Donnerstag, 28. März 2024

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Reihe: Gerechtigkeitsfragen im Theater
Kleists "Der zerbrochene Krug" am Düsseldorfer Schauspielhaus

"Der zerbrochene Krug", Kleists berühmtes 1808 uraufgeführtes Lustspiel, führt eine korrupte Justiz vor. In der Regie von Laura Linnenbaum erhält das Stück eine neue feministische Wendung. Denn wie sieht es mit der Gerechtigkeit aus gegenüber dem eigentlichen Opfer des Abends, der jungen Frau Eve?

Laura Linnenbaum im Gespräch mit Michael Köhler. Einleitung: Dorothea Marcus | 23.04.2019
Der zerbrochne Krug Lustspiel von Heinrich von Kleist Regie: Laura Linnenbaum Bühne: Valentin Baumeister Kostüm: Ulrike Obermüller Musik: Justus Wilcken Dramaturgie: Felicitas Zürcher Auf dem Bild: Florian Lange, Andreas Grothgar, Cennet Rüya Voß, Rainer Philippi Foto: Sandra Then
Laura Linnenbaums Inszenierung von Kleists "Der zerbrochene Krug" in Düsseldorf (Sandra Then)
Eigentlich hält Gerichtsrat Walter bei Kleist das Licht der Aufklärung hoch. Er ist die demokratische Instanz, die kritische Selbstreflexion und unbeirrte Wahrheitssuche garantiert, während der ramponierte Dorfrichter Adam sich in abstruse Ausreden verstrickt. Walter wird aber in Laura Linnenbaums Inszenierung nach und nach zum korrupten Mittäter - und schließlich sogar zum Vergewaltiger.

Laura Linnenbaum hat dem in vielen Inszenierungen vernachlässigten Evchen ihre eigene Stimme wiedergegeben. Eigenhändig hat die Regisseurin deren Schlussmonolog wieder ausgegraben, der nach Goethes Uraufführung 1808 von Kleist gestrichen wurde - auf Goethes Anweisung hin. Evchen erzählt in Düsseldorf also endlich einmal selbst, was der Richter von ihr wollte an jenem Abend, als der Krug zerbrach.

