Donnerstag, 28. März 2024

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Reihe: Gerechtigkeitsfragen im Theater
"Herero_Nama" am Schauspiel Köln

In deutschen Schulgeschichtsbüchern ist allenfalls eine Randnotiz: der deutsche Völkermord an rund 80.000 Herero und Nama während der Kolonialherrschaft in Namibia von 1884 bis 1915. Das Stück "Herero_Nama - A History of Violence" von Nuran David Calis ist eine vielstimmige Abrechnung.

Nuran David Calis im Gespräch mit Michael Köhler. Einleitung: Dorothea Marcus | 21.04.2019
Israel Kaunatjike (Mitte), Talita Uinuses und Israel Kaunatjike (Video) in "Herero_Nama - A History of Violence" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln.
Israel Kaunatjike (Mitte), Talita Uinuses und Israel Kaunatjike (Video) in "Herero_Nama - A History of Violence" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln. (David Baltzer)
Bunt leuchtet Licht durch die Kirchenfenster auf der Bühne. In weißen Kutten und Masken, angesiedelt zwischen Talaren der rheinischen Missionsgesellschaft und Ku-Klux-Klan, schreiten drei Schauspieler über die Bühne und zitieren aus Briefen, Erlassen, Verordnungen aus der Kolonialzeit, die unter anderem verkünden: "Die Prügelstrafe ist die einzige Strafe, die der Eingeborene als solche empfindet. Sie entspricht seinem Auffassungsvermögen."

Doch es geht nicht nur darum, das Leid der Opfer nachempfinden zu lassen - sondern zugleich zu zeigen, wie herablassend so ein Einfühlungsversuch ist. Deshalb wird die bedrückende Lehrstunde über Kolonialismus ergänzt durch Familiengeschichten von Herero-Aktivisten und rassistische Zitate aus deutschen Leitmedien von heute. Im letzten Drittel sitzen Aktivisten und Darsteller am Tisch und diskutieren die tiefe Verankerung des Kolonialismus im westlichen Unterbewusstsein, die bis heute das europäische Verhältnis zu Afrika bestimmt.

