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Reihe Wasserzeichen
Wasser in Sprechakten (1/2) - Taufe und Weissagung

Wasser hat ein Gedächtnis und das kann es auch auf seine Weise artikulieren - davon sind mitunter Wissenschaftler und Wasserbegeisterte überzeugt. Natürlich gibt es auch viele Gegenmeinungen. Aber hat nicht alles, woran die Menschen glauben, eine eigene Realität?

Von Oya Erdoğan | 08.06.2014
    Ein Wasserfall im Steinwald von Kunming in China am 22. April 2009.
    Wissenschaftler versuchen mit dem Wasser ins Gespräch zu kommen. (picture-alliance / dpa / Peng Nian)
    Einem alten Glauben zufolge weiß das Wasser, was jemals auf Erden geschah, was sich gerade ereignet, und was die Zukunft bringen wird. Die mythischen Erzählungen ranken insbesondere um Meergottheiten, um uralte, gar vormythische Wesen, denen man nur mit großer List und viel Mut ihr Wissen abringen könne. Denn üblicherweise, so schildern es die Dichter, würden diese scheuen Wassergötter nur dann von sich aus sprechen, wenn man nichts von ihnen wissen will. In diesen alten Zeiten aber soll das Wasser noch manchmal, wenn es gelang, es festzunageln, in der Sprache des Menschen zum Menschen gesprochen haben.
    In unseren Zeiten, den aufgeklärten Zeiten, spielen Mythen eine andere Rolle. Immer öfter tauchen Wissenschaftler und andere Wasserbegeisterte auf, die von neu entdeckten, faszinierenden Eigenschaften des Wassers berichten. Unermüdlich versuchen sie, wie moderne Wassermystiker, mit dem Wasser wieder ins Gespräch zu kommen. Es geht ihnen wohl weniger darum, ihre persönliche Zukunft zu erfahren als vielmehr das Wesen des Wassers zu ergründen, seinem beredten Schweigen eine Sprache zu entlocken. Und weil sich keine sprechende Gottheit mehr aus dem Wasser heraus manifestiert, ist man bereit, sich diesmal umgekehrt auf die Sprache des Wassers einzulassen oder zumindest eine Sprache dazwischen zu finden. Die Übersetzer auf diesem Gebiet arbeiten nicht nur mit mathematischen Formeln und Molekülmodellen, auch Bilder von gefrorenen Wasserkristallen, getrockneten Tropfen oder Klangfiguren geben mit ihrer spezifischen Formensprache Hinweise auf die rätselhaften Fähigkeiten des Wassers.
    Bei experimentellen Versuchsanordnungen hat man festgestellt, dass Wasser zwar bereitwillig darauf reagiert, sich aber auch sehr eigenwillig dazu verhält. Wissenschaftliche Resultate mit exakt gleichen Ergebnissen sind kaum zu erlangen, sowenig wie es zwei gleiche Schneekristalle gibt. Das Element, dem einst die Kunst des Vorhersagens beschieden wurde, lässt sich selbst kaum vorhersagen. Aber es antwortet mit Sicherheit auf jede äußere noch so unscheinbare Veränderung.
    Im sichtbaren, natürlichen Bereich kann das jeder aus seiner gewöhnlichen Erfahrung heraus bestätigen. Winde und heftige Stürme schreiben dem Wasser ebenso eine Wellenschrift ein wie auch der zarteste Lufthauch seine Spuren zieht. Jede Veränderung des Flussbetts, jede Schwelle, jeder Stein und auch jedes Blättchen erwirken andere Strömungslinien im fließenden Wasser, wie jeder Tropfen, der ins Wasser fällt, mit konzentrischen Kreisen beantwortet wird. Und wo die Wasserhaut ganz glatt gespannt ruht, ist es die Spiegelung, deren Bild jede Regung ringsum wiedergibt. Über solche Phänomene staunt man nicht, sie gelten als selbstverständlich. Aber gerade dieser Wesenszug des Wassers, so selbstverständlich auf Veränderungen anzusprechen, veranlasste viele Forscher dazu, das Experimentierfeld auszudehnen und nicht nur in mikroskopische Dimensionen hinabzutauchen.
