Thierse: Guten Morgen Frau Durak.
Durak: Herr Thierse, ein wofür hat auch immer ein wogegen oder dagegen. Welches Signal soll von dieser Demonstration ausgehen?
Thierse: Ich hoffe ein sehr überzeugendes, aber zugleich einfaches Signal. Die Bürger dieses Landes zeigen, dass sie Demokratie und Humanität und Toleranz verteidigen und dass sie gewissermaßen öffentlich dokumentieren, dass das ihre Sache ist und nicht nur Sache derer da oben, der Profis, der Politiker, der Polizei, der Justiz, sondern eben Sache der Bürger.
Durak: Sie sagen "die Bürger". Es sind nicht alle, Herr Thierse.
Thierse: Gewiss können es nicht alle sein, aber wenn es hinreichend viele sind, wenn wir zeigen, das sind nicht nur ein paar hundert und ein paar tausend, sondern doch sichtbar viele, dann ist genau dem Genüge getan zu zeigen, dass eine Mehrheit in diesem Lande, eine riesige Mehrheit für ein anständiges, tolerantes, ausländerfreundliches, menschenfreundliches Land einsteht.
Durak: Sie sagen, die Bürger wollen zeigen und sollen auch zeigen, und Sie meinen, dass sie es zeigen werden, dass nicht nur die da oben sich dafür entscheiden, in diesem Fall zu repräsentieren. Es gibt diesen Vorwurf aber schon an diese Demonstration, es würde ein Betroffenheitsritual vollzogen. Was halten Sie dagegen?
Thierse: Wissen Sie, das ist ein schäbiger, fast zynischer Vorwurf. Wenn die Gesellschaft schweigt, sich nicht rührt, nicht betroffen ist angesichts von zunehmenden Gewalttaten, von der Ausbreitung dieser braunen Soße über unser Land, wenn da keine Betroffenheit ist, dann wäre mir Angst und Bange um diese Gesellschaft. Wenn da nicht ganz normale anständige Menschen dadurch betroffen sind, dass wir in den letzten Jahren und in den letzten Monaten ausländerfeindliche Übergriffe hatten, Gewalt gegenüber Menschen, die Ausländer sind, die Behinderte sind, die Schwache sind, wenn da keine Betroffenheit sichtbar würde, dann fände ich es schändlich.
Durak: Für Menschlichkeit, für Toleranz, das heißt gegen Unmenschlichkeit, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Intoleranz. Wer ist gemeint, die jugendlichen Glatzköpfe, die Holzköpfe sage ich mal, oder die Schweiger?
Thierse: Natürlich richtet sich das zunächst einmal gegen diejenigen, die ausländerfeindliche Ideologie predigen, einen neuen Rechtsextremismus sowohl denkerisch wie handelnd auszubreiten versuchen. Man muss ja wissen, das Kernstück der rechtsextremistischen Ideologie ist die Theorie von der Ungleichwertigkeit der Menschen. Wir hatten das in Deutschland schon mal mit den entsetzlichsten Wirkungen der Weltgeschichte. Deswegen sind wir in Deutschland verpflichtet, mehr als in jedem anderen Land Menschen verpflichtet sind, sich gegen diese Anfänge zu wehren. Es richtet sich zugleich - das will ich auch sagen - dagegen, dass Menschen meinen, ja, das ist alles nicht in Ordnung, das ist nicht schön, das gefällt mir nicht, sie schütteln den Kopf, aber es folgt daraus nichts, weil sie sagen, dafür sind jeweils andere zuständig, aber Indem wir miteinander zeigen, für den Zustand unserer Gesellschaft, für die Geltung von menschlichem Anstand in dieser Gesellschaft sind die Bürger des Landes insgesamt zuständig, nicht nur ein paar Professionelle, die gewissermaßen gewählt oder verbeamtet dafür zuständig sind.
Durak: Herr Thierse, die Schweiger, diese Tolerierer der Gewalt, der alltägliche Rassismus, woher kommt das?