Seit Linnenbaums Inszenierung kann man Kleists bitteres "Lustspiel" um den korrupten Richter und seine Handlanger wohl nicht mehr anders lesen als das erste #MeToo-Missbrauchs-Stück der Theatergeschichte.
Michael Köhler: In unserer Reihe "Denkfabrik Gerechtigkeit" über künstlerische Antworten auf politische Fragen der Gegenwart geht es nun um Machtmissbrauch an herausgehobener Stelle, nämlich bei Gericht. Es geht nicht um einen zerbrochenen Krug, sondern um ein zerbrochenes Leben, um Schädigung und Schändung und um gedecktes Unrecht. Eve, das Opfer, entsagt buchstäblich. Im Lichte der #MeToo-Debatte wird die Frage nach Machtmissbrauch und die Frage nach der stimmlosen Frau gestellt. Die Regisseurin Laura Linnenbaum habe ich gefragt: Welche Fragen haben Sie gestellt, welche Antworten haben Sie gegeben?
Laura Linnenbaum: Sie haben es ja gerade schon gesagt: Es handelt sich im Stück um den Machtmissbrauch einer Person, die vom Staat das Recht erhalten hat, über andere zu urteilen. Und der nutzt es im Verlauf des Stücks, obwohl er selbst zum Schuldigen geworden ist, extrem aus, dass er nun Recht sprechen darf. Da hat sich für uns die Frage gestellt: Das ist ja irgendwie hochaktuell, dass ein Mann in dem Fall konkret die sexuelle Unterwürfigkeit einer Frau ausnutzen kann, um sie in der Notsituation, in der sie war, ob nun gezwungen oder nur durch die Umstände gezwungen, dazu zu bringen, das zu tun, was er möchte, zu einer sexuellen Handlung zu bringen. Das kommt vor Gericht, und qua seiner Position, die kein anderer in Frage zu stellen sich traut, kommt er fast ungeschoren aus der Gesamtsituation heraus. Weil ihn seine Position schützt. Das schien uns exemplarisch, und in die Richtung haben wir dann Kleist gelesen.
Die Regisseurin Laura Linnenbaum, aufgenommen am 04.10.2016 auf der Probebühne des Puppentheaters Chemnitz.
Die Regisseurin Laura Linnenbaum (dpa-Zentralbild)
Köhler: Eine Position, die nicht in Frage gestellt wird, haben Sie gerade gesagt. Wenn wir über Recht und Gerechtigkeit nachdenken, heißt das wesentlich, so wie in der Demokratie auch immer, dass es eine Kontrolle des Rechts geben muss. Also immer auch die Möglichkeit, die Richter zu richten.
Strukturelle Macht versus gerechte Gesellschaft
Linnenbaum: Absolut. Hier wird das zur Disposition gestellt. Es ist nicht so, dass der Richter ganz allein handelt, also der Effekt von "Des Kaisers neue Kleider": Es gäbe eine Gesellschaft, die zumindest auf eine Gerechtigkeit pochen könnte und sehen könnte, dass hinter der Rechtsprechung Eigennutz steht. Aber letzten Endes sieht man, dass er strukturell die Macht hat, sich durchzusetzen. Ohne dass es noch eine höhere Instanz gibt, die überhaupt ein Interesse daran hätte, ihn daran zu hindern. Dass man das lieber aufrechterhält und ihn an seiner Position lässt, als dass man in Frage stellt, dass Gerichte und Recht generell auch Unrecht sprechen könnten.
Köhler: Also stehen immer mehr als nur zwei vor Gericht: nicht nur der Kläger und der Beklagte, sondern eben auch eine Gesellschaft, aus der das Ganze hervorgeht?
Linnenbaum: Absolut. Das Schöne ist, an diesem exemplarischen Fall von Adam im "Krug" wird ein Gesellschaftsbild aufgezeichnet, was wegkommt von dem Persönlichen: "Hat der jetzt wirklich Lust gehabt auf die Eve? Oder was war das für ein spezieller Moment?" - auf eine Grundstruktur, wo man merkt, dass da ein System marode geworden ist. Eine Machtposition kann ausgenutzt werden in jeder Sekunde, weil sie nur eine Deutungshoheit einer Legitimation ist, jederzeit Recht zu sprechen.
Köhler: Das heißt, man muss eigentlich, wenn man über Gerechtigkeit nachdenkt, aus diesem - ich sage es mal mit aufgeblasenen Backen - binären Code raus, dass es nur einen Kläger und eine Beklagte, einen Richter und einen Gerichteten gibt. Denn was mir aufgefallen ist bei Ihrer Inszenierung: Wenn das Recht auf den Wunsch nach Gerechtigkeit trifft, dann kommt leicht was unter die Räder, nämlich das Opfer selbst.
Linnenbaum: Ja, ich weiß nicht, ob das grundsätzlich so gesagt werden kann. Man kann ja auch Recht sprechen und nach gerechten Maßstäben handeln. Ich glaube die Problematik, die sich eher aufmacht, ist, dass eine unantastbare Rechtsinstanz, die sich nicht mehr beugen kann, benutzt wird. Ich glaube, hier geht es mehr darum, dass eine Zivilgesellschaft sieht, dass sie Machtstrukturen in Frage stellen muss, weil der Richter auch ihnen unterstellt ist und, dass das Ungleichgewicht von Macht, wenn eine einsame Machtspitze entsteht, in Frage gestellt werden muss, dass das immer eine Kontrollfunktion ist, damit das nicht ausgenutzt werden kann. Weil, egal welche Form von Macht, sofern man sie allein ausübt, kann in alle Richtungen missbraucht werden. Und dazu neigt man auch, die einsame Position da oben auszunutzen.