    Bemerkenswerte Ergebnisse lassen darauf schließen, dass Wasser auch die besondere Fähigkeit besitzt, subtilste Schwingungen und Stimmungen, ja sogar Gedanken wahrnehmen zu können und sie entsprechend zu spiegeln. Je nachdem welche Methode angewandt wird, zeigt das Wasser eine Tendenz, wiederkehrende, sich ähnelnde Strukturen innerhalb der jeweiligen Formensprache zu bilden. Interessant ist dabei, dass ein Kriterium zur Beurteilung dieser Bilder ihre spezifische Qualität ist. Die guten oder schlechten Einflüsse, denen das Wasser ausgesetzt ist, zeigen sich auf dem Fotopapier als schön oder unschön empfundene Muster. Das Wasser gilt aus vielfachen Gründen als das "beeindruckbare Medium" schlechthin, dem sich alles einprägt. Es hat auch diese unerklärliche Eigenschaft, dass es sich an Stoffe erinnern kann, mit denen es in Berührung kam. Damit sind nicht im Wasser aufgelöste Substanzen gemeint, die seinen Geschmack oder seine Konsistenz verändern, sondern tatsächlich eher so etwas wie eine intensive Begegnung, die einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Die Homöopathie zum Beispiel hat ein besonderes Verfahren entwickelt, das auf dieser Grundannahme basiert - und offensichtlich auch funktioniert.
    Wasser und die Theorie, dass es ein Gedächtnis habe
    Kein Wunder also, wenn vielfach die Meinung vertreten wird, dass Wasser ein Gedächtnis haben soll, das es auf seine Weise auch zu artikulieren vermag. Natürlich gibt es mindestens so viele Gegenmeinungen und Beweisführungen. Aber hat nicht alles, woran die Menschen glauben, eine eigene Realität? Das Gedächtnis verstehen wir ja als einen Aufbewahrungsort für Eindrücke, die sich über den Zeitpunkt ihres Einwirkens hinaus bewahren. Mit unterschiedlichen Methoden und Verwertungsabsichten werden dem Wasser über Gesteine, Pflanzen oder gepresste Mikroorganismen, über Klänge, elektromagnetische Felder oder Leitungssysteme neue Informationen eingeprägt. Aber wie lange merkt sich das Wasser diese Informationen?
    Das ist wohl von Wasser zu Wasser verschieden und mag von seiner Qualität abhängen. Wasser aus der Quelle der heiligen Fatima ist nicht wie Wasser, das aus der Leitung kommt und eventuell einer Erfrischung und Belebung bedarf. Die Zeitspanne der Merkfähigkeit variiert erheblich. Es ist auch von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis die Rede - was aber letztlich doch nur eines besagen kann: dass Wasser auch wieder vergisst! Die guten Einflüsse ebenso wie die schlechten. Sei es, dass es neue Eindrücke aufnimmt, die die alten verschieben, überlagern oder auslöschen. Sei es, dass es selber die ihm eingeschriebenen Spuren auflöst, indem es sich im natürlichen Fluss seines Kreislaufs und seiner Verwandlungen reinigt, und dabei gewissermaßen frei von Gedächtnisinhalten wird. Gedächtnislos? Ja, aber doch immer noch Wasser.
    Zwei Arten von Gedächtnisvermögen
    So betrachtet, müsste es grundsätzlich zwei Arten von Gedächtnisvermögen geben, die das Wasser besitzt. Zunächst eine Art partielles Gedächtnis, das variable Einflüsse aus seinem Umfeld aufnimmt und beizeiten wieder abstreift. Und dann ein Gedächtnis, welches das Wesen des Wassers selbst bestimmt, als Bauplan eines Wissens, das niemals ausgelöscht werden kann. In diesem Sinne wurde das Wasser in den Schöpfungsmythen auch als göttlicher Ursprung alles Seienden verstanden. Das Wasser trägt also bereits ein Wissen in sich und kann neue Botschaften und Einflüsse aufnehmen. Wie aber lässt sich das ominöse Gedächtnis dieses "sensiblen Chaos", wie Novalis das Wasser nannte, kultivieren, wie könnte man es zum Sprechen bringen?