Thierse: Dafür gibt es nun vielfältige Ursachen. Wenn ich sie auf eine kurze Formel reduzieren darf, dann ist es eine Verbindung von Ängsten, Überforderungsängsten und Vereinfachungsbedürfnissen. Wir leben tatsächlich in einer sich dramatisch verändernden Welt, wenn man die Stichworte nennen darf wie Globalisierung, die Informationstechnologien, die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen, die dramatische Veränderung der Arbeitswelt, der sozialen Realität, dass viele Menschen dort Angst haben und fürchten, unter die Räder zu kommen, dass sie sehen, das ist ja ein Überhang an Problemen. Die Welt ist so komplex, dass das Überforderungsängste hervorruft und ein immer im Menschen vorhandenes Vereinfachungsbedürfnis stärkt, Menschen damit also empfänglich macht für diese so entsetzlich einfachen Botschaften nach dem Motto "die Ausländer sind schuld, dass ich arbeitslos bin". Wir müssen die Nation stärken, Nationalismus pflegen gegen diese Tendenz der Globalisierung. Das ist jedenfalls ein Mechanismus, der erklärbar ist, aber weil er erklärbar ist, ist er ja nicht zu rechtfertigen.
Durak: Warum finden wir dies auch und vor allem in den ostdeutschen Bundesländern?
Thierse: Das hat eben damit zu tun, dass es zum einen in Ostdeutschland eine Vorgeschichte aus SED-Zeiten gibt. Da hat es immer auch Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Intoleranz gegeben. Da schleppen viele Ostdeutsche eine autoritäre Erbschaft aus SED-Zeiten mit sich. Wenn man nie hat lernen können, wirklich Konflikte auszutragen, selbstbestimmt zu handeln, den Umgang mit fremdem, mit Differenzen, mit Gegensätzen, dann wirkt das nach. Aber vor allem auch die letzten zehn Jahre waren für die Ostdeutschen eine Zeit dramatischer Umwälzung, wo nicht alle erfolgreich gewesen sind, sondern nur ein Teil wirklich erfolgreich war und andere tief verängstigt, sozial verunsichert worden sind bis hin zu Phänomenen der moralischen Entwurzelung. Wenn man sieht, dass Bildungsinstitutionen, eine Bildungsideologie ersatzlos fast weggefallen ist und die Freiheit nun sich auch erweist in ihrer Kälte, in ihrer Orientierungslosigkeit, dann kann man verstehen, dass eine Mischung aus Unzufriedenheit, tiefer Verärgerung, Orientierungssuche dazu führt, dass Menschen nicht einverstanden sind, schweigen, verunsichert sind, manche sich eine neue ideologisch-politische Heimat suchen. Gerade bei jungen Leuten wird auch das Orientierungsbedürfnis, das Beheimatungsbedürfnis sichtbar, das - ich sage es noch einmal - das Vereinfachungsbedürfnis von den rechten Ideologen befriedigt, die ja zum größten Teil nicht aus Ostdeutschland kommen, sondern aus dem Westen Deutschlands, aus Österreich, die dort aber einen fruchtbaren Boden entdeckt haben, wo sie wirken können.
Durak: Herr Thierse, Sie kommen ja aus dem Osten. Tut Ihnen das weh, dass Eltern, Verwandte so sehr versagen ihren Kindern gegenüber?
Thierse: Natürlich muss das weh tun. Reden wir über Familie, aber reden wir auch über die Schwierigkeiten, die es in der Schule gibt, die Schwierigkeiten in einer Gesellschaft, die Freiheit anbietet, aber innerhalb dieser Freiheit so wenig Orientierungspunkte vermittelt, so wie es subjektiv von vielen erfahren wird. Wenn man dann noch weis, dass diese DDR-Geschichte ja auch bewirkt hat, dass manche der großen Orientierungen, die so problematisch und so schwierig auch immer ein bisschen Orientierung und Halt geboten haben, zu DDR-Zeiten kaputt gemacht worden sind oder in ihrer Bedeutung abgeschwächt, zum Beispiel die Kirchen, aber auch andere große Institutionen, dann weis man, wie schwierig das Gelände hier ist. Aber wie gesagt, ich muss betonen: in Ostdeutschland sind die Probleme nur sichtbarer und drastischer, die in ganz Deutschland und in manchen anderen europäischen Ländern auch vorhanden sind.