Ist also der Gerechtigkeit genüge getan, wenn das Stuttgarter Lindenmuseum Bibel und Peitsche des namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi zurückgibt, wie jüngst geschehen? Reicht die Restitution von Kulturgütern aus - oder müssen es wirklich Reparationszahlungen sein, wie die Aktivistin Talita Uinuses fordert?
Michael Köhler: Namibia war zwischen 1884 und 1915 eine Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Von 1904 bis 1908 wurden etwa 90.000 Angehörige der Herero und Nama getötet. In diesem Zusammenhang sprechen viele vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts.
Das Thema des Umgangs mit kolonialem Erbe und Kulturgut beherrscht gegenwärtig nicht nur die Museen und ihre Bestände. Auch die Politik hat sich dessen angenommen. Zum Umgang mit kolonialem Erbe und Kulturgut gab es Anfang April eine Anhörung des Bundestagskulturausschusses. Auch die Bühnen haben sich des Themas angenommen. Als Kunsträume haben sie die Freiheit, andere Fragen zu stellen und andere Antworten zu erzeugen.
Welche Fragen werden bezüglich Gerechtigkeit und Menschenwürde aufgeworfen, jenseits der Debatte um die Rückgabe geraubter Kulturgüter? Darüber habe ich mi dem Regisseur Nuran David Calis gesprochen. Er hat am Kölner Schauspiel "Herero - Nama" eingerichtet. Die Bühne erlaubt es, auch aussichtslose Kämpfe zu führen. Nuran David Calis, worum ging es Ihnen - die ganze Gewaltgeschichte zu zeigen?
Nuran David Calis: Wir müssen natürlich diesen Raum nehmen wie er ist. Er ist natürlich kein Gerichtssaal. Die Akteure und die Spieler und die Betroffenen aus den Bevölkerungsschichten sind dann ja auch keine Anwälte, Richter. Aber sie haben eine Biografie und können sich gegenseitig befragen und vielleicht eine gesellschaftliche Debatte anstoßen, wie wir mit Dingen der Vergangenheit umgehen über die wir nicht aufgeklärt worden sind. Und wie wir Zusammenhänge besser verstehen, die wir jetzt vielleicht als Bedrohung sehen wie zum Beispiel die großen Flüchtlingsströme aus Afrika. Dass es uns hilft, diese Zusammenhänge geschichtlich und gesellschaftlich besser einzuordnen.
Woher eigentlich Flucht und Vertreibung seine Quellen hat. Das war ein Weg an unserem Abend, das herauszubekommen: nach Afrika zu gehen, mit Biografien sich auseinanderzusetzen. In unserem Fall sind es die Herero und Nama, die unter der deutschen Kolonialgeschichte sehr gelitten haben, von denen wir in unserer Erziehung und Bildung - ich habe ja auch ein deutsches Abitur - weder in der Sekundarstufe 1 noch in der 2 informiert wurden, was damals passiert ist.
Nuran David Calis trägt legere Kleidung und blickt in die Kamera.
Der Regisseur Nuran David Calis (Costa Belibasakis)
Köhler: Höre ich bei Ihnen raus: Gerechtigkeits-Forschung, wenn Sie mit künstlerischen Mitteln gemacht wird wie Sie es tun als Bühnenkünstler, die Gerechtigkeitsvorstellungen müssen Opfer und Täter gemeinsam betreiben?
Calis: Es ist die Voraussetzung dafür, dass man eine gemeinsames Narrativ entwickelt. Opfer und Täter müssen in einen Raum gemeinsam und diese Geschichte miteinander aufarbeiten. Weil das Tragische an der Aufarbeitung ist, dass, wenn es keine Narrative, keine Erinnerungskultur gibt, hilft es uns nicht uns davor zu bewahren, dass vielleicht solche Gewaltakte immer wieder aufflackern. Im Grunde machen wir nichts anderes als eine Art Zukunftsforschung, wenn wir uns in die Vergangenheit begeben, um die Gegenwart dadurch besser zu verstehen.
"Wir merken, dass die Gegenwart uns schmerzt"
Köhler: Das ist wichtig, was Sie sagen: Der Gerechtigkeitsdiskurs muss auch die historischen Wunden aufzählen, er muss sie benennen, muss sie buchstäblich zeigen. Dazu zählt eben auch das Vergessen. Das heißt die Kunst kann eine Form von historischem Rechtsverständnis vielleicht beitragen?
Calis: Sie kann es auf jeden Fall nicht lösen, aber sie kann uns auf einen Kern führen, der vielleicht verloren gegangen ist in unserem Alltag, in unserer Gegenwart, der uns aber immer irgendwie beim Gehen, sagen wir mal wie ein Stein im Schuh irgendwie zwickt. Wir merken, dass die Gegenwart so wie wir sie empfinden, uns schmerzt, uns vielleicht nicht voranbringt, wir gegenüber anderen skeptisch sind.
Eine gesellschaftliche-zeitliche Tiefenbohrung mit künstlerischen Mitteln kann vielleicht diesen Stein sichtbar machen. Was dann mit dem Stein gemacht wird, das muss die Gesellschaft selber für sich entscheiden. Ein Theater kann nur den Finger auf die Wunde legen, wo es dann sozusagen brennt.
Köhler: Wenn ich an den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 denke - ein ganz wichtiger -, da haben Opfer zu Recht etwas erwartet, nämlich Gerechtigkeit. Aber was sie bekommen haben war Recht. Da sind zwei Dinge aufeinander getroffen, nämlich das Strafrecht des deutschen Rechtsstaates der über ein Unrecht entscheiden musste und auch das begegnet uns ja immer wieder. Eine Gelingens-Garantie kann es also nicht geben. Aber wie sieht dann die Lösung aus, die Sie beisteuern? Ein anderer Gerechtigkeitsbegriff vielleicht, der dann auch andere Menschen macht?
Calis: Es hilft einem Opfer ungemein, wenn der Gegenüber zunächst einmal sich dieser Geschichte annimmt. Weil man sonst immer sozusagen aus dem Nichts diese ganzen Sachen traumatisch schöpft und sich eigentlich sehr isoliert und allein fühlt. Also im Grunde ist es keine Lösung, aber es ist ein Weg hin zur Besserung, zur Wahrnehmung und zum gesellschaftlichen Schulterschluss. Recht auf dem Weg recht zu bekommen, aber es kann es noch nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich stelle das Theater nicht in so eine exponierte Position, dass es Recht sprechen könnte. Aber es kann ein Weg dorthin sein und zur Gerechtigkeit.
Theaterarbeit als gesellschaftliche Tiefenbohrung
Köhler: Es gibt einen berührenden Satz gegen Ende. Ich glaube es ist sogar der Schlusssatz: "Uns bleibt nur zu graben", sagt ein Darsteller, "wo wir stehen und bereit zu sein, etwas anderes zu werden als wir waren." Da ist viel von Zeitebenen die Rede, von Sein und Werden und waren, und es fängt an mit dem Wort des Grabens. Das heißt: die Suche nach Gerechtigkeit und Menschenwürde muss immer auch ein Stück Gerechtigkeits-Archäologie sein.
Calis: Genau. Das ist wirklich damit zu vergleichen, dass man wirklich unter dem Fußboden, auf dem man steht, auf dem wir als Gesellschaft stehen, anfangen uns in die Tiefe zu bohren und zu gucken, auf was für ein Fundament ist eigentlich unser Gesellschaftspakt gegründet. Unser Reichtum, unsere Infrastruktur, unser Leben miteinander. Und um diese Gesellschaftsstruktur, den Boden herauszubekommen, damit er nicht weggerissen wird oder kaputtgemacht wird, ist diese gesellschaftliche Tiefenbohrung fast schon archäologisch unheimlich wichtig in dieser Theaterarbeit.
Und dann, durch das Graben entsteht dann die Befragung und dann auch die Solidarität, die dann letzten Endes ein Theaterraum im besten Fall bei solchen Projekten leisten kann. Solidarität mit den Opfern unserer Gesellschaft - ohne sie noch einmal zu re-traumatisieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.