Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Reiseliteratur
Der Geruch nach Abenteuer

Der amerikanische Romancier John Dos Passos, geboren 1896, war erst 25 Jahre alt, als er sich auf die Reise durch den Kaukasus und Persien bis nach Damaskus begab. Weitestgehend frei von Ressentiments und Klischees schildert er seine Erlebnisse in "Orient Express".

Von Tobias Lehmkuhl | 13.01.2014
    Blick auf die Hagia Sofia in Istanbul.
    Vom damaligen Konstantinopel startete John Dos Passos seine Rundreise. (Marius Becker/dpa)
    "Mit jedem Tag werden die Berge karger und steiniger, der Zug wird immer langsamer, und die Stationsvorsteher haben immer längere Schnauzbärte und immer ungepflegtere Uniformen, bis wir schließlich zwischen einem hellgrünen Meer und gelben sonnenverbrannten Landzungen dahinfahren. Plötzlich sind wir zwischen senffarbenem alten Gemäuer gefangen, das Gleis verläuft zwischen Müllbergen und Zypressen. Der Zug bewegt sich kaum noch, er hält fast unmerklich, als stünde er auf einem Abstellgleis. Sind wir...? Nein. Doch. Das muss es sein... Konstantinopel."
    Und das ist es auch: Konstantinopel. Allerdings nicht mehr lange, dann wird diese Stadt ihren Namen ändern, und nicht nur das. Die Verhältnisse in Griechenland, der Türkei und dem gesamten Vorderen Orient ändern sich Anfang der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts grundlegend. Es sind Nachwehen des Ersten Weltkriegs, und wer mit John Dos Passos lesend unterwegs ist, bekommt sie hautnah zu spüren: Gerade in Konstantinopel tummelt sich zu dieser Zeit ein einzigartiges Völkergemisch, Griechen, Türken, Juden, Armenier und vor allem von der Revolution vertriebene Russen. Religionen prallen ebenso auf einander wie politische Weltanschauungen. Dos Passos ist gar Zeuge, als in seinem Hotel der aserbaidschanische Gesandte einem Anschlag zum Opfer fällt.
    "Ein Mann mit Brille und glattem Kinn, ein bolschewistischer Spion, trat direkt vor ihn hin und schoss. Der Kellner, der die Drinks serviert, ist verzweifelt. Alle sind gegangen, ohne bezahlt zu haben."
    Und so liegt über "Orient Express" ein Hauch von Pulverdampf, der Geruch nach Abenteuer. Tatsächlich war Dos Passos, geboren 1896, erst 25 Jahre alt, als er sich auf diese damals wie heute nicht ungefährliche Reise durch den Kaukasus und Persien bis nach Damaskus begab. Er folgte dem Lockruf, der seit jeher vