Freitag, 29. März 2024

Archiv

Reformation
Wie ein Lauffeuer

Mit dem Aufkommen des Druckes beginnt der Siegeszug der Flugschrift: einem gedruckten Heftchen, gerne auch mit einem Holzschnitt auf dem Titel. Diese Flugschriften tragen zum frühen Erfolg der Reformation bei, Martin Luther ist in dieser Zeit in vielen Regionen der meistgedruckte Autor. Und so verbreiten sich seine Lehren rasant.

Von Peter Leusch | 10.04.2014
    Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz
    Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz - mit einem Buch. Der Druck ermöglichte eine weite Verbreitung seiner Schriften. (Hendrik Schmidt / dpa)
    Susanne Schuster: "Luther ist in der frühen Reformationszeit Medienheld Nummer Eins. Er ist der meistgedruckte Autor, egal wo wir hinschauen, ob wir in den Südwesten schauen oder ob wir in dem mitteldeutschen Raum, speziell nach Wittenberg, schauen, es gibt zwei, drei große Druckzentren für die Flugschriften, das heißt für die deutschsprachigen Schriften, das ist zum einen Wittenberg, zum anderen als größtes Druckzentrum Augsburg und als drittes Straßburg im Deutschen Reich."
    Susanne Schuster, Theologin am Institut für Kirchengeschichte der Universität Leipzig, erforscht die Flugschriften der frühen Reformationszeit. Schon länger weiß man, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der rasanten Verbreitung der reformatorischen Ideen und dem Aufkommen neuer Schriftmedien, ein dreiviertel Jahrhundert nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks. Denn neben den Predigern, neben Mundpropaganda war es vor allem die Flugschrift, ein ganz neues Medienformat, so Susanne Schuster, das Luthers Lehre wie ein Lauffeuer durch Deutschland trug.
    Susanne Schuster: "Eine Flugschrift ist im Unterschied zu einem Flugblatt mehr als nur ein Blatt. Wenn sich der Drucker Mühe gegeben hat, hat er auch als Käuferanreiz einen Titel-Holzschnitt verfasst, der spiegelt oft den Inhalt wieder. Und ansonsten wird als Flugschrift das verstanden, was einen kurzen knappen Umfang hat, inhaltlich relativ leicht eingängig ist, nicht periodisch, also keine Zeitung in unserem heutigen Sinne ist, und ein wichtiges Kriterium: Eine Flugschrift ist nicht gebunden - und natürlich auf Papier gedruckt."
    Am Allerwichtigsten jedoch: Diese Flugschriften waren auf Deutsch verfasst, nicht mehr in der Gelehrtensprache Latein, sondern in der Volkssprache. Schlüsseltexte wie Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen", die als Flugschrift kursierten, waren nun für jeden verständlich, der lesen konnte. Um die Lesefertigkeit stand es freilich in Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch relativ schlecht, erklärt der evangelische Theologe Volker Leppin. Er lehrt Kirchengeschichte an der Universität Tübingen:
    Volker Leppin: "Man rechnet für die Gesamtbevölkerung mit ungefähr fünf Prozent, das heißt, für die Städte können wir von 20-30 Prozent Lesefähigkeit ausgehen, das heißt aber, immerhin die Eliten in Städten haben gelesen, das heißt, die Leute, die im Rat saßen, haben gelesen. Natürlich haben die Ratsschreiber gelesen, schon allein aufgrund ihres Amtes, und dafür gesorgt, dass die Gedanken verbreitet wurden. Und die Prediger in den Kirchen haben ebenfalls für die Verbreitung gesorgt, sodass ein Anfang von Lesefähigkeit auch dazu führte, dass diejenigen, die weniger lesen konnten, schnell Neues aufgenommen haben."
    Lesen hieß damals vor allem – Vorlesen: In Gasthäusern und in den Zunftstuben der Handwerker, sogar auf Märkten scharte man sich um die Vorleser. Zu den Multiplikatoren des geschriebenen Wortes in einer gering alphabetisierten Bevölkerung gehörten auch durchreisende Studenten, die dafür Kost und Logis erhielten.
