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Reise-Tagebuch
10.000 Kilometer Europa

Für den Historiker Wolfgang Schmale reicht Europa von Kanada bis nach Usbekistan. Das klingt kurios, hat aber nach der Lektüre seines Bandes mit Reise-Tagebüchern durchaus Sinn. Auch deshalb hat er das Buch "Mein Europa" getauft.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Europa, wir haben es in der Schule gelernt, Europa ist ein Subkontinent der eurasischen Landmasse, der sich zwischen dem Ural und der Biskaya, zwischen Nordkap und Bosporus erstreckt. Wolfgang Schmale hält diese Begriffsbestimmung für ergänzungsbedürftig. Für ihn ist Europa nicht bloß ein geografisches Territorium, sondern vor allem auch: ein Erzählraum.
    "Europa ist und bleibt ein riesenhafter "Roman", in dem Hunderte, vielleicht Tausende Geschichten zusammengefädelt werden (…) Geschichten voller Interpretationen, Einseitigkeiten, Kleinlichkeiten, Großzügigkeiten, Mythen, Legenden, Verleugnungen, Überhöhungen, Grausamkeit, Aggression und Poesie. Europa erzählt sich immer wieder neu und anders, es wird erzählt, immer wieder neu und anders."
    Wichtige Erzählungen
    "Zuerst ist es ein wahrscheinlich überraschender Akzent, nicht einfach von europäischer Geschichte zu sprechen, sondern Europa als Roman zu bezeichnen. Mir ist es wichtig, dass im Grunde genommen alle Menschen, die in Europa leben, durch ihre Erzählungen, ihre individuellen, aber auch durch die ihrer Familien oder der Gemeinschaften, denen sie angehören, zu diesem Europa beitragen. Man sieht es ja an den Fragen über Erinnerung, über Opfer- und Täterschaft, dass die Erzählungen eine ganz, ganz große Rolle spielen. Deshalb denke ich, dass Europa im Wesentlichen über Erzählungen, die miteinander verknüpft werden, entsteht."
    Was erzählt Wolfgang Schmale über Europa? Zunächst einmal fällt auf, dass der gebürtige Unterfranke den Begriff "Europa" äußerst großzügig interpretiert. Die kanadische Provinz "Quebec" etwa würde kein vernünftiger Mensch zu Europa zählen, Schmale allerdings hat zwischen Montreal und Kap Gaspé an der Atlantikküste unzählige Relikte französischer Kultur, französischer Lebensart gefunden – Relikte, die es zumindest nicht vollkommen aberwitzig erscheinen lassen, bestimmte Teile Kanadas dem europäischen Erfahrungshorizont zuzurechnen. Oder Usbekistan. Der zentralasiatischen Republik widmet Schmale einen der längsten Texte seines Buchs. Der Autor berichtet von der Freundlichkeit der Menschen zwischen Taschkent und Buchara, von den imposanten Baudenkmälern Samarkands, von der Lässigkeit, mit der die Menschen an der früheren Seidenstraße den Islam interpretieren, und vom vergleichsweise hohen Standard des Bildungssystems in der einstigen Sowjetrepublik. Hier kommt wiederum Europa ins Spiel. Denn Usbekistan, geografisch zur Gänze in Asien gelegen, ist über den zarisch-russischen und vor allem den sowjetischen Einfluss stark europäisch geprägt.
    "Die Sowjetunion forcierte das Ausbildungswesen …"
    … hält Schmale fest.
    "Institutionell und formal stand die Sowjetunion durchaus in der Tradition der europäischen Aufklärung."
    "Wir müssen uns diesem Aspekt ganz nüchtern stellen. Der Sozialismus als politische Doktrin ist ein Kind der Aufklärung, wie auch die Demokratie ein Kind der Aufklärung ist. Gerade, was Ausbildung und Fortschritt durch Bildung, durch Lernen angeht. Wir sollten uns vor Augen halten, dass die Sowjetunion neben allem Negativen, auf das immer zuerst geschaut wird, auch sehr viele positive, kulturelle Entwicklungsleistungen mit sich gebracht hat. Und die Europäisierung weiter Teile Asiens ist eben dank der Sowjetunion geschehen."
    Hegemoniale Männlichkeit
    Am Beispiel Usbekistans räsoniert Wolfgang Schmale über die Ambivalenzen der europäischen Aufklärung, er thematisiert aber auch die fließenden Übergänge, die Orient und Okzident gerade in Zentralasien miteinander verbinden. In seinen oft recht fragmentarischen Reisenotizen wendet sich der in Wien lehrende Historiker aber auch den Zentren Europas zu, der Toskana und dem Burgund zum Beispiel, geschichtsträchtigen Regionen mit einem mehr als reichen kulturellen Erbe. Ein eher kürzerer Essay ist der "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ gewidmet: Paris. Der gelernte Gender-Historiker Wolfgang Schmale flaniert durch die französische Kapitale natürlich mit anderem, kritischerem Blick als der gemeine Städtetourist, der sich mit einem Besuch im Louvre und vielleicht dem einen oder anderen schwelgerischen Blick vom Montmartre aus über die Pariser Dächerlandschaft zufriedengibt. Für Schmale manifestiert sich im Pariser Stadtbild vor allem ein städtebauliches Konzept "hegemonialer Männlichkeit“:
    "Da ich mich mit der Geschichte von Männlichkeit und Weiblichkeit auch in der Topografie von Städten beschäftige, fällt mir in Paris schon sehr stark die männliche Gestaltung des öffentlichen Raumes, die Besetzung des öffentlichen Raumes eben nicht nur mit Denkmälern, sondern mit ganzen kilometerlangen Strecken voller Verehrungsorte der vermeintlich großen Männer der Geschichte ins Auge."
    Wolfgang Schmale wirft einen erfrischend unsystematischen Blick auf Europa in seinen Reisetagebüchern. Es ist gerade das Skizzenhafte, das Unausgearbeitete, das den Texten dieses Bandes ihren nicht ganz unspröden Reiz verleiht. Eines freilich lehren Schmales Texte: Europa ist erstens größer als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, und zweitens ist dieser Kontinent zu buntscheckig und heterogen, um die Definitionsmacht darüber, was ihn ausmacht, den EU-Bürokraten allein zu überlassen.
    Wolfgang Schmale: „Mein Europa. Reistagebücher eines Historikers“
    Böhlau Verlag, 278 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978-3205794745