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"Rechtsstaat bis auf die Knochen blamiert"

Der sächsische CDU-Politiker Heinz Eggert hat die Justizpannen im Fall Mario M. als Blamage für den Rechtsstaat bezeichnet. Einen Rücktritt von Justizminister Geert Mackenroth (CDU) halte er dennoch nicht für angemessen. Mackenroth müsse jedoch für eine nahtlose Aufklärung des Falls sorgen, forderte Eggert.

Moderation: Bettina Klein | 10.11.2006
    Bettina Klein: Die Justiz hätte gewarnt sein können, meinen viele. Der geständige Sexualstraftäter, der dem Mädchen Stephanie ein wochenlanges Martyrium beschert hatte, er war bereits am Tag vor seiner Flucht auf das Dach ausfällig geworden, er hatte randaliert und sich als nur schwer bezähmbar auch im Gerichtssaal erwiesen. Dann folgte am nächsten Tag die Flucht auf das Dach des Gerichtsgebäudes, wo er 20 Stunden ausharrte, weil die Behörden bei einem Zugriff einen Selbstmord befürchteten. So konnte man stundenlang im Fernsehen einen mutmaßlichen Schwerverbrecher dabei beobachten, wie er sich vielleicht über die Justiz lustig machte. Nach der anstrengenden Nacht dort oben war Mario M. dann nicht mehr verhandlungsfähig; der Prozess kann vorerst nicht fortgesetzt werden. Welche Konsequenzen sollten solcherart Pannen haben? Das möchte ich jetzt wissen von Heinz Eggert, CDU-Landtagsabgeordneter im sächsischen Parlament und ehemaliger Innenminister im Freistaat Sachsen. Guten Morgen, Herr Eggert.

    Heinz Eggert: Guten Morgen.

    Klein: Was haben Sie gedacht, als Sie den Angeklagten damals abends, nachts auf dem Dach des Gebäudes haben stehen sehen?

    Eggert: Also es war eine unterschiedliche Gefühlslage bei mir. Das eine war das Gefühl - als Vater von Töchtern -, das sagte: Dann lass ihn dort oben sitzen, dann werden wir halt sehen, was da passiert. Das Zweite war, dass ich mir sagte: Das weitet sich zu einem Skandal aus, weil es hätte nicht passieren dürfen - ganz gleich, was man hinterher sagt, was alles eingehalten worden ist an Vorschriften: Hier hätte man noch ein wenig genauer hinsehen müssen. Und das Dritte, was mich geärgert hat, ist eigentlich, dass dieses Mädchen als Opfer in den Hintergrund tritt, der Täter auf das Dach steigt und dann von einigen Fernsehsendern auf den Sockel gehoben wird, indem man geradezu 20 Stunden lang Direktübertragung macht.

    Klein: War das das einzige Indiz für Sie, dass das Opfer in den Hintergrund tritt, nur die Tatsache, dass die Medien eben ihre Kameras auf den Täter gehalten haben?

    Eggert: Ja, ich frage Sie: Was ist daran besonders nachrichtenswert? Es ist nachrichtenswert, dass an der Stelle versagt worden ist. Dass an der Stelle nachgeforscht werden muss: Was hat man nicht bedacht? Ich sage noch einmal: Es hätte nicht passieren dürfen, unabhängig davon, was man hinterher an Erklärungen nachschiebt. Hier hat sich der Rechtsstaat bis auf die Knochen blamiert. Aber was dann all so hinterher kam an Reaktionen - also vorschneller Rücktritt des Justizministers oder - ich halte ja viel von der Arbeit des "Weißen Rings" - dass ausgerechnet von ihnen dann kam: Also wer so lange auf dem Dach gesessen hat, der kann hinterher auch noch im Gerichtssaal sitzen - wo die Entscheidung des Richters, dann den Prozess zu vertagen, kritisiert wurden. Das wächst sich dann langsam ins Skandalträchtige aus.

    Klein: Gut, aber wir haben genug ja auch zu beklagen. Deswegen meine Frage an Sie: Weshalb konnte das passieren?

    Eggert: Also ich habe verschiedene Leute gefragt, wie das eigentlich passieren konnte. Dann ist mir gesagt worden: Er hat einen Anspruch darauf, diesen Spaziergang zu machen. Es haben statt 20 Gefangene wie sonst, wo zwei Wärter aufpassen, zwei Wärter auf zwei Gefangene aufgepasst. Er ist dann auf einen baulichen Vorsprung geklettert, ganz schnell, so dass sein Wärter nicht hinterher konnte, und ist dann aufs Dach geklettert. Jetzt sage ich: Diese Dinge hätten einfach nicht passieren können, man hätte vorher schon sagen müssen: Sind die baulichen Gegebenheiten eigentlich so, dass da irgendetwas passieren kann? Nun muss man aber sagen: Es hat zu keinerlei Zeit Gefahr für andere bestanden - für ihn schon, für andere nicht.