    Kein Heilsvermittler notwendig
    Inhaltlich boten die Flugschriften eine Palette unterschiedlicher Textsorten: von der Predigt und dem theologischen Traktat, über Erbauungstexte und Gedichte bis hin zu Fastnachtsspielen und fiktiven Dialogen, die besonders beliebt waren.
    Susanne Schuster: "Zum Beispiel gibt es einen sehr schönen Dialog 'Die Wallfahrt zu Grimmenthal'. Da sitzen ein Priester und ein Mönch im Gasthaus, da kommt ein Handelsreisender gerade von der Messe, als viertes kommt ein Bauer dazu – und in diesen Dialogen wird oftmals die Belehrungssituation umgekehrt: nämlich nicht die Geistlichen belehren die Laien, sondern andersherum: Die Laien haben das Evangelium schon verstanden und belehren jetzt die Geistlichen - das ist sozusagen der Pfiff daran. Argumentation ist meistens die Berufung auf die Heilige Schrift als die neue Norm, und das andere, was sie dazu legitimiert, diese Heilige Schrift auszulegen, ist die Idee des allgemeinen Priestertums."
    Luther lehrte, - gegen Rom gewandt - dass alle Gläubigen unmittelbar zu Gott stehen, dass es also keines Heilsvermittlers in Gestalt eines Priesters bedürfe, der eigens durch ein Sakrament aus der Gemeinde herausgehoben sei. Aber es ist nicht der theologische Streit zwischen den Konfessionen in dieser Frage, was Marc Lienhard beschäftigt. Vielmehr untersucht der französische Historiker und Theologe von der Universität Straßburg, wie sich solche Ideen auf das Gemeindeleben auswirkten. Wie sich im Zuge der Reformation das Verhältnis von Laien und Klerus, von religiöser und weltlicher Macht veränderte. Marc Lienhard beschreibt den Prozess am Beispiel der freien Reichsstadt Straßburg.
    Marc Lienhard: "Die Stellung des Klerus wandelt sich. Er ist nicht mehr die obligate Brücke zwischen den Gläubigen und Gott, er ist ein Gläubiger wie andere, nur hat er eine andere Funktion, es ist aber kein besonderer abseits stehender Stand. Das weltliche Leben wird revalorisiert, neu bewertet. Die Klöster werden geschlossen oder werden aufgefordert, sich selber zu schließen. Von den 16 Klöstern - vierzehn Klöstern und zwei Ritterorden - bleiben nur noch drei übrig, zwei Frauen- und ein Männerorden, die widerstehen."
    Straßburg und die gesamte Region im Südwesten der Bundesrepublik, aber auch Elsass, Lothringen und die Schweiz bildeten einen Großraum, der für die Reformation und die Herausbildung des Protestantismus eine besondere Rolle spielte.
    Die Freie Reichsstadt Straßburg, so Lienhard, war in vielem ein Vorreiter der Entwicklung. Es gab hier eine relativ breite gebildete Schicht. Man hatte die Ideen des Humanismus kennengelernt, Erasmus von Rotterdam lebte selbst ein paar Jahre in Straßburg. Die Menschen waren sensibilisiert für die Missstände im Klerus und dementsprechend aufgeschlossen für die reformatorischen Ideen. Straßburg wurde evangelisch. Und es zeigte sich, dass mit der Reformation die bürgerliche Selbstverwaltung an Macht gegenüber der Kirche gewonnen hatte. Nun setzte der Stadtrat z. B. Gerichte ein, die über Eheangelegenheiten entschieden und nicht mehr die Kirche. In Straßburg zeigte sich allerdings auch schon, wie ein strenger Protestantismus zu jenem Arbeitsethos aufrief, das für die moderne Leistungsgesellschaft charakteristisch ist.