Durak: Sie gehören zu den Politikern hier in diesem "neuen" Deutschland, die rechtzeitig die Gefahr erkannt haben, weil - das ist nachzulesen - Sie sich schon seit Beginn der 90er Jahre mit dem Problem beschäftigen, mit Rechtsradikalismus, mit Fremdenhass, auch mit Rechtsextremismus. Haben Sie im Laufe dieser Jahre eine Verstärkung dieser Bewegungen festgestellt? Welche Erfahrungen haben Sie bei Begegnungen mit solchen Leuten?
Thierse: Ich glaube ja, es hat zugenommen. Man muss begreifen, dass dieser Rechtsextremismus eben nicht mehr, so wie das in der alten Bundesrepublik gewesen ist oder man der Überzeugung sein konnte, dass es so war, ein parteipolitisch isolierbares Randphänomen der Gesellschaft ist. Im Westen wurden immer mal NPD oder andere Parteien in ein Landesparlament gewählt, und nach vier Jahren waren sie wieder draußen. Man konnte sich einbilden, das seien die alten Herren, natürlich mit ein paar unzufriedenen um sich, die ein Ausdruck eines temporären Protestes waren. Das ist es nicht mehr. Es ist nicht mehr ein isolierbares Randphänomen, sondern es reicht weit in die Gesellschaft hinein. Sie kennen die Umfragen. Ausländerfeindlichkeit ist ein fast selbstverständlicher Teil des Alltagsbewusstseins bei nicht wenigen Leuten. Ich sage nicht bei einer Mehrheit, aber doch bei viel zu vielen. Das hat wiederum mit diesen Ängsten zu tun. Man sieht, dass dieser Rechtsextremismus - man muss es fast so nennen - ein kulturelles Phänomen geworden ist. Die Skinhead-Musik, diese ganze Szenerie ist ein wichtiges Kommunikationsmedium gerade für die jüngeren Leute. Man muss sehen, dass Menschen unsicher sind, was sie tun können, ob sie es tun können, in einem diffusen Ohnmachtgefühl gar nicht mehr bereit sind, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen, zu der sie ein relativ zwiespältiges Verhältnis haben, weil sie in den vergangenen Jahren eben ambivalente Erfahrungen mit der Demokratie, mit der Marktwirtschaft, mit der Freiheit gemacht haben. Das hat die Problematik verändert und sie eben schlimmer gemacht. Man muss auch wissen, dass es einen intellektuellen Teil, wenn man dieses Wort überhaupt in den Mund nehmen darf, dass es eben auch Intelligenz gibt, die auf der rechten Seite ist. Es gibt nicht nur die Glatzen. Es gibt auch die Rechten, die Rechtsextremen, die in Anzügen sind und mit Schlips herumlaufen und die ganz gute und nicht schlechte Texte schreiben. Auch das macht das Phänomen beunruhigender.
Durak: Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main meint, 15 Prozent der Deutschen - das sind 12 Millionen - hätten antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen. Sie bildeten das ideologische Umfeld dieser Parteien und Gruppen. Hat er Recht?
Thierse: Das bezieht sich ja auf mancherlei Umfragen, die nicht unbedingt ganz neu sind. Wir wussten immer, dass es in Deutschland insgesamt einen beträchtlichen, eben nicht nur ganz geringen Bodensatz von antisemitischen, diffusen antisemitischen Einstellungen gibt. Das wird jetzt sozusagen verstärkt durch eine diffuse und doch verbreitete Ausländerfeindlichkeit, wiederum auch eine Mischung von allgemeinen Unsicherheiten gegenüber Ausländern, manifesten Vorurteilen und aggressiver Abwehr von allem, was fremd, was anders ist. Das ist die gefährliche Mischung, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben. Ich betone aber noch einmal, damit wir uns nicht missverstehen: Man soll auch nicht übertreiben. Deutschland ist noch lange nicht ein antisemitisches, ein rechtsextremistisches Land. Die Mehrheit der Bürger denkt und empfindet durchaus anders. Das muss aber immer mal wieder sichtbar werden, dass die Bürger zeigen, wir, diejenigen, die sich dagegen wehren, sind die Mehrheit. Darum geht es übrigens an dem heutigen Tag vor allem.