    Die natürliche Sprache des Wassers ist, ähnlich wie die des Unbewussten, in Sinnbildern, die gedeutet werden wollen. Legen wir jedoch das Gewicht auf die Worte und versuchen wir einmal, dem Wasser über das Gesprochene und Gedachte näher zu kommen. Worte sind ein Bindeglied zwischen dem Bewusstsein und den Erscheinungen. In Bezug auf das Wasser geben sie nicht nur Auskunft über die gegenseitigen Einflussnahmen, sie sind auch der Aufbewahrungsort eines Gedächtnisses. Und wie schon beim Wasser selbst, dem ein Gedächtnis nachgesagt wird, stellt sich auch hier die Frage: Was für einen Sinn sollte ein Gedächtnis haben, wenn nicht den, sich zur Sprache zu bringen? Die Sprache ist ein analoger Spiegel im Denken über Wasser, das sich zum Teil verfestigt, zum Teil verflüssigt oder gar verflüchtigt hat; zugleich ist sie ein Speicher für all diese Gedankenbilder.
    Sehen wir uns dazu die Erscheinungen des Wassers in den Sprechakten der Taufe und der Weissagung an. Wie spricht es sich darin aus und was könnte dies besagen? Vielleicht enthüllt das Wasser da und dort ein offenes Geheimnis, führt auf fruchtbaren Umwegen in seine Verschlingungen mit dem handelnden Sprechen und Sagen, und verrät uns womöglich nicht mehr als das, was wir eigentlich - mit Platon gesprochen - schon immer gewusst haben. Der Sprechakttheorie John L. Austins zufolge unterliegen performative Äußerungen - das sind Fälle, in denen das Sagen ein Tun ist - gewissen Regeln, die, sofern sie eingehalten werden, zum Glücken der Sprechhandlung führen. Als ein Beispiel nennt er unter anderem die Taufe.
    Taufe
    Stellen wir im folgenden den Satz "Hiermit taufe ich dich auf den Namen Sophia!" in den Kontext der christlichen Kindstaufe, um ihn näher zu untersuchen. Der Priester, der die namensgebenden Worte spricht, muss den Konventionen gemäß dazu berufen und befugt sein. Die Gemeinde muss ihn in seinem Tun anerkennen. Er sorgt dafür, dass der vorgeschriebene Ablauf der Zeremonie und die Einhaltung des Rituals streng befolgt werden. Es dürfen keinerlei Unaufrichtigkeiten oder Verwechslungen im Spiel sein. Das richtige Kind muss den richtigen Namen bekommen. Dann wird die performative Äußerung ihren Sinn und Zweck erfüllen, nämlich dass alle Anwesenden die Namensgebung annehmen und sich dem entsprechend ausrichten.
    Die Bedingungen, die das Gelingen von Sprechhandlungen wie dieser erfordern, erinnern - der Vergleich ist dem Wasser selbst geschuldet - an das Abenteuer des Menelaos, wie er den Meeresalten Proteus dazu brachte, ihm die Zukunft weiszusagen. Er hatte, vermittelt durch die Göttin Eidothea, die Tochter des Proteus, keinen Zweifel daran, dass der Wassergott die Macht und Fähigkeit hat, ihm die Zukunft zu sagen. Er fügte sich den Anordnungen, den notwendigen Vorbereitungen, um mit Proteus Zwiesprache halten zu können. In seiner Absicht aufrichtig und rein in seiner Gesinnung erfährt er schließlich, was er wissen wollte und er richtet sich vollständig nach dem, was Proteus ihm sagt. Es sind die gleichen Bedingungen wie bei der Taufe, nur sind sie hier in andere Ausdrucksformen gekleidet. Eine Bedingung aber, die in beiden Fällen noch nicht zur Sprache kam, ist die Rolle des Wassers. Beim Ritual der Taufe kommt das Wasser selbst nicht zu Wort, obgleich es ein wichtiger, wenn nicht elementarer Bestandteil dieser Zeremonie ist, während es in der Weissagung, in der Gestalt des Proteus, der sprechende Akt selbst ist. Darum soll es im Folgenden gehen.