    Marc Lienhard: "Ich erinnere an Luthers Wort, der einmal gesagt hat: 'Der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen.' Das haben auch die Straßburger stark befolgt diesen Ausspruch, ich erinnere daran, dass die Festtage stark vermindert wurden in Straßburg, in den ersten Jahren wurde abgesehen vom Sonntag natürlich nur Weihnachten und Pfingsten gefeiert, aber die Heiligentage wurden meistens abgeschafft. Jetzt ist Arbeit eine der großen Wertvorstellungen, darüber hinaus das zuchtvolle Leben."
    Unreflektierte Biografien
    Was ist ein christliches Leben? Der Protestantismus gab darauf eine neue Antwort, bei der Arbeit und sittliche Selbstdisziplin eine entscheidende Rolle spielen. Aber die Frage ist älter, sie trieb schon die Menschen im Spätmittelalter um. Zeigte sich das christliche Leben in sichtbaren äußeren Werken oder in einer innerlichen Frömmigkeit? Wer konnte den Suchenden auf den rechten Weg weisen? Das Wort der Priester oder die eigene Lektüre der Heiligen Schrift? Luthers Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche war ein Markstein, aber es war kein absoluter Anfang, erklärt Volker Leppin:
    Volker Leppin: "Das gehört zu den Punkten, wo man aufpassen muss, dass man nicht den Heros Luther als den ganz Neuen nur preist. Vor Luther gab es 14 Bibelübersetzungen ins Deutsche, das heißt, es gab schon eine Bevölkerung, die Deutsch lesen wollte, die die Bibel gelesen hat, Erbauungsschriften gelesen hat. ‚Die Nachfolge Christi' von Thomas von Kempen war ein ungeheuer weit verbreitetes Buch, und damit war ein Milieu geschaffen, in das hinein Luther mit seiner Übersetzung und mit seinen Schriften kam. Die erste Wirkung von Luther lag tatsächlich weniger in seinen kirchenkritischen Schriften als in seinen Erbauungsschriften, man wollte etwas über Frömmigkeit erfahren, wie man sich auf den Tod vorbereitet, wie man sich in Christus hinein versenkt."
    Volker Leppin akzentuiert die Rolle Luthers neu. In seinen Augen ist der Reformator - ohne dass er dessen Leistung schmälern will - kein absoluter Erneuerer. Luther sei vielmehr ein Katalysator, der Entwicklungen des Spätmittelalters zusammenführt und auf eine neue Grundlage stellt.
    Leppin betont auf diese Weise stärker die Kontinuität zwischen Spätmittelalter und Reformation, wo die ältere Forschung zumeist den Bruch hervorhob.
    Die Tagung an der Universität Koblenz-Landau - so ein Fazit - machte verschiedene Tendenzen der Reformationsforschung sichtbar: die Fokussierung auf bestimmte Regionen - in diesem Fall der Südwesten -, sodann die Verbindungsmomente zwischen Spätmittelalter und reformatorischer Neuzeit, ferner neue Studien zum Massenmedium Flugschrift, und schließlich Korrekturen am Lutherbild.
    Insbesondere Volker Leppin bemängelt, dass die bisherigen Biografien zu unreflektiert an Luthers Selbstdarstellung in den Tischreden klebten. Er fordert ein entmystifiziertes Lutherbild, eine kritische Überarbeitung, die selbst vor dem legendären reformatorischen Schlüsselerlebnis nicht Halt macht.
    Volker Leppin: "Das sogenannte Turmerlebnis: Dass immer mal wieder berichtet wird, Luther habe in seinem Turm 'super cloacam', wie er sagt, oberhalb der Toilette seine reformatorische Entdeckung gehabt. Heute wird man wohl sagen können, dass die Rede von der Kloake in diesem Zusammenhang eine Metapher ist für die Erde insgesamt, und Luther selbst nie davon gesprochen hat, dass er in einem Turm war, das kann man an der Überlieferung nachvollziehen. Die ältesten Schichten sprechen davon, dass er auf dieser Kloake Erde seine Entdeckung gehabt hat, den Turm können wir also wahrscheinlich vergessen."