Freitag, 29. März 2024

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Reicht ein Monat "Lockdown light"?
"Ich bin da noch optimistisch, dass wir die Trendwende sehen"

Sich einen Monat zusammenreißen, um Corona wieder unter Kontrolle zu bekommen - das war die Idee beim "Lockdown light". Ob die Fallzahlen aber tatsächlich so stark wie erhofft sinken, ist noch nicht sicher. Es komme auf das Verhalten jedes Einzelnen an, warnte die Modelliererin Viola Priesemann im Dlf.

Viola Priesemann im Gespräch mit Christiane Knoll | 13.11.2020
Zwei Weihnachtsmaenner mit einer Nasen-Mund-Schutzmaske, DEU, Berlin, 07.11.2020 *** Two Santa Clauses with one nose and mouth protective mask, DEU, Berlin, 07 11 2020
Eigentlich sollte der "Lockdown light" nicht zuletzt auch das Weihnachtsfest retten - inzwischen sieht Gesundheitsminister Spahn größere Feiern "in diesem Winter nicht mehr" (imago images / Jens Schicke)
Christiane Knoll: Mehr als 23.000 Sars-CV-2-Neuinfektionen in den letzten 24 Stunden - das ist ein neuer Rekord und trotzdem keine schlechte Nachricht. Warum? Weil die Kurve abflacht, obwohl der Lockdown gerade erst beginnt, sich in den Meldezahlen niederzuschlagen. Viola Priesemann ist Physikerin, am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen modelliert sie die Pandemie. Den aktuellen Zahlen kann sie durchaus etwas abgewinnen, hat sie uns vor der Sendung erzählt:
Viola Priesemann: Auf der einen Seite ist das eine gute Nachricht, weil das Wachstum sich ganz klar verlangsamt hat im Gegensatz zu dem, was wir im September, Oktober gesehen haben. Auf der anderen Seite würden wir auch hoffen, dass die Fallzahlen nun wirklich anfangen zurückzugehen. Der Lockdown ist ja jetzt schon seit einer Weile angekündigt. Man weiß, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung auch schon früher sein Verhalten verändert hat. Insofern könnten wir jetzt anfangen, den Effekt des Lockdowns auch schon zu sehen. Wir sehen die Verlangsamung. Das ist klasse. Jetzt hoffen wir sehr, dass in der nächsten Woche auch wirklich ein deutlicher Rückgang der Fallzahlen stattfindet.
Symptomfreie Infizierte befeuern die Ausbreitung
Knoll: Bevor wir da noch genauer drauf schauen, lassen Sie uns mal ganz kurz bei den Zahlen bleiben, die wir tatsächlich schon sehen. Und das ist zum Beispiel, dass es in den Schulen gar nicht so gut ausschaut. Immer mehr Schüler und Lehrer*innen infizieren sich. Es hat ursprünglich schon Diskussionen darüber gegeben, ob man die Schulen hätte mit einbeziehen müssen. Wie beurteilen Sie das jetzt, mitten im November? Hätte man die Schulen dazunehmen müssen? Oder kann das auch ohne Lockdown in den Schulen noch gut gehen?
Medizinstatistiker: Kaum Studien zur Wirksamkeit der Kontaktbeschränkungen
Dass rigorose Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie nicht unbedingt Erfolg bringen, zeige der Blick auf die Nachbarländer oder Spanien, sagte der Medizinstatistiker Gerd Antes im Dlf. Es fehlten Studien, die Steuerungsinstrumente für geeignete Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie liefern könnten.
Priesemann: Ja, das ist eine schwierige Frage. Die wurde ja auch sehr intensiv diskutiert. Wir sehen bei den Schulen und aber auch sonst ein zentrales Problem und das sind die asymptomatischen und die präsymptomatischen Übertragungen vom Virus. Und asymptomatische Fälle gibt es ja ganz besonders bei jüngeren Menschen vermehrt. Das heißt, Schüler in den oberen Klassen tragen da möglicherweise zur Ausbreitung bei, einfach nur, weil sie asymptomatisch sind und man gar nicht weiß, dass sie infiziert sind. Und das Problem, was wir haben in dem Moment, wo die Ausbreitung so außer Kontrolle gerät, wie sie jetzt außer Kontrolle ist: Es gibt mehr und mehr asymptomatische Träger, die gar nicht wissen, dass sie Träger sind, einfach weil die Kontaktnachverfolgung zusammengebrochen ist oder nicht mehr so effizient und so schnell funktioniert, wie sie vorher funktioniert hat. Insofern steigen dann die Anzahl von asymptomatischen Trägern überproportional. Es gibt also mehr und mehr Menschen, die gar nicht wissen, dass sie Träger sind, vielleicht sogar gar nicht Symptome haben. Und die befeuern natürlich die Ausbreitung, sei es in der Schule, sei es aber auch anderswo.
Partielle Schulschließungen wären "sehr hilfreich"
Knoll: Was dazu passt, sind ja auch die altersgetrennten Kurven, die Gruppe der 15- bis 18-Jährigen ist die, die am stärksten steigt?