    Klein: Aber lassen Sie uns mal den baulichen Dingen bleiben, Herr Eggert. In allen Justizvollzugsanstalten sollen die Sicherheitsstandards jetzt überprüft werden. Man fragt sich: Wird das nicht ohnehin regelmäßig gemacht? Und warum ist das überprüfungswürdig bei einem Gebäude, was gerade mal fünf Jahre alt ist?

    Eggert: Das wird eigentlich, ja, das wird immer gemacht. Und ich kann jetzt einfach nur sagen: Man muss bei solchen Dingen auch die allerdümmsten Zufälle und Vorfälle mit einrechnen. Und hier hat man offensichtlich an der Stelle nicht richtig nachgedacht.

    Klein: "Nicht richtig nachgedacht" heißt?

    Eggert: Nicht richtig nachgedacht, dass diese bauliche, dass die Bausubstanz, so wie sie momentan steht, das ermöglicht hat, was wir dann erlebt haben.

    Klein: Lassen Sie uns zu den Konsequenzen ...

    Eggert: ... was ja wirklich eine Verhöhnung, eine Verhöhnung der Allgemeinheit ist von diesem Verbrecher.

    Klein: Lassen Sie uns zu den Konsequenzen kommen. Die Gewerkschaft der Polizei sagt: Wir haben zu wenig Personal und das sei mit eine wichtige Ursache dafür gewesen, dass es passieren konnte. Also fordern Sie Aufstockung des Personals?

    Eggert: Also, ich kann immer wieder nur staunen. Wenn so etwas passiert - ich sage noch einmal: Was nicht hätte passieren dürfen -, wer auf einmal alles Forderungen aufmacht. Es ist mir nicht bekannt, dass das Personal, das auf diesen Angeklagten aufgepasst hat, übermüdet gewesen ist oder nicht rechtzeitig zum Dienst erschienen ist oder zu viel Dienst in dieser gesamten Zeit hat schieben müssen. Also ich finde es schon ein wenig seltsam, man muss darüber sprechen, ob die Gesamtstärken ausreichen, aber ich finde es ein wenig seltsam, dass genau anhand eines solchen Vorfalls dann auf einmal gewerkschaftliche Forderungen erhoben werden.

    Klein: Nun gut, also man konnte gestern bei der Pressekonferenz ja hören: Die beiden Beamten waren nicht nur für diesen mutmaßlichen Täter da, sondern eben auch für andere und sie sollten zugleich auch ihn schützen vor Übergriffen anderer Haftinsassen. Da fragt man sich schon: Hat man sich ausreichend darauf konzentriert, dass eben eine Flucht nicht passieren kann?

    Eggert: Das kann man überlegen, ob man an der Stelle mehr Leute hätte einteilen müssen. Sie müssen wissen, dass dieser - und ich will das überhaupt nicht verteidigen, diesen ganzen Vorfall -, dass der Angeklagte ja schon lange in Untersuchungshaft war. Und offensichtlich dort ein wenig pflegeleichter gewesen ist, als es sich jetzt im Nachhinein herausgestellt hat. Für mich ist völlig klar: In dem Moment, wo er im Gerichtssaal über die Balustrade gesprungen ist, wo er getobt hat, dass man an der Stelle ganz andere Maßnahmen hätte ergreifen müssen. Nur - ich habe auch gefragt: Warum keine Fußfesseln, warum keine Handfesseln? - das muss alles vom Richter angeordnet werden, das kann ein Justizbeamter selber nicht entscheiden.

    Klein: Wer muss jetzt für diese Vorfälle die Verantwortung übernehmen, Herr Eggert?

    Eggert: Also das ist so, dass die politische Verantwortung immer der jeweilige Minister hat. Und jetzt sage ich mal ein sehr hartes Wort, wofür ich damals auch von der Gewerkschaft gescholten worden bin. Ich habe damals gesagt: Wenn zur gleichen Zeit drei nicht sehr geistvolle Polizisten Dienst haben in Sachsen, kann ich als Innenminister zurücktreten. Das ist hier nicht der Fall, weil erstens Herr Mackenroth ein ausgesprochen angesehener Kollege ist, auch im ganzen Land. Aber was er machen muss, ist natürlich, sehr genau untersuchen: Wie konnten diese Dinge passieren? Und vor allem, was genauso wichtig ist: Wie können diese Dinge in Zukunft verhindert werden?