Durak: Wir haben diese Demonstration. Das ist gut. Was muss folgen? Ein Besuch in den national befreiten Zonen?
Thierse: Man muss sehr viel tun. Heute, das ist eine demonstrative Handlung, die nicht jeden Tag wiederholt werden kann. Aber dann geht es darum, dass wir über politische Bildung reden, wie man sie verbessern, effektiver machen kann. Wir müssen über Erziehung reden in der Schule, in den Familien. Wir müssen über Gewalt reden auf der Straße, aber auch im Fernsehen. Wir müssen über Jugendarbeit reden, dass wir sie besser organisieren, neu motivieren und übrigens auch besser finanziell ausstatten. Viele, sehr viele Themen also. Und dann geht es um das Alltagsverhalten von Menschen. Man wird immer gefragt, was heißt Courage. Dann sage ich, es geht nicht um Heldenmut. Es fängt ganz klein an, dass jeder Bürger, der von sich sagt, ich bin anständig, nicht schweigend zuhört, wenn ein ausländerfeindlicher oder antisemitischer Witz erzählt wird, oder dass man wenigstens zum Telefonhörer greift und die Polizei um Hilfe ruft, wenn etwa vor dem eigenen Fenster passiert, oder dass man in der U-Bahn oder in der S-Bahn sich Verbündete sucht, wenn dort eine Aggression beginnt und so weiter und so fort, das wieder neu zu begreifen und auch zu lernen, wie man damit umgeht - ich habe auch Angst vor physischer Gewalt -, lernen, eigene Angst vor den anderen zu überwinden, weil deren Trumpf ja immer ist unsere ganz normale Angst vor Gewalt und vor brutaler Stärke, die miteinander zu überwinden und ganz alltägliche, selbstverständliche Dinge wieder zu tun, die immer auch getan wurden in unserer Gesellschaft, aber viel mehr als bisher. Darum geht es!
Durak: Wolfgang Thierse war das, Bundestagspräsident und Mitglied der SPD. - Herzlichen Dank für das Gespräch!
Link: Interview als RealAudio
Durak: Herr Thierse, ein wofür hat auch immer ein wogegen oder dagegen. Welches Signal soll von dieser Demonstration ausgehen?
Thierse: Ich hoffe ein sehr überzeugendes, aber zugleich einfaches Signal. Die Bürger dieses Landes zeigen, dass sie Demokratie und Humanität und Toleranz verteidigen und dass sie gewissermaßen öffentlich dokumentieren, dass das ihre Sache ist und nicht nur Sache derer da oben, der Profis, der Politiker, der Polizei, der Justiz, sondern eben Sache der Bürger.
Durak: Sie sagen "die Bürger". Es sind nicht alle, Herr Thierse.
Thierse: Gewiss können es nicht alle sein, aber wenn es hinreichend viele sind, wenn wir zeigen, das sind nicht nur ein paar hundert und ein paar tausend, sondern doch sichtbar viele, dann ist genau dem Genüge getan zu zeigen, dass eine Mehrheit in diesem Lande, eine riesige Mehrheit für ein anständiges, tolerantes, ausländerfreundliches, menschenfreundliches Land einsteht.
Durak: Sie sagen, die Bürger wollen zeigen und sollen auch zeigen, und Sie meinen, dass sie es zeigen werden, dass nicht nur die da oben sich dafür entscheiden, in diesem Fall zu repräsentieren. Es gibt diesen Vorwurf aber schon an diese Demonstration, es würde ein Betroffenheitsritual vollzogen. Was halten Sie dagegen?
Thierse: Wissen Sie, das ist ein schäbiger, fast zynischer Vorwurf. Wenn die Gesellschaft schweigt, sich nicht rührt, nicht betroffen ist angesichts von zunehmenden Gewalttaten, von der Ausbreitung dieser braunen Soße über unser Land, wenn da keine Betroffenheit ist, dann wäre mir Angst und Bange um diese Gesellschaft. Wenn da nicht ganz normale anständige Menschen dadurch betroffen sind, dass wir in den letzten Jahren und in den letzten Monaten ausländerfeindliche Übergriffe hatten, Gewalt gegenüber Menschen, die Ausländer sind, die Behinderte sind, die Schwache sind, wenn da keine Betroffenheit sichtbar würde, dann fände ich es schändlich.