    Taufe, ein symbolischer Akt
    Zwei Aspekte an der Taufe sind es, in denen sich das Wasser lautlos ausspricht. Der eine Aspekt betrifft das Taufwasser, auf das wir noch zu sprechen kommen. Der andere betrifft die Taufe selbst. Die Taufe verweist sowohl als Handlung als auch in ihrer Wortbedeutung auf den gleichen Sachverhalt. Sie ist ein sehr alter und schlichter Ritus, der im Grunde nur aus dem Untertauchen ins Wasser und wieder Auftauchen aus dem Wasser besteht. Waschungen solcher Art dienten anfänglich dem Wohl und der Erquickung, später dem Heil und Segen. Diese Praxis entwickelte sich weiter und verknüpfte sich mit den Mysterien des Sterbens und Neugeborenwerdens. In dieser Form übernahm sie das Christentum, bevor sie die Taufhandlung weiteren Wandlungen unterzog. Während Johannes der Täufer nur Erwachsene taufte, hat Jesus von Nazareth keine Taufen vorgenommen, und die Kindstaufe selbst, die hier im Blickpunkt steht, wurde erst viel später, im dritten Jahrhundert eingeführt. Da das Kind aber von den Segnungen zunächst nichts mitzubekommen scheint, führten einige Sekten wieder die Erwachsenentaufe ein, wie etwa die Baptisten und Wiedertäufer.
    Im Zeremoniell der Kindstaufe fällt auf, dass sich die eigentliche Taufhandlung - das Untertauchen als symbolischer Tod und das Wiederauftauchen zu neuem Leben - verkürzt hat. Während der Priester die wesentlichen Worte "Hiermit taufe ich dich auf den Namen Sophia" ausspricht, besprengt er das Kind mit dem Taufwasser oder gießt ihm ein wenig desselben über den Hinterkopf. Eine intensive Berührung mit dem Wasser findet nicht mehr statt. Man wird zu Recht bemerken können, dass dies den Erfordernissen der Kindstaufe entspricht. Zudem sei ja der eigentliche Sinn der Taufe das Spenden des Sakraments, mit dem das Kind Teil der religiösen Gemeinschaft wird. Und daher genüge es, die Taufhandlung symbolisch auszuführen.
    Das Verb "taufen" verweist auf eine ähnliche Verkürzung. Es wird heute zumeist als "besprengen" verstanden, ist aber etymologisch von dem Adjektiv "tief" abgleitet und geht im Deutschen auf die Bedeutung von "tief machen" zurück, und zwar ganz konkret im Sinne von "tief ins Wasser ein- oder untertauchen". In der christlichen Verwendung bedeutet das Wort "taufen" soviel wie "durch Eintauchen, Untertauchen in Wasser in die Gemeinschaft der Christen aufnehmen". Die Taufe ist das feierliche Instrument der Benennung und damit Bannung in eine religiöse Zugehörigkeit. Es ist augenfällig, dass die performative Äußerung sich nicht ausschließlich an das Kind richtet, sondern zunächst nur an die Beteiligten des Zeremoniells. Diese könnten Einwände erheben oder die Taufe für ungültig erklären, wenn Normen gebrochen werden. Der Täufling selbst aber hat weder die Möglichkeit noch ein Recht zu widersprechen. Das Kind mag lauthals schreien, doch ändert dies nichts am Ablauf des Zeremoniells und so muss es sich in seine Rolle fügen und spielt im Ritual mit. Es wird ungefragt getauft.
    Könnte das getaufte Kind nicht ein Bild dessen sein, worin sich das Wasser spiegelt? Die Sprechhandlung, die mit dem Wort "taufen" die Taufe vollzieht und dabei das Wasser sowohl in die Anwesenheit zitiert als auch in eine Abwesenheit drängt, vermittelt hierin die ganze vorgängige Geschichte eines Wassers, das selbst - ungefragt und mitspielend wie ein Kind - ständig umgetauft wurde. Das Taufritual hat sich aus heidnischen Bräuchen entwickelt, bei denen Waschungen und Bäder in solchen Wassern vorgenommen wurden, von denen man annahm, sie seien von einer Gottheit bewohnt. Etwas von der verjüngenden Lebenskraft und reinigenden Macht der Wassergottheit sollte stärkend, segnend und heilend auf den Menschen übergehen. Bevor diese heidnischen Bräuche vom monotheistischen Glauben adaptiert wurden, hatten sie sich ihrerseits wohl aus einer direkten Verehrung des Wassers entwickelt. Denn das Wasser wurde anfänglich, wie es sich in vielen Schöpfungsmythen ausspricht, als etwas in sich Göttliches verstanden, als das Ursprüngliche schlechthin. Das Wasser, sein flüssiger Körper, war die Gottheit selbst, dessen göttlicher Körper.
