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Reformation
Luther und die Welt

Der Berliner Historiker Heinz Schilling entwirft mit seinem Buch "1517" ein Panorama des Jahres, als Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen zur Reform der Kirche veröffentlichte. Der Untertitel des Buches lässt ahnen, was Schilling will: Er schreibt die "Weltgeschichte eines Jahres" und weitet den Blick für globale Trends vor 500 Jahren - als sich alte Welt und neue Welten begegneten.

Von Andreas Main | 20.02.2017
    Heinz Schilling
    Heinz Schilling (C.H. Beck Verlag/Joakim S. Enger )
    1517 - was für ein Jahr! Was für eine Epoche! Auch wenn Ritter in Reutlingen oder Bauern in Böhmen vermutlich kaum etwas mitbekommen haben von portugiesischen oder spanischen Seefahrern, von Hasardeuren oder Humanisten - 1517 wird die Welt größer: Alte Welt und neue Welten begegnen sich. Das Rhinozeros und der Elefant erobern die Köpfe der Zeitgenossen ebenso wie die neuen Ideen Luthers, der nach einem gnädigen Gott sucht. 1517 wird die Welt weiter. Und auch dieses Buch weitet den Blick. Es transzendiert die grassierende Lutheritis. Es wendet sich vor allem auch gegen eine nationale oder gar nationalistische Reformationsdeutung, die Heinz Schilling ablehnt:
    "Es geht mir darum, diesen doch sehr eurozentrischen, zunächst einmal germanozentrischen Anspruch: 'Mit Luther beginnt die Neuzeit' - das möchte ich aufdröseln von einer globalgeschichtlichen Perspektive her, indem ich sage: Es sind so viele Dinge dort geschehen, die auch für uns heute noch relevant sind."
    So viel ist 1517 geschehen, dass einem beim Lesen ganz schwindelig wird. Und es hat viel mit uns zu tun. Das vermittelt Heinz Schilling überzeugend: Kopernikus entwickelt eine erste Geldwert-Theorie, der Dominikaner-Mönch Bartolomé de Las Casas kämpft in Amerika für die Indios und nimmt etwas vorweg, was wir heute Menschenrechte nennen.
    1517 ist mehr als Wittenberg
    Der frühmoderne Fürstenstaat entsteht. Kairo wird 1517 belagert von den Osmanen, die mit ihren militärischen Erfolgen die Menschen im heutigen Europa zutiefst verunsichern. Und in eben diesem Jahr macht der Augustinermönch Doktor Martinus Luther jene Stadt "am Rande der Zivilisation" weltberühmt. Aber 1517 - ist wahrlich mehr als das, was dort passierte.
    "Damit will ich Wittenberg und Luther nicht klein reden. Ich will ihn - und das finde ich, ist die Aufgabe Anfang des 21. Jahrhunderts – dieses Ganze weltgeschichtlich kontextualisieren."
    In Schillings hochgelobter Luther-Biographie, mittlerweile in der dritten Auflage, steht noch Luther im Zentrum, wie es sich für eine Biographie gehört, obwohl Schilling ihn auch hier in die deutschen, europäischen und globalen Zusammenhänge einordnet.
    Jetzt - in "1517" - zäumt er das Pferd noch einmal auf - diesmal sozusagen von hinten. Schilling beginnt mit der weltpolitischen Situation - ein Kapitel, das dem Leser bei der Lektüre viel Konzentration abverlangt. Manchmal zu viel. Leichter zugänglich ist das Kapitel über den "Frieden und die Stabilität des Geldes".
    Richtig spannend wird es, wenn der Leser mit Schilling und den Portugiesen ins Reich der Mitte reist oder 1517 mit den Spaniern auf Yukatan erstmals einer amerikanischen Hochkultur begegnet. Danach kontrastiert Schilling Renaissance und Humanismus, all diese kulturellen Aufbrüche, mit den kollektiven Ängsten der Menschen vor Hexen oder Dämonen.