Köhler: Es geht in der Kunst in der darstellenden Kunst, in der Bühnenkunst, aber auch im Leben wesentlich um Machtstrukturen, das haben Sie betont. Es geht auch darum, wer buchstäblich das Sagen hat und wer nicht.
Theater als Plattform für Unterdrückte
Linnenbaum: Absolut. Das ist im Stück exemplarisch, weil Eve als Opfer, die den Tatverlauf am besten schildern könnte, das ganze Stück über zum Schweigen gebracht wird. Erst ganz am Ende, jedenfalls in der Urversion von Kleist, nimmt sie sich überhaupt das Sprachrecht und bekommt es nicht einmal richtig erteilt: Das versucht der Adam den ganzen Verlauf zu verhindern. Und das ist natürlich exemplarisch und zeigt, wie diese Sichtbarmachung von strukturellem Machtmissbrauch grundsätzlich funktioniert. Da ist, glaube ich, das, was sie vorhin angesprochen haben, wichtig: Wenn die Politik versagt, kann das Theater vielleicht doch was tun, indem es bestimmten Leuten, die sonst nicht zur Sprache kommen und denen das Stimmrecht verweigert wird, eine Plattform biete. Das ist in dem Stück exemplarisch durchbuchstabiert. Dass ausgerechnet die, die es betrifft, die was dazu sagen könnte, die Gehör bekommen möchte oder müsste, stumm gehalten wird.
Köhler: Ich glaube, das ist so etwas wie der Glutkern unseres Gespräches, denn Sie haben gerade gesagt, sie ist zum Schweigen gebracht worden, die Eve, das Mädchen. Zur Gerechtigkeit zählt aber, dass die Opfer nicht entsagen buchstäblich, also dass man Ihnen eine Stimme gibt. Das ist ein wichtiges Ziel.
Linnenbaum: Total! Und da ist auch die Frage, wenn wir über Theater sprechen, in welcher Form man das macht. Jetzt kann ich als Frau ein Stück über die unterdrückte Frau inszenieren, das zuspitzen, den Kleist benutzen, aber wie ist es in anderen Feldern? Kann man für jemand anderen überhaupt die Stimme ergreifen, reicht das Sichtbar zu machen, Strukturen aufzeigen aus einer Position, das nicht von sich selbst heraus sprechen, sondern nur aufdecken wollen? Denn ich glaube, wie weit, wie groß könnte man ziehen, dass man Räume schafft, Platz schafft, um hörbar zu werden, aus allen Positionen, aus allen unterdrückten oder Minderheitenpositionen heraus, ich glaube, das wäre ein total großer Anfang, um Gerechtigkeit überhaupt neu zur Dispostion zu stellen.
Köhler: Ich nehme zwei Punkte mit und ergänze einen dritten und bin auf ihre Zustimmung oder Ablehnung gespannt. Sie haben gerade ausführlich von den Machtstrukturen gesprochen. Zur Gerechtigkeit zählt, die auch offenzulegen. Das zweite war, jenen eine Stimme zu geben, die bislang stimmlos waren. Und das dritte wäre dann, wenn ich Sie recht verstehe, einen Raum dafür zu schaffen, einen angstlosen, furchtlosen Raum, der das überhaupt ermöglicht. Also geschützte Räume.
Raum für Unerhörtes schaffen
Linnenbaum: Ja. Geschützte Räume schaffen, die möglich machen, dass man seine Zurückstellung ausspricht, die aber auch eine Diskussion ermöglichen. Es war bei Kleist insofern interessant, als dass man, wenn man an so ein Stück herangeht, das Bedürfnis hat, eigentlich nicht nur die Missstände aufzuzeigen, sondern ein Gegen-Statement zu bieten. Das haben wir insofern getan, als dass bei uns die Eve zumindest zu Wort kommt und ihre Position aufzeigt und damit zeigt, dass es nicht nur an dem Vergehen von Adam liegt, sondern daran, wie sich das komplette Dorf verhalten hat. Aber was wäre eine Möglichkeit, wirklich aufzustehen, eine Gegen-Position stark zu machen, die ein Stück umdreht, die überhaupt nicht mehr die Position des Adam deutlich macht, überhaupt nicht einen Missbrauch wiederholen muss auf der Bühne - sondern die sagt: So, und jetzt gehen wir raus und verändern wirklich was? Wir verändern was in der Struktur des Theaters, wo auch bestimmte Missstände sind, wo Hierarchien genauso gelebt werden wie außerhalb. Also, wie schafft man exemplarisch Theater auch als Schutzraum, in dem was verhandelt werden kann und schon in der Verhandlung verändert werden könnte?
Köhler: Gerechtigkeit muss etwas Unerhörtes bieten.
Linnenbaum: Schöner Begriff! Gerechtigkeit muss die Stelle schaffen, den Raum schaffen, in dem Unerhörtes hörbar wird. Und wo dann wiederum wir uns fragen können als Adressaten: Was hat das mit uns zu tun? Dass man nicht sagt: Der Adam war es, und wir haben damit nichts zu schaffen. Sondern was wird da gesagt, was uns im Alltag oder in unserer Vorgehensweise, in unserem Unterstützen von solchen Prinzipien direkt betrifft und wo wir konkret was verändern können?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.