Durak: Für Menschlichkeit, für Toleranz, das heißt gegen Unmenschlichkeit, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Intoleranz. Wer ist gemeint, die jugendlichen Glatzköpfe, die Holzköpfe sage ich mal, oder die Schweiger?
Thierse: Natürlich richtet sich das zunächst einmal gegen diejenigen, die ausländerfeindliche Ideologie predigen, einen neuen Rechtsextremismus sowohl denkerisch wie handelnd auszubreiten versuchen. Man muss ja wissen, das Kernstück der rechtsextremistischen Ideologie ist die Theorie von der Ungleichwertigkeit der Menschen. Wir hatten das in Deutschland schon mal mit den entsetzlichsten Wirkungen der Weltgeschichte. Deswegen sind wir in Deutschland verpflichtet, mehr als in jedem anderen Land Menschen verpflichtet sind, sich gegen diese Anfänge zu wehren. Es richtet sich zugleich - das will ich auch sagen - dagegen, dass Menschen meinen, ja, das ist alles nicht in Ordnung, das ist nicht schön, das gefällt mir nicht, sie schütteln den Kopf, aber es folgt daraus nichts, weil sie sagen, dafür sind jeweils andere zuständig, aber Indem wir miteinander zeigen, für den Zustand unserer Gesellschaft, für die Geltung von menschlichem Anstand in dieser Gesellschaft sind die Bürger des Landes insgesamt zuständig, nicht nur ein paar Professionelle, die gewissermaßen gewählt oder verbeamtet dafür zuständig sind.
Durak: Herr Thierse, die Schweiger, diese Tolerierer der Gewalt, der alltägliche Rassismus, woher kommt das?
Thierse: Dafür gibt es nun vielfältige Ursachen. Wenn ich sie auf eine kurze Formel reduzieren darf, dann ist es eine Verbindung von Ängsten, Überforderungsängsten und Vereinfachungsbedürfnissen. Wir leben tatsächlich in einer sich dramatisch verändernden Welt, wenn man die Stichworte nennen darf wie Globalisierung, die Informationstechnologien, die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen, die dramatische Veränderung der Arbeitswelt, der sozialen Realität, dass viele Menschen dort Angst haben und fürchten, unter die Räder zu kommen, dass sie sehen, das ist ja ein Überhang an Problemen. Die Welt ist so komplex, dass das Überforderungsängste hervorruft und ein immer im Menschen vorhandenes Vereinfachungsbedürfnis stärkt, Menschen damit also empfänglich macht für diese so entsetzlich einfachen Botschaften nach dem Motto "die Ausländer sind schuld, dass ich arbeitslos bin". Wir müssen die Nation stärken, Nationalismus pflegen gegen diese Tendenz der Globalisierung. Das ist jedenfalls ein Mechanismus, der erklärbar ist, aber weil er erklärbar ist, ist er ja nicht zu rechtfertigen.
Durak: Warum finden wir dies auch und vor allem in den ostdeutschen Bundesländern?
Thierse: Das hat eben damit zu tun, dass es zum einen in Ostdeutschland eine Vorgeschichte aus SED-Zeiten gibt. Da hat es immer auch Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Intoleranz gegeben. Da schleppen viele Ostdeutsche eine autoritäre Erbschaft aus SED-Zeiten mit sich. Wenn man nie hat lernen können, wirklich Konflikte auszutragen, selbstbestimmt zu handeln, den Umgang mit fremdem, mit Differenzen, mit Gegensätzen, dann wirkt das nach. Aber vor allem auch die letzten zehn Jahre waren für die Ostdeutschen eine Zeit dramatischer Umwälzung, wo nicht alle erfolgreich gewesen sind, sondern nur ein Teil wirklich erfolgreich war und andere tief verängstigt, sozial verunsichert worden sind bis hin zu Phänomenen der moralischen Entwurzelung. Wenn man sieht, dass Bildungsinstitutionen, eine Bildungsideologie ersatzlos fast weggefallen ist und die Freiheit nun sich auch erweist in ihrer Kälte, in ihrer Orientierungslosigkeit, dann kann man verstehen, dass eine Mischung aus Unzufriedenheit, tiefer Verärgerung, Orientierungssuche dazu führt, dass Menschen nicht einverstanden sind, schweigen, verunsichert sind, manche sich eine neue ideologisch-politische Heimat suchen. Gerade bei jungen Leuten wird auch das Orientierungsbedürfnis, das Beheimatungsbedürfnis sichtbar, das - ich sage es noch einmal - das Vereinfachungsbedürfnis von den rechten Ideologen befriedigt, die ja zum größten Teil nicht aus Ostdeutschland kommen, sondern aus dem Westen Deutschlands, aus Österreich, die dort aber einen fruchtbaren Boden entdeckt haben, wo sie wirken können.
