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Regierungsbildung
"Wir sind an einer Bruchstelle der Demokratie in Europa"

Die SPD steht unter Druck, ob sie erneute Gespräche mit der Union über eine Große Koalition aufnehmen soll. Johano Strasser, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, sagte im Dlf, die Partei könne sich der Verantwortung nicht mehr entziehen. "Es geht nicht nur um Deutschland, sondern auch um Europa."

Johano Strasser im Gespräch mit Sarah Zerback | 07.12.2017
    Johano Strasser, ehemaliger Chef des deutschen PEN
    Johano Strasser, ehemaliger Chef des deutschen PEN (picture alliance/dpa/Uwe Zucchi)
    Sarah Zerback: Wer seine Partei davon überzeugen will, dass die GroKo jetzt doch nicht mehr das Worst Case Szenario ist, das Schlimmste, was dem Land, der SPD passieren kann, muss kräftig davon schwärmen, was in den vergangenen vier Jahren alles gut geklappt hat. Das hat Martin Schulz seinen Genossen gestern noch mal mit auf den Weg gegeben, um sie auf den Parteitag heute einzustimmen und auf den radikalen Kursschwenk, den die Partei jetzt absegnen soll. Das wird eine harte Nuss; das haben nicht nur die Jusos im Vorfeld klargemacht:
    O-Ton Kevin Kühnert: "Dann geht es mir darum, dass ich möchte, dass da ein Parteivorsitzender ist, der darum weiß, dass er ein bisschen auch mit dem Wohlergehen und vielleicht auch ein bisschen mit der Existenz dieser Partei spielt."
    Zerback: Soweit Juso-Chef Kevin Kühnert heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Heftige Debatten, die wird es auf dem Parteitag durchaus geben.
    Am Telefon ist Johano Strasser, seit Jahrzehnten Mitglied der SPD-Grundwertekommission und inzwischen hauptberuflich Autor. Guten Tag, Herr Strasser!
    Johano Strasser: Guten Tag.
    Zerback: Von ergebnisoffenen Gesprächen hören wir mit der Union, die die Parteispitze der SPD heute vorschlagen will. Wie ergebnisoffen sind die wirklich?
    "Neuwahlen würde die Frustration der Wähler nur erhöhen"
    Strasser: Na ja. Es gibt für mich keinen Zweifel, dass man jetzt sich den Gesprächen nicht verweigern kann. Es ist eine neue Situation entstanden - im Wesentlichen, weil der verantwortungslose Zocker Lindner die schon weitgehend ausverhandelte Jamaika-Koalition hat platzen lassen. Jetzt gibt es drei Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit einer Wiederauflage der Großen Koalition, die nicht mehr so groß wäre, sondern eine eher normale Koalition, dann die Minderheitsregierung und Neuwahlen, und da muss man abwägen, was die Risiken bei den drei Alternativen sind. Ich fange mal an mit den Neuwahlen. Dort hat man das Problem, dass wahrscheinlich ein ganz ähnliches Ergebnis rauskommt wie jetzt. Das würde die Frustration der Wähler erheblich erhöhen. Es könnte sein, dass die AfD davon profitiert, weil sie sagt, die können sowieso nichts zustande bringen und jetzt müssen wir mal ran. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass das eine Bereinigung der Situation wäre.
    Minderheitsregierung hat in Deutschland keine große Tradition und für die Union wäre sie fast unzumutbar. Denn man muss sich vorstellen: Wenn die Union dann auf der Suche nach jeweiligen Koalitionspartnern bei einzelnen Projekten im Parlament sehr bald an die Grenze kommt, wo dann ihre eher konservativen oder rechtslastigen Vorschläge die Zustimmung der AfD finden und nur mit der AfD sie Mehrheiten kriegen kann, das will sie auf keinen Fall. Also muss man das ausschließen. Es bleibt nur eine Neuauflage der Koalition zwischen SPD und Union. Wenn ich Union sage, bin ich großzügig, denn die CSU sind im Augenblick als politische Kleingärtner völlig auf Bayern fixiert und auf die Landtagswahl. Die spielen praktisch nicht mit.
    Zerback: Die zählen wir vielleicht noch mal dazu, Herr Strasser. Jetzt gibt es ja nicht wenige, die sagen, das Überleben der Partei, der SPD hängt davon ab, ob sie in die GroKo gehen oder nicht. Hat die SPD da wirklich eine Wahl?
    Strasser: Ich glaube, dass sie sich der Verantwortung nicht entziehen kann. Wie das ausgeht, kann niemand genau voraussagen. Aber man kann auch nicht sagen, weil wir einmal gute Arbeit gemacht haben in der Großen Koalition - das bezweifelt ja niemand - und dies vom Wähler nicht anerkannt wird, können wir nicht noch mal eine solche Koalition eingehen, weil das dann wieder so kommt. Das ist gar nicht garantiert, dass es wieder so kommt.
    Zerback: Aber was ist denn geworden aus der großen Erneuerung in der Opposition?
    Strasser: So schnell kann die doch nicht werden.