Priesemann: Insofern wäre es sicherlich ein Beitrag, ein deutlicher Beitrag, wenn man diese Schulen und insbesondere die höheren Klassen schließen oder den Betrieb etwas zurückfahren würde. Man sollte da vielleicht noch mehrere Aspekte betrachten. Erstens ist Schulschließungen ja auch nicht nur ein ganz oder gar nicht. Das kann man nach Klassen differenzieren, man kann sich überlegen, ob man Schulen im Halbklassensystem führt. Man kann genauso überlegen, ob man das auch differenziert, je nachdem, wie hoch die Inzidenz in den einen oder den anderen Landkreisen sind. In Landkreisen, die derzeit noch unter 35 pro 100.000 liegen, ist es wahrscheinlich oder möglicherweise gar nicht notwendig, die Schulen zu schließen. In anderen wäre es dafür sehr, sehr hilfreich. Der Punkt, den wir in unseren Modellen klar sehen, ist: Damit die Fallzahlen deutlich zurückgehen, muss das R Richtung 0,7. Da reicht nicht die Eins, wir müssen wirklich deutlich drunter. Ansonsten bleiben die Fallzahlen ja einfach oben. Mit einem R von 0,7 halbieren sich die Fälle jede Woche, das heißt, von 200 wird es runter gehen auf 100, auf 50. Und das ist was, was wir brauchen, damit dieser Lockdown auch bald wieder vorbei ist. Insofern; jeder Beitrag zählt. Und wenn man sich entscheidet, die Schulen offen zu halten, dann muss man an anderen Teilen halt sehr stark kompensieren, um dieses R von 0,7 irgendwie zu erreichen.
Überlastung der Gesundheitsämter ist extrem kontraproduktiv
Knoll: Wo stehen wir denn jetzt im Moment?
Priesemann: Das ist natürlich regional ein bisschen verschieden das ist auch immer sehr schwer abzuschätzen. Aus unseren Berechnungen ist es leicht über eins und das passt ja auch relativ gut zu den Fallzahlen, die man sieht. Wir sind jetzt seit etwa zwei Wochen bei rund 20.000 mit leicht steigender Tendenz. Das ist ein wesentlich langsameres Wachstum, als wir es im September, Oktober noch gesehen haben. Aber noch sehen wir die Trendwende nicht. Aber da bin ich auch noch optimistisch, dass wir das in den nächsten paar Tagen vielleicht anfangen zu sehen.
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Wirtschaft, Gesundheits- oder Bildungssektor – viele Gesellschaftsbereiche stehen durch die Corona-Pandemie auf dem Prüfstand, kommentiert Michael Seidel. Lösungen müssten schlussendlich in den Parlamenten neu ausgehandelt werden – mit dem Zugeständnis Fehler machen zu dürfen.
Knoll: Es wird immer wieder betont, wie wichtig es ist, dass die Gesundheitsämter wieder die Kontrolle bekommen. Warum ist das aus Ihrer Sicht als Physikerin und Modelliererin so wichtig?
Priesemann: Ja, wir haben da eine recht ausführliche Studie gemacht, eigentlich sogar zwei; die von Sebastian Contreras ist auf arXiv und die von Mathias Linden im Deutschen Ärzteblatt vor kurzem erschienen. Und zwar sehen wir folgendes: Wenn die Gesundheitsämter nicht überlastet sind, dann sind sie schnell. Das heißt, sie können einen neuen Fall sehr schnell nachverfolgen. Das heißt, im Idealfall Innerhalb von ein oder zwei Tagen sind die Kontaktpersonen isoliert. Das heißt, die Gesundheitsämter sind dann schneller als das Virus. Wenn dann aber mehr und mehr Fälle dort auf den Tisch kommen, werden die unter Umständen langsamer. Und wenn man die Kontaktpersonen erst nach einer Woche oder gar nach zehn Tagen isoliert, ist es zu spät, dann haben die ja längst wiederum ihre Kontaktpersonen angesteckt.
Situation für die Politik noch nicht ganz einfach einschätzbar
Knoll: Kann man sagen, dass das so eine Art Kipppunkt ist, der bei den Gesundheitsämtern liegt?
Priesemann: Ja, das ist ein Kipppunkt. Also wir haben einen sogenannten metastabilen Zustand. Wenn die Fallzahlen niedrig genug sind, können die Gesundheitsämter sehr gut durch Testen und durch Kontaktnachverfolgung und durch die vorsorgliche Quarantäne zur Eindämmung beitragen. Sind die Fallzahlen zu hoch, dann fällt dieser doch sehr wirksame Mechanismus zur Eindämmung weg oder wird zumindest schlechter. Und dadurch fangen die Fallzahlen an zu steigen. Und je mehr sie steigen, desto schlechter werden die Gesundheitsämter. Es ist also ein selbstverstärkender Prozess. Je mehr Fälle da sind, desto mehr wachsen sie. Und das haben wir im September, Oktober hier in Deutschland auch genau so beobachtet.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Knoll: Am Montag werden die Ministerpräsidenten mit Angela Merkel eine Zwischenbilanz ziehen. Kann das noch klappen, dass der "Lockdown Light" Ende November zu Ende geht?
Priesemann: Also der Raum ist definitiv da. Ich hatte ja gesagt, in vielen Wellen, die effizient abflachen, sehen wir eine Halbierung der Fallzahlen in einer Woche. Das heißt von 200 auf 100 auf 50, dafür reichen ja eigentlich zwei Wochen. Ob das aber klappt, hängt ja nur zum Teil von der Regierung ab. Es hängt auch essenziell natürlich davon ab, was jeder einzelne und jede einzelne Person macht. Und dann kommt natürlich dazu, dass so eine Kurve, die man versucht zu bekommen, auch nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich da ist; das ist ja nicht so, dass man steil steigt und dann plötzlich steil wieder runter geht. Zwischendurch geht es einfach über diesen Buckel. Das heißt, in der Woche wissen wir wesentlich mehr, ob es reichen könnte oder nicht. Am kommenden Montag, denke ich, wird die Situation noch nicht ganz einfach einschätzbar sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.