    So ist nach Homer der titanische Gott Okeanos der uranfängliche Strom selbst, der die Grenzen der Erde umfließt, und als solcher ist er sowohl "Ursprung der Götter" als auch Ursprung aller lebendigen Flüsse und Quellen, die seine Söhne und Töchter sind. Mit dieser anthropomorphisierenden Vorstellung lassen sich auch die vielfältigen Charakterqualitäten des Wassers erklären, die sich in den Eigenschaften und Attitüden der jeweiligen Wassergötter und Wassergöttinnen ausdrücken. Den Quellen und Flüssen wurde die Kraft der Sprache und eine Art Wille zugeschrieben, durch den sie Opfer annehmen oder verwerfen können. Diese Wasser können segnen und heilen, ebenso aber vermögen sie zu erschrecken oder vernichtend zu wirken, vor allem wenn man ihnen keinen gebührenden Respekt und keine Achtsamkeit entgegenbringt.
    Wasser und Gottheiten
    Im Laufe der Menschheitsgeschichte wandelt sich die Vorstellung dessen, was Wasser ist, ab. Gottheiten, die anfänglich das Wasser selbst waren, wurden in abgeschwächter Form nur noch zu Bewohnern des Wassers. Die fortschreitende Entgöttlichung des Wassers in späteren griechischen sowie endgültig in den monotheistischen Vorstellungen mündet schließlich über die Aufklärung bis hin zu den Kläranlagen unserer Tage in die weitverbreitete Auffassung, dass Wasser ein profaner Stoff sei, etwas, über das man auch achtlos verfügen kann. Allerdings hat das Wasser, insbesondere von Flüssen und Quellen, im Glauben vieler Völker - auch heute noch - übernatürliche Eigenschaften. Man denke nur an so heilige Flüsse wie den Ganges und den Amazonas, oder an die heilkräftigen Quellen, von denen die vielleicht bekannteste im Wallfahrtsort Lourdes gelegen ist. Sie zieht hunderttausende Pilger an, die daran glauben, dass dieses Quellwasser eine wundersame Heilung ihrer körperlichen Leiden vollbringen kann. Schon seit Alters her suchen Menschen göttlichen Beistand, wenn sie sich in Schwellenzuständen wie Ausweglosigkeit, Krankheit, Tod oder vor der Geburt eines Kindes befinden. Und genau da sind die neuralgischen Punkte, an denen neue oder erneuernde Glaubensrichtungen ansetzen.
    Mit jeder neuen Religion oder religiösen Bewegung finden gewöhnlich entscheidende Umwidmungen statt, um sich vom Alten betont abzusetzen. Mit der Durchsetzung des Monotheismus wird natürlich der Glaube an andere Götter, zumal an Natur- beziehungsweise Wassergötter unhaltbar. Das reißt eine Lücke auf, die der all-eine Gott als Person zunächst nicht dadurch füllt, dass er selbst in allen Erscheinungen anweist. Indem er sich von der materiellen Welt ablöst, konstituiert sich diese allererst als etwas Gegenständliches, das er zwar durchwalten kann und über das er verfügt, das er aber nicht mehr selber ist. Doch der uralte Glaube, dass Wasser wundersame und heilspendende Fähigkeiten hat, ist durch solche Vergegenständlichung nicht gänzlich aufzulösen, abgesehen davon, dass die nutzbringenden Eigenschaften des Wassers ja weiterhin den Menschen dienen sollen.