Durak: Herr Thierse, Sie kommen ja aus dem Osten. Tut Ihnen das weh, dass Eltern, Verwandte so sehr versagen ihren Kindern gegenüber?
Thierse: Natürlich muss das weh tun. Reden wir über Familie, aber reden wir auch über die Schwierigkeiten, die es in der Schule gibt, die Schwierigkeiten in einer Gesellschaft, die Freiheit anbietet, aber innerhalb dieser Freiheit so wenig Orientierungspunkte vermittelt, so wie es subjektiv von vielen erfahren wird. Wenn man dann noch weis, dass diese DDR-Geschichte ja auch bewirkt hat, dass manche der großen Orientierungen, die so problematisch und so schwierig auch immer ein bisschen Orientierung und Halt geboten haben, zu DDR-Zeiten kaputt gemacht worden sind oder in ihrer Bedeutung abgeschwächt, zum Beispiel die Kirchen, aber auch andere große Institutionen, dann weis man, wie schwierig das Gelände hier ist. Aber wie gesagt, ich muss betonen: in Ostdeutschland sind die Probleme nur sichtbarer und drastischer, die in ganz Deutschland und in manchen anderen europäischen Ländern auch vorhanden sind.
Durak: Sie gehören zu den Politikern hier in diesem "neuen" Deutschland, die rechtzeitig die Gefahr erkannt haben, weil - das ist nachzulesen - Sie sich schon seit Beginn der 90er Jahre mit dem Problem beschäftigen, mit Rechtsradikalismus, mit Fremdenhass, auch mit Rechtsextremismus. Haben Sie im Laufe dieser Jahre eine Verstärkung dieser Bewegungen festgestellt? Welche Erfahrungen haben Sie bei Begegnungen mit solchen Leuten?
Thierse: Ich glaube ja, es hat zugenommen. Man muss begreifen, dass dieser Rechtsextremismus eben nicht mehr, so wie das in der alten Bundesrepublik gewesen ist oder man der Überzeugung sein konnte, dass es so war, ein parteipolitisch isolierbares Randphänomen der Gesellschaft ist. Im Westen wurden immer mal NPD oder andere Parteien in ein Landesparlament gewählt, und nach vier Jahren waren sie wieder draußen. Man konnte sich einbilden, das seien die alten Herren, natürlich mit ein paar unzufriedenen um sich, die ein Ausdruck eines temporären Protestes waren. Das ist es nicht mehr. Es ist nicht mehr ein isolierbares Randphänomen, sondern es reicht weit in die Gesellschaft hinein. Sie kennen die Umfragen. Ausländerfeindlichkeit ist ein fast selbstverständlicher Teil des Alltagsbewusstseins bei nicht wenigen Leuten. Ich sage nicht bei einer Mehrheit, aber doch bei viel zu vielen. Das hat wiederum mit diesen Ängsten zu tun. Man sieht, dass dieser Rechtsextremismus - man muss es fast so nennen - ein kulturelles Phänomen geworden ist. Die Skinhead-Musik, diese ganze Szenerie ist ein wichtiges Kommunikationsmedium gerade für die jüngeren Leute. Man muss sehen, dass Menschen unsicher sind, was sie tun können, ob sie es tun können, in einem diffusen Ohnmachtgefühl gar nicht mehr bereit sind, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen, zu der sie ein relativ zwiespältiges Verhältnis haben, weil sie in den vergangenen Jahren eben ambivalente Erfahrungen mit der Demokratie, mit der Marktwirtschaft, mit der Freiheit gemacht haben. Das hat die Problematik verändert und sie eben schlimmer gemacht. Man muss auch wissen, dass es einen intellektuellen Teil, wenn man dieses Wort überhaupt in den Mund nehmen darf, dass es eben auch Intelligenz gibt, die auf der rechten Seite ist. Es gibt nicht nur die Glatzen. Es gibt auch die Rechten, die Rechtsextremen, die in Anzügen sind und mit Schlips herumlaufen und die ganz gute und nicht schlechte Texte schreiben. Auch das macht das Phänomen beunruhigender.
