer ist die Straftat, die in den Archiven noch erwähnt ist? Wie lange ist der Fall zurück? Was macht der Betroffene jetzt? Wie ist das Archiv aufgebaut? Alle diese Einzelumstände fließen jetzt in die Verfassung mit ein. Und es ist auf jeden Fall klar, der Betroffene hat nicht absolut Vorrang vor den Belangen der Presse.
"Keine Grenzen mehr zwischen Privatsphäre und sozialer Sphäre"
Hübert: Taucht das Problem eigentlich erst auf, wenn einige Presseartikel den vollen Namen nennen? Also vom erweiterten Suizid beim Germanwings-Absturz bis zum Attentäter von Halle? Oder befassen Sie sich auch in Ihren Fällen als Medienrechtler mit der Entfernung voller Namen aus Chats, Postings oder Newslettern?
Hoeren: Ich finde einen Satz sehr bemerkenswert des Bundesverfassungsgerichts und der wird meistens nicht berichtet, in einer Randbemerkung sagen die: Im Zeitalter des Internets gibt es keine Grenzen mehr zwischen Privatsphäre und sozialer Sphäre. Weil alle Daten, die man reinstellt ins Netz, verletzen automatisch auch die Privatsphäre. Und deshalb müsse man im Internet ganz besonders vorsichtig sein. Und das heißt eben, Vorsicht auch mit Klarnamen. Man kann schon viel bewirken, wenn man die Klarnamen wegnehmen würde. Dann wäre schon einiges erreicht.
Hübert: Also auch für Sie eine Stärkung der Pressefreiheit?
Hoeren: Absolut. Und vor allem der Satz in beiden Entscheidungen, der Leitsatz, der da heißt: Die Persönlichkeitsrechte sind nicht absolut vorrangig immer zu prüfen, sondern es kommt auf eine Güterabwägung an zwischen der Pressefreiheit, Informationsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht. Aber nicht alleine Persönlichkeitsrecht.
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