    Das hat nun zur Folge, dass es der allmächtige Gott selbst ist, der das Wasser, und zwar ausgewähltes Wasser, segnet. Solche Segnungen können dann auch von Engeln und später von Priestern in seinem Namen durchgeführt werden. Im Johannesevangelium etwa ist es ein Engel, der das Wasser im Teich von Bethesda segnet. Heiden hatten vormals die heilende Kraft dieses Teiches ihrem Gott zugeschrieben, der seine Gegenwart im Aufrühren des Wassers kundtat. Die jüdische Religion übernimmt diese Vorstellung, ersetzt aber die Wassergottheit durch die Gestalt des Engels. Die bestehende Form wird beibehalten. Ihre Bedeutsamkeit aber wird mit einem neuen Inhalt gefüllt, der sich insbesondere durch neue Namensgebungen auszeichnet, also durch Worte, die Werte setzen. Die ehemaligen Gottheiten werden auf diese Weise dämonisiert oder verdrängt, damit der neue Gott an ihre Stelle treten kann. Aus einer anderen Perspektive betrachtet geht es um ein vorhandenes, auch kulturelles Gedächtnis, das ausgelöscht werden soll, damit ein neuer und besserer Sinn seinen Raum darin einnehmen kann. Damit verbunden sind zumeist groß angelegte Umdeutungsrituale, die als solche aber nicht immer zum Vorschein kommen, sondern sich nur implizit in der Umbenennung, im Umtaufen vollziehen.
    Die Taufe als eine Handlung, die aus dem Umgang mit Wasser hervorgegangen ist, wurde also auf das Wasser selbst angewandt. Insofern es stets mit neuen Deutungen belegt und neu bewertet, gleichsam ungefragt konvertiert wurde, hat man es umgetauft. Und die alten Götter als unerwünschte Vorstellungen, die dem Wasser anhafteten, wurden gleichsam in ihrem eigenen Element ertränkt, damit das Wasser befreit werde: bereinigt, neugeboren - und darin erhofftermaßen erinnerungslos -, um es in einen neuen Sinnzusammenhang treten zu lassen. Dies zeigt sich im Umgang der Menschen mit Wasser, in ihren entscheidenden Umwertungen, im Vollzug der Bräuche und ihrer Anpassung an herrschende Normen, Glaubensmeinungen und Religionen. Die Erinnerung an die göttliche Macht, die man dem Wasser einst zugeschrieben hatte, sei diese nun dämonisch unheilvoll oder wundersam mildtätig, verblasste zwar, doch wurde sie niemals endgültig ausgelöscht. Ein Gedächtnis hat sich bewahrt, wem aber gehört es?
    Verwandlung von gewöhnlichem Wasser in Taufwasser
    Betrachten wir das Ritual, wie gewöhnliches Wasser in Taufwasser verwandelt wird. Es wird zumeist in der Osternachtliturgie von seinem gleichsam profanen Zustand gereinigt, indem es am Zeremoniell teilnimmt und religiös besprochen wird. Somit wird es zu einem gesegneten Wasser, mit dem später in den Taufritualen die Täuflinge besprengt werden. Solche Besprechung des Wassers erscheint wie eine aktualisierte Umtaufung, es entspricht einer Neubenennung und Neuausrichtung dieses Wassers. Nach der Umwandlung haben wir es nicht mehr mit gewöhnlichem Wasser zu tun, sondern mit auserwähltem Wasser, das von Gottes Segen erfüllt ist und sich darin erheblich vor anderen Wassern, wie Leitungswasser, Mineral-, Regen- oder Quellwasser auszeichnet. Ohne hierin eine magische Praxis sehen zu wollen, gehen wir davon aus, dass das Wasser diese Zuwendung annimmt. Und wenn man es nach dieser befragte, würde es vielleicht sogar mit einem besonders schönen Tropfen- oder Kristallbild antworten. Wie immer die Antwort ausfiele, sie entspräche einer Spiegelung der Stimmung bzw. der Schwingungsenergien, die das Wasser während seiner Besprechungszeremonie wahrgenommen und aufgezeichnet hat. Doch wie es keine zwei gleichen Tropfen, keine zwei gleichen Schneekristalle gibt, wird auch dieses Stimmungsbild einzigartig und nicht wiederholbar sein. Wie lange das Wasser Eindrücke speichern kann, hängt neben seiner Qualität auch von der Schwingungsstärke einer Information ab. Das einmal eingeprägte Erinnerungsbild kann von neuen Energien beeinflusst werden, es soll aber auch "zurückpendeln" können, wenn diese Einflüsse sich entfernen.
    Das Wasser kann also die subtilsten Einflüsse aufnehmen und sie wiedergeben. Dieses Phänomen ist nicht gänzlich unvertraut. Es ähnelt der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Wie der Säugling schon im Mutterbauch, umgeben von Wasser und selbst noch fast Wasser, die Stimmungen der Mutter direkt mitbekommen hatte, nimmt er nach seiner Geburt auch ihre Stimmungen wahr als ob sie seine eigenen wären. Wenn es nun, wie wir am Beispiel der Taufe sehen, möglich ist, dass Wasser auf Besprechungen und Rituale reagiert, so liegt die Vermutung nahe, dass auch der Mensch, der etwa zu zwei Drittel aus Wasser besteht, sich wie ein solcher Resonanzboden verhält. Wie würde sich - so betrachtet - die Taufzeremonie mit ihren Sprechhandlungen darstellen?
    Ein wesentlicher Sinn und Zweck des religiösen Rituals ist es, eine Verbindung zu stiften, das Gefühl einer Übereinstimmung aller Anwesenden, die sich gemeinsam auf Eines hin ausrichten. Das Einzige aber, worin - neben dem vereinigenden Glauben - tatsächlich eine Übereinkunft herrschen könnte, sind die äußeren Bedingungen, die für jeden nachvollziehbaren und überprüfbaren Fakten des Ereignisses. Während alle Beteiligten des Zeremoniells äußerlich das Gleiche erfahren, erlebt jeder einzelne entsprechend seiner Verfassung und Einstellung andere Nuancen des Geschehens. Manche erleben die Feier als harmonisch, andere aber als dissonant, wieder andere als langweilig, einige könnten sich an einem falschen Tonfall oder einer unangebrachten Geste des Priesters oder irgendeiner anderen Person reiben, wieder andere könnten von einem Wort, das ihnen plötzlich eine Assoziation weckt, abgelenkt werden, und wären gedanklich abwesend, und so fort. Und selbst wenn gleiche Gefühle, etwa der tiefen Rührung, auftauchen, so bleiben diese immer die eigenen Gefühle mit ihrer besonderen Prägung. Dieses je individuelle Wahrnehmungsbild kann es nur sein, das sich im körpereigenen Wasser niederschlägt. In diesem Wahrnehmungsbild werden die Einwirkungen der konkreten sinnlichen Eindrücke ebenso enthalten sein wie die Gedanken, die diese werten und beurteilen und dementsprechende Gefühle auslösen.
    Gedanken und Gefühle haben die Eigenschaft, dass sie etwas Bestimmtes vermitteln oder sagen wollen, wenn sie im Bewusstsein auftauchen. Sie können aber auch das Bewusstsein trüben und gegebenenfalls verzerren, etwa als übertriebene Begeisterung, vehemente Ablehnung oder festgefahrene Erwartungshaltung. So wird vielleicht eine tatsächlich vorhandene positive Grundstimmung während des Zeremoniells nicht wahrgenommen, weil subjektiv empfundene Störfaktoren den ganzen Raum für sich beanspruchen und das Bewusstsein besetzen. Das Wasser wäre dagegen mit einem ungetrübten Bewusstsein zu vergleichen. Wasser hat ein Bewusstsein wie ein klarer Spiegel. Es wird keine Gedankenfilter haben, die wie Gerinnsel den Fluss der Wahrnehmung stören, weshalb es so etwas wie eine reine Aufmerksamkeit ist, der nichts entgeht.
    Oya Erdoğan ist 1970 in Akyazı in der Türkei geboren. Sie studierte Philosophie und Orientalistik in Wien und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Istanbul. Ihr philosophischer Text Wasser, über die Anfänge der Philosophie erschien im Jahr 2003. Der Essay , den Sie heute in der Sendereihe „Wasserzeichen" hören, stammt aus dem Jahr 2006.