Durak: Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main meint, 15 Prozent der Deutschen - das sind 12 Millionen - hätten antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen. Sie bildeten das ideologische Umfeld dieser Parteien und Gruppen. Hat er Recht?
Thierse: Das bezieht sich ja auf mancherlei Umfragen, die nicht unbedingt ganz neu sind. Wir wussten immer, dass es in Deutschland insgesamt einen beträchtlichen, eben nicht nur ganz geringen Bodensatz von antisemitischen, diffusen antisemitischen Einstellungen gibt. Das wird jetzt sozusagen verstärkt durch eine diffuse und doch verbreitete Ausländerfeindlichkeit, wiederum auch eine Mischung von allgemeinen Unsicherheiten gegenüber Ausländern, manifesten Vorurteilen und aggressiver Abwehr von allem, was fremd, was anders ist. Das ist die gefährliche Mischung, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben. Ich betone aber noch einmal, damit wir uns nicht missverstehen: Man soll auch nicht übertreiben. Deutschland ist noch lange nicht ein antisemitisches, ein rechtsextremistisches Land. Die Mehrheit der Bürger denkt und empfindet durchaus anders. Das muss aber immer mal wieder sichtbar werden, dass die Bürger zeigen, wir, diejenigen, die sich dagegen wehren, sind die Mehrheit. Darum geht es übrigens an dem heutigen Tag vor allem.
Durak: Wir haben diese Demonstration. Das ist gut. Was muss folgen? Ein Besuch in den national befreiten Zonen?
Thierse: Man muss sehr viel tun. Heute, das ist eine demonstrative Handlung, die nicht jeden Tag wiederholt werden kann. Aber dann geht es darum, dass wir über politische Bildung reden, wie man sie verbessern, effektiver machen kann. Wir müssen über Erziehung reden in der Schule, in den Familien. Wir müssen über Gewalt reden auf der Straße, aber auch im Fernsehen. Wir müssen über Jugendarbeit reden, dass wir sie besser organisieren, neu motivieren und übrigens auch besser finanziell ausstatten. Viele, sehr viele Themen also. Und dann geht es um das Alltagsverhalten von Menschen. Man wird immer gefragt, was heißt Courage. Dann sage ich, es geht nicht um Heldenmut. Es fängt ganz klein an, dass jeder Bürger, der von sich sagt, ich bin anständig, nicht schweigend zuhört, wenn ein ausländerfeindlicher oder antisemitischer Witz erzählt wird, oder dass man wenigstens zum Telefonhörer greift und die Polizei um Hilfe ruft, wenn etwa vor dem eigenen Fenster passiert, oder dass man in der U-Bahn oder in der S-Bahn sich Verbündete sucht, wenn dort eine Aggression beginnt und so weiter und so fort, das wieder neu zu begreifen und auch zu lernen, wie man damit umgeht - ich habe auch Angst vor physischer Gewalt -, lernen, eigene Angst vor den anderen zu überwinden, weil deren Trumpf ja immer ist unsere ganz normale Angst vor Gewalt und vor brutaler Stärke, die miteinander zu überwinden und ganz alltägliche, selbstverständliche Dinge wieder zu tun, die immer auch getan wurden in unserer Gesellschaft, aber viel mehr als bisher. Darum geht es!
Durak: Wolfgang Thierse war das, Bundestagspräsident und Mitglied der SPD. - Herzlichen Dank für das Gespräch!
Link: Interview als RealAudio