    Zerback: Ist kein Grundgesetz mehr in der SPD.
    "Es geht ja nicht nur um Deutschland; es geht auch um Europa"
    Strasser: Nein. Ich glaube, dass man sich nicht nur in der Opposition erneuern kann. Man muss den Mut haben, auch in einer solchen Koalition die Arbeit der Partei ein Stück weit zu trennen von der Arbeit in der Regierung. Die Partei kann auch eine stärker diskutierende, programmatisch diskutierende Partei werden, wenn sie in einer Stunde der Not, die wir haben, hier diese Koalition wieder eingeht. Es geht ja nicht nur um Deutschland; es geht auch um Europa und es geht darum, um die große Frage, ob dieses Deutschland imstande ist, an der Neugestaltung der Weltordnung mitzuwirken oder nicht.
    Zerback: Da haben Sie jetzt gerade ein recht optimistisches Bild der letzten vier Jahre gezeichnet. Das sieht ja lange nicht jeder so. Die schlechten Erfahrungen als Juniorpartner, die sind jetzt wenige Wochen nach der Wahl schon wieder vergessen?
    Strasser: Das sind im Ganzen keine schlechten Erfahrungen. Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich dort registrieren müssen, was alles diese SPD als kleinerer Partner in dieser Großen Koalition durchsetzen konnte. Mindestlohn und so weiter, das brauche ich im Einzelnen jetzt nicht mehr aufzählen. Jeder weiß das ja.
    Zerback: … aber nicht gut verkaufen konnte.
    Strasser: Ja, na gut. Das ist eine Frage auch der Resonanz in der Öffentlichkeit und sicherlich kann man das sehr viel besser machen. Ich glaube auch, dass die Erfahrung, dass das so nicht ankam, obwohl man gute Arbeit gemacht hat, dazu führen wird, dass man in Zukunft sich gegenüber der Öffentlichkeit und in den Strategien der Gewinnung von Zustimmung anders verhalten wird. Aber das spricht ja nicht dagegen, dass man in dieser Situation eben doch sich der Verantwortung nicht verweigert. Sonst würde die SPD von der gesamten Medienlandschaft abgestempelt werden als verantwortungslose Partei.
    Zerback: Umgekehrt ist die Kehrtwende natürlich auch nicht besonders glaubwürdig. Das ist das Dilemma, in dem die SPD dann steckt.
    Strasser: Kehrtwenden sind etwas ganz Normales, wenn sich überraschend, völlig überraschend (übrigens auch für Sie und für alle Medien) so eine neue Situation aufgrund dieser Zockerei von Lindner eintritt. Niemand hat damit gerechnet.
    Zerback: Aber Sie als ein Mann, der sich seit Jahrzehnten mit Grundwerten ja sehr gut auskennt, muss man da nicht eingestehen, dass die SPD in dieser Situation, wenn sie diesen Weg geht, ihre Grundwerte auch ein Stück weit verkauft?
    "Wir sind an einer Bruchstelle der Demokratie in Europa"
    Strasser: Nein, ich glaube nicht. Das muss sie nicht machen. Sie muss in einer solchen Situation, wenn es darum geht, in einer ganz schwierigen Lage - wir sind an einer Bruchstelle, wir sind an einer Gefährdung der Demokratie in Europa -, in dieser Lage muss die SPD als die demokratische Partei, die den Nazis widerstanden hat, muss in dieser Lage Verantwortung übernehmen, um das Schlimmste zu verhüten.
    Zerback: Aber jetzt ist die Frage, wird das gelingen. Wird Martin Schulz das der Basis heute verkaufen können? Zieht die mit?
    Strasser: Ich kann sehr gut verstehen, welche Bauchschmerzen die Jusos damit haben, und wenn ich zurückdenke an meine eigene Jugend, hätte ich wahrscheinlich ein ähnliches Problem mit dem, was jetzt auf die SPD zukommt.
    Zerback: Können Sie sich das erklären, warum es einen Unterschied gibt, dass die Jungen in Ihrer Partei da so viel skeptischer sind als, ich sage mal, die älteren erfahrenen Kollegen?
    Strasser: Das ist schwer zu erklären. Möglicherweise kriegt man einen Blick auf längere Strecken, wenn man älter wird, wenn man selbst eine längere Strecke der Lebenserfahrung hinter sich hat.
    Zerback: Muss ja deswegen nicht richtiger sein, will ich nur noch mal kurz einwerfen, aber natürlich.
    Strasser: Nein, das ist häufig so, und ich glaube auch, dass die Mehrheit der SPD-Delegierten sich diesen Argumenten beugen wird. Sie wird aber verlangen, dass man hart verhandelt. Die Union muss wirklich der SPD Zugeständnisse machen, denn es ist sehr verständlich, dass viele große Bauchschmerzen bei dieser erneuten Auflage der Koalition haben. Aber ich glaube, dass man letzten Endes nicht darum herum kommt.
    Zerback: … sagt Johano Strasser, Autor und seit 1975 Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Herzlichen Dank, Herr Strasser.
    Strasser: Bitte sehr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.