Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Reformforderungen an die EU
Die britische "mia san mia"-Haltung

Für die Briten war die EU nie das Friedensprojekt, das die Deutschen und die Franzosen in ihr sehen. Sie spielten schon immer eine Sonderrolle. Daher ist es kein Wunder, dass Premier David Cameron Reformansprüche stellt - vor der Volksabstimmung über den Verbleib in der EU.

Von Stephanie Pieper | 10.11.2015
    David Cameron spricht an einem Rednerpult, im Hintergrund die britische Flagge Union Jack
    Der britische Premierminister David Cameron nach seiner Niederlage beim EU-Gipfel in Brüssel. (picture alliance / dpa / Stephanie Lecocq)
    Michael ist ein junger Brite und eigentlich ein geborener Europäer: Er kommt nämlich 1993 auf die Welt – in jenem Jahr also, in dem der europäische Binnenmarkt in Kraft tritt. Der 21-Jährige studiert heute Philosophie, Politik und Wirtschaft; ganz Europa steht ihm zur Erkundung offen. Und doch trägt Michael an diesem Tag ein lilafarbenes T-Shirt mit dem Spruch: "Say No. Believe in Britain":
    "Nein" zur EU – und "Ja" zu einem wieder unabhängigen Großbritannien. Das ist der neue Slogan der Anti-EU-Partei UKIP, der Michael vor kurzem beigetreten ist. Er findet, die Europäische Union taugt nicht allzu viel:
    "Ich mag die EU nicht, weil sie ein bürokratisches Monster ist, weil sie anti-demokratisch ist - und weil wir nicht bestimmen können, wer in unser Land kommt."
    Michael ist dabei, als Parteichef Nigel Farage kürzlich in London den Startschuss gibt für die Kampagne der Rechtspopulisten vor dem britischen EU-Referendum: "in or out", drinbleiben oder die EU verlassen – das ist hier die Frage. Die Bürger werden darüber vor Ende 2017 entscheiden. Und der Europa-Parlamentarier und oberste britische EU-Feind Farage will davor vor allem die Zuwanderung – und auch die Flüchtlingskrise - für seine Zwecke instrumentalisieren:
    "Ich bin sehr froh darüber, dass wir nicht nur beim Euro nicht mitmachen, sondern dass wir auch beim Schengen-Abkommen und bei der gemeinsamen Asylpolitik nicht dabei sind. Gott sei Dank! Aber das macht uns nicht immun dafür, die Auswirkungen dieser Krise zu spüren."
    Riskantes Spiel
    Großbritannien spielt schon lange eine Sonderrolle in der EU, und der konservative Partei- und Regierungschef steckt in einem Dilemma: Ist David Cameron zu EU-freundlich, zahlt sich das zuhause, auch bei seinen eigenen Tories, nicht aus – ist er dagegen zu EU-feindlich, kriegt er Ärger mit den europäischen Partnern. Als der Premier Anfang 2013 das Referendum verspricht, beleuchtet er auch die komplizierte britische Haltung zur EU:
    "Es stimmt, dass unsere Geografie unsere Psychologie geformt hat: Wir haben den Charakter einer Insel-Nation. Wir sind unabhängig, direkt und leidenschaftlich in der Verteidigung unserer Souveränität. Wir können diese britischen Empfindlichkeiten so wenig ändern, wie wir den Ärmelkanal entwässern können. Auch deshalb gehen wir Briten praktisch an die EU heran - und nicht emotional."
    Großbritannien ist schließlich seit Jahrhunderten eine konstitutionelle Monarchie, war weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg besetzt und herrschte bis vor nicht allzu langer Zeit über ein Empire. Warum also sollte sich London heute aus Brüssel – oder aus Berlin – irgendetwas vorschreiben lassen? Diese britische "mia san mia"-Haltung vertreten auch viele Bürger – etwa George aus Ramsgate im Südosten Englands, der beim Referendum 1975 noch für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gestimmt hat. Aber zur EU, wie sie heute ist, sagt George nicht "Yes", sondern "No".
    Keine klare Mehrheit
    Für die Briten war die Europäische Union nie das Friedensprojekt, das die Deutschen und die Franzosen in ihr sehen. Und gemessen an aktuellen Umfragen ist keineswegs ausgemacht, dass sich die Bürger bei der Volksabstimmung mehrheitlich dafür entscheiden, dass ihr Land in der EU bleibt. Auch wenn der Londoner Tim sich dies wünschen würde, weil er ein leidenschaftlicher Europäer ist – und ein Austritt aus seiner Sicht ein Desaster wäre.
    Derweil versucht Premier Cameron, in Brüssel einen besseren Deal für Großbritannien herauszuholen. Das jedoch sieht Jeremy Corbyn, der frisch gewählte Chef der oppositionellen Labour Party, skeptisch. Er fürchtet, dass die EU immer mehr für die Arbeitgeber und immer weniger für die Arbeitnehmer da ist.
    Es bleibt also spannend vor dem EU-Referendum. Übrigens war der konservative Premierminister Winston Churchill – nach dem Zweiten Weltkrieg – sehr für die Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", aber bitteschön ohne die Briten. Und die "Times" fasste 1957 die britische Haltung zum Rest Europas – unwillkürlich - in einer vielsagenden Schlagzeile zusammen: "Schwerer Nebel über dem Ärmelkanal – Kontinent abgeschnitten". Nur wenn die Briten mehrheitlich für die weitere EU-Mitgliedschaft stimmen, wird sich der Nebel wieder lichten.