    "Ein neues Weltwissen kommt nach Europa"
    Erst dann - quasi im Finale widmet sich Schilling auf den letzten 70 Seiten dem Papst sowie dem Mönch in Wittenberg. Hier Luthers bahnbrechende Theologie, dort die neuen Erkenntnisse aus China oder Mexiko, die in die europäischen Metropolen schwappen. All das gehört zusammen - oder in Heinz Schillings Worten:
    "Gleichzeitig mit der neuen Theologie kommt ein neues Weltwissen nach Europa und prägt die europäische Neuzeit in der gleichen Weise wie Luther, so dass man nicht mehr - ich jedenfalls nicht mehr - sagen würde: Mit der Thesenveröffentlichung beginnt die Neuzeit, sondern: Thesenveröffentlichung, Renaissance, Humanismus und ein Eindringen des neuen Weltwissens nach Europa - das macht die Dynamik der Neuzeit aus."
    Und ganz am Ende seines neuen Buches kommt der Berliner Historiker zu diesem Ergebnis: "Ein halbes Jahrtausend trennt uns von den Ereignissen des Jahres 1517. Wir sind einer uns zutiefst fremden Welt begegnet, und dennoch erscheint manches vertraut, ja aktuell."
    Aktuell und vertraut erscheint zum Beispiel die fundamentalistische Gewalt, dieses explosive Aufbrechen von Religion. Ein Phänomen damals wie heute. Fremd hingegen erscheint Luthers leidenschaftliche Suche nach ewigem Seelenheil - und dass er genau damit den Nerv der Zeit trifft. Das ist es, was viele Menschen 1517 wollen: Sie wollen erlöst werden von ihrer Angst vor einem plötzlichen Tod, der Seelenqual, irgendwann einem unbarmherzigen Gott gegenüber stehen zu müssen, einem richtenden Gott.
    Das Vordringen der "Türken" als göttliches Zeichen
    Die Massen waren verunsichert angesichts einer Welt, die 1517 - je nach Sichtweise - in Bewegung war oder aus den Fugen geriet. Viele der Zeitgenossen Luthers sahen im militärischen Vordringen des Osmanischen Reichs, also der "Türken", wie es damals hieß, ein göttliches Zeichen: Das Ende steht bevor. Sie fürchteten sich vor der Apokalypse via Balkan-Route. Oder es ergriff sie die Angst vor dem Abstieg, seit die Welt zusammenrückte - vorangetrieben vom Geld der Fuggers oder Medicis. Und wie heute die Digitalisierung wirkte vor 500 Jahren der Buchdruck zumindest irritierend, um es vorsichtig auszudrücken.
    So schwarz-weiß zeichnet Schilling die politische und geistige Welt von 1517 nicht. Er ist da viel differenzierter. Die Überzeichnung sei gestattet, um deutlich zu machen, welcher Erkenntnisgewinn möglich ist beim Lesen dieses Buchs.
    "Ökonomie der Gedenkkultur"
    Zweifellos kann man sich darüber lustig machen, dass der Trend im Sachbuch zum erzählten Jahr geht. "1913" von Florian Illies zum Beispiel war ein Erfolgsbuch. Jetzt also "1517". Sicher: Das ist der "Ökonomie der Gedenkkultur" geschuldet, wie die Tageszeitung "Die Welt" schreibt.
    Dennoch: Es lohnt sich. Wenn Schilling sich in diesem Buch zum runden Reformations-Jubiläum von einer chronologischen Erzählweise löst und ein Panoramabild eines Jahres entwirft, dann entsteht eine Vielfalt der Sichtweisen, die es in sich hat. Das ist bunt und perspektivisch gebrochen, also lohnenswert. Das macht das Buch aber nicht in allen Passagen gut lesbar. Sich auf ein Jahr zu konzentrieren, führt auch dazu, dass der Autor immer wieder von hier nach da springen und zurückverweisen muss oder darauf vertröstet, das werde später besprochen. Schillings große chronologische Luther-Biographie mit ihren gut 700 Seiten lässt sich leichter und schneller lesen als die rund 300 Seiten seines neuen Buchs.
    Dennoch: "1517" ist ein gewinnbringendes Buch für alle, denen politische, ökonomische und kulturelle Tendenzen der frühen Neuzeit wichtiger sind als die Theologiegeschichte. Und ganz nebenbei werden auch diese Leser danach mehr wissen als vorher über Luther oder Erasmus von Rotterdam. Auch über ihre Theologie.
    Heinz Schilling: "1517. Weltgeschichte eines Jahres"
    C.H. Beck, 364 Seiten, 24,95 Euro