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Rechte Gewalt
Lücken in offizieller Statistik zu Todesopfern

Die Zahl der Todesopfer durch rechte Gewalt soll Medienberichten zufolge doppelt so hoch sein wie bisher von offizieller Seite angegeben. Die meisten Bundesländer zögerten demnach oft, mutmaßlich rassistische und andere rechte Angriffe als politisch motivierte Taten einzustufen.

Von Volker Finthammer | 27.09.2018
    In der Hamburger Schützenstraße erinnert neben einem Gedenkstein auch ein Stern mit einem kleinen Porträtfoto an den Gemüsehändler Süleyman Tasköprü, der hier von den Rechtsterroristen des NSU erschossen wurde
    In der Hamburger Schützenstraße erinnert neben einem Gedenkstein auch ein Stern mit einem kleinen Porträtfoto an den Gemüsehändler Süleyman Tasköprü, der hier von den Rechtsterroristen des NSU erschossen wurde (Deutschlandradio/ Axel Schröder)
    Erst nach der späten Aufklärung der NSU Morde sind sich die zuständigen Behörden darüber bewusst geworden, dass in der polizeilichen Aufklärungsarbeit vielfach Tötungsdelikte eher kriminellen oder persönlichen Motiven zugeschrieben wurden, anstatt den tatsächlichen rassistischen oder fremdenfeindlichen und damit politisch motivierten Hintergründen.
    So hat etwa das Bundeskriminalamt erst im vergangenen Jahr eine erweiterte Definition politisch motivierter Kriminalität in Kraft gesetzt, die versucht ein breites Spektrum von der politischen Orientierung bis zu sexuellen Identität, und zum äußeren Erscheinungsbild der Opfer zu erfassen und damit auch erkennen zu können.
    Langzeituntersuchung des Tagesspiegels und Zeit Online
    Der Berliner Tagespiegel versucht im Verbund mit anderen Zeitungen in einer Langzeituntersuchung seit der Jahrtausendwende die Zahlen rechter Gewalt zu erfassen und spricht in einem heute vorlegten Zwischenbericht von mindestens 169 Todesopfer rechter Gewalt seit dem Jahr 1990.
    Dazu kommen 61 weitere bislang ungeklärte Verdachtsfälle in den Menschen zu Tode kamen und der Tagesspiegel beruft sich dabei wesentlich auf die neue Definition politisch motivierter Gewalt durch das Bundeskriminalamt.
    Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht.
    Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. (imago stock&people)
    Diese Zahlen liegen aber weit über denen, die die Bundesregierung im vergangenen Juni in einer kleinen Anfrage der Linken Politikerin Petra Pau veröffentlich hat. Darin spricht Innenstaatssekretär Stephan Maier von 83 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990.
    Bundesländer stufen Angriffe nur zögerlich als politisch motivierte Taten ein
    Die Bundesregierung bezieht ihre Zahlen aus der Polizeistatistik der Länder. Die weise, so der Tagesspiel, jedoch erhebliche Unterschiede aus. Die meisten Bundesländer würden mutmaßlich rassistische und andere rechte Angriffe nach wie vor nur zögerlich als politisch motivierte Taten einstufen.
    In Sachsen Anhalt, in Brandenburg und in Berlin wurden in den vergangenen Jahren Korrekturen an der Polizeistatistik vorgenommen und danach weitere 19 Todesfälle als politisch motivierte Taten von Rechts deklariert.
    Anlass war auch hier das Erwachen nach den NSU Morden, den in all den Jahren zuvor auch die politische Motivation abgesprochen wurde und für die meist kriminelle oder persönlichen Motive zugrundgelegt wurden.
    Die Aufarbeitung alter Polizeistatistiken steht in mehreren Bundesländern noch aus. Auch im Thüringer Landtag soll jetzt ein entsprechender Beschluss gefasst werden, mit wissenschaftlicher Hilfe die Altfälle erneut zu prüfen.
    Die Langzeitstudie des Tagespiegel erhärte den Verdacht, dass es bei Polizei und Justiz nach wie vor Probleme gebe, die Motive rechter Gewalt zu erkennen, schreiben die Autoren.
    Außerdem kritisieren sie, dass in vielen anderen Bundesländern noch der politische Wille fehle, die umstrittenen Altfälle erneut zu prüfen und dadurch ein realistisches Bild rechter Gewalt in Deutschland zu zeichnen.