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Rechtswissenschaftler: Der Hype um diese Entscheidung ist etwas groß

Vorgestern hat der Europäische Gerichtshof in einem Fall festgestellt, dass deutsches Arbeitsrecht gegen europäische Vorschriften verstößt. Den Grundsatz, dass europäisches Recht deutsches Recht breche, sei nicht neu, sagt Christoph Möllers, Rechtsphilosoph an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dies komme vor allem zum Vorschein, wenn die jeweiligen Mitgliedsstaaten die europäischen Vorgaben nicht umsetzten.

Christoph Möllers im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Heute wird der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheiden, ob Deutschland mit seinen Arbeitsbeschränkungen für polnische Arbeitnehmer gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit verstößt.

    Vielleicht also wird der Europäische Gerichtshof heute zumindest teilweise gegen die Bundesregierung urteilen. Verwunderlich wäre es nicht und es wäre auch nicht das erste Mal in dieser Woche. Wolfgang Landmesser berichtete und wir sind nun um 7:21 Uhr telefonisch mit dem Staatsrechtler Professor Christoph Möllers verbunden, um von ihm mehr über den Konflikt zwischen deutscher und europäischer Rechtsprechung zu erfahren und um die Frage zu erörtern, ob der Europäische Gerichtshof seine Kompetenzen überschreitet, wenn er deutsche Gerichte anweist, deutsches Recht nicht mehr anzuwenden. Guten Morgen, Herr Möllers.

    Christoph Möllers: Guten Morgen, Herr Spengler.

    Spengler: Vorgestern hat der Europäische Gerichtshof bestimmt, dass deutsches Arbeitsrecht gegen europäische Vorschriften verstößt. Würdigen wir erst mal dieses Urteil selbst ganz kurz. Die europäischen Richter haben gesagt, es ist ungerecht, dass in Deutschland die Kündigungsfrist bei jungen Arbeitnehmern kleiner ist als bei älteren Arbeitnehmern, weil nur die Beschäftigungszeiten nach dem 25. Lebensjahr angerechnet werden. Damit würden Jüngere diskriminiert. Ist das in der Sache in Ordnung, oder erheben Sie da Einwände?

    Möllers: Ich denke, es ist in der Sache in Ordnung. Der EuGH hat das früher schon mal entschieden und da war es etwas problematisch, weil sie da sozusagen einen Gesichtspunkt erfunden hatten, der eigentlich nirgendwo stand. Heute steht das Verbot der Altersdiskriminierung in der Grundrechte-Charta, die nun für uns auch verbindlich geworden ist, ebenso wie in der Richtlinie, und deswegen ist diese Entscheidung in der Sache eigentlich zu erwarten gewesen.

    Spengler: Das heißt, diese Vorschrift aus dem bürgerlichen Gesetzbuch, dem BGB, die aus dem Jahre 1926 stammt, die war überholt, die ist überholt und eigentlich hätte die Politik das BGB längst ändern sollen, was sie ja nun auch schleunigst machen muss?

    Möllers: Ja, das gilt für diese Vorschrift auf jeden Fall. Wir haben dieser Richtlinie zugestimmt und es besteht eigentlich kein Grund, dass sie besteht. Der EuGH macht in dieser Entscheidung auch gewisse Ausführungen darüber, wann nationale Gerichte nationales Recht unangewendet lassen, die sicherlich über das hinausgehen, was sie sonst gesagt haben, aber auch die scheinen mir in der Sache nicht so spektakulär zu sein, dass ein nationales Gericht, ein unteres Gericht deutsches Recht nicht anwenden muss. Wenn es gegen Europarecht verstößt und dazu nicht noch vorher das Bundesverfassungsgericht befragen muss, scheint mir in der Logik des Europarechts jedenfalls zu liegen, und umgekehrt kann das Europarecht auch nicht dem deutschen Richter vorschreiben, dass er vorher das Bundesverfassungsrecht anwenden muss. Auch das wäre ein Eingriff ins deutsche Recht. Insofern scheint mir der Hype um diese Entscheidung etwas groß gewesen zu sein.

    Spengler: Es gilt der Grundsatz, europäisches Recht bricht deutsches Recht? Kann man das sagen?

    Möllers: Ja, das kann man sagen.

    Spengler: Gut.

    Möllers: Der gilt auch schon seit den frühen 60er-Jahren letztlich.

    Spengler: Jetzt gibt es in diesem Urteil – das haben Sie gerade schon kurz angesprochen – noch eine relativ ungewöhnliche Passage, auch wenn Sie sagen, der Hype ist wahrscheinlich ein bisschen groß. In dieser Passage weisen die europäischen Richter die deutschen Gerichte an, die beanstandete Vorschrift im Gesetzbuch, also im BGB, ab sofort nicht mehr anzuwenden. Das heißt doch, ab sofort gelten für Hunderttausende Arbeitnehmer längere Kündigungsfristen, und die Frage stellt sich, ist es in Ordnung, dass der EuGH so rigide in innerstaatliche Kompetenzen eingreift, also deutschen Gerichten befiehlt, deutsche Gesetze nicht mehr zu beachten?

    Möllers: Na ja, man muss dazu sagen, dass er das tut auf Grundlage einer Richtlinie, der die Bundesregierung beziehungsweise die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt hat. Die Herleitung, die Legitimation in diesem Fall jedenfalls führt nicht einfach darüber, dass der EuGH sich irgendetwas ausdenkt, sondern führt in dem Fall jedenfalls – das ist nicht immer so - sicherlich darüber, dass die Richtlinie ein gemeinsames Werk der Mitgliedsstaaten, also auch der Bundesrepublik ist.

    Spengler: Aber Arbeitgeber können nicht darauf vertrauen, dass das gilt, was in einem deutschen Gesetz steht?

    Möllers: In gewisser Weise können wir alle nicht immer darauf vertrauen, was in einem deutschen Gesetz steht, sondern es ist tatsächlich so, dass sich über das deutsche Recht eine riesige Anwendungsschicht gelegt hat, die letztlich europäisiert ist. Um da sozusagen Rechtssicherheit zu schaffen, ist es halt auch immer wichtig, dass die jeweiligen Mitgliedsstaaten die europäischen Vorgaben auch umsetzen. Sonst kommen wir in der Tat in diese komische Grauzone, in der wir eigentlich eine Vorschrift umsetzen müssten, aber nicht umgesetzt haben, die wir aber selber mitgestaltet haben, und dann alle Beteiligten sich nicht ganz sicher sind, was geltendes Recht ist. Im Prinzip ist der EuGH aber sehr früh dazu übergegangen zu sagen, wenn die Mitgliedsstaaten nicht umsetzen, dann wird sich das Ding irgendwann sehr verselbstständigen und dann muss man damit rechnen, dass das Europarecht einfach sozusagen von selbst in Kraft tritt. Damit ist die Erfahrung, dass es eine deutsche Norm gibt, die europäisiert wird, eigentlich nichts Neues.

    Spengler: Aber das klingt jetzt schon fast so ein bisschen, gerade diese Automatik, die Sie angesprochen haben, als wären wir doch klammheimlich auf dem Weg zum europäischen Superstaat?

    Möllers: Na ja, aber ich denke immer noch auf der Grundlage von politischen Entscheidungen, die wir ja so nicht fällen mussten. Niemand hat uns dazu gezwungen, der Altersdiskriminierung in dieser Richtlinie zuzustimmen. Das war ein politischer Prozess, da stand wahrscheinlich die Bundesregierung auch in irgendeiner Weise unter Druck, aber es war letztlich dann doch von ihr politisch gewünscht. Deswegen denke ich, ein europäischer Superstaat wäre ein Staat, in dem das passieren würde, ohne dass eine politische Entscheidung der Bundesregierung oder der Bundesrepublik Deutschland dazwischentreten würde. Wenn die das einfach so machen könnten, dann würde ich vielleicht von einem Superstaat reden. Solange wir dem zustimmen und erst dann solche Entscheidungen ergehen – und das ist doch in aller, aller Regel der Fall -, kann man das, glaube ich, noch nicht sagen.

    Spengler: Nun ändert Luxemburg deutsches Recht, was eigentlich nur streng genommen der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht darf, und das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Lissaboner Vertrag sinngemäß gesagt, wir hier in Karlsruhe behalten uns eine weitreichende Kontrolle unserer Verfassungsidentität vor und auch eine Kontrolle der Zuständigkeit der EU. Wird sich denn das Bundesverfassungsgericht ein solches Urteil wie vorgestern gefallen lassen?

    Möllers: Ich glaube, das gestrige Urteil ist auch nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts nicht unbedingt ein Problem, denn das Bundesverfassungsgericht würde zweierlei sagen. Es würde sagen, wenn die EU in Bereichen handelt, für die sie keine Kompetenz haben, dann gibt es ein Problem, oder wenn der EuGH Urteile fällt, für die es keine europarechtliche Grundlage gibt, der die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt hat, dann gibt es auch ein Problem.

    Spengler: Gibt es denn dieses Problem de facto? Hat es das schon mal gegeben?

    Möllers: De facto muss man sagen, das Antidiskriminierungsrecht ist ganz unbestritten Sache der Europäischen Union, und klar ist auch, dass es für dieses Urteil, für andere nicht, aber für dieses Urteil auch eine relativ eindeutige sekundärrechtliche Grundlage gibt. Insofern denke ich nicht, dass das nun ein Urteil ist, wo das Bundesverfassungsgericht sozusagen gegen vorgehen würde.

    Spengler: Aber Sie spielen auf andere Urteile an?

    Möllers: Wir haben in derselben Sache ein etwas älteres Urteil, Mangold, gehabt, in dem es auch um Altersdiskriminierung ging, und in der Tat war es da so, dass die Begründung des EuGH letztlich nicht wirklich überzeugend zurückführbar war auf den damaligen Stand des Rechtes. Dagegen könnte das Bundesverfassungsgericht – das liegt nun beim Bundesverfassungsgericht – entscheiden. Das hätte in gewisser Weise den Vorteil, dass es eine rein symbolische Entscheidung wäre, denn mittlerweile ist das Recht geändert worden, würde andererseits vielleicht die Bereitschaft des Gerichts indizieren, sich mit dem EuGH anzulegen.

    Spengler: Letztes Wort ganz kurz: Wer hat das letzte Wort, Karlsruhe oder Luxemburg?

    Möllers: Ich glaube, das ist die falsche Frage. Ich denke, in aller Regel hat der EuGH das letzte Wort, aber wenn das Bundesverfassungsgericht sich dem konsequent widersetzen würde oder mehr und mehr dazu übergehen würde, europäische Rechtsakte zu überprüfen, könnte der EuGH auch nicht ganz einfach etwas dagegen machen.

    Spengler: Der Staatsrechtler Christoph Möllers von der Humboldt-Universität in Berlin. Danke für das Gespräch, Herr Möllers.

    Möllers: Danke. Auf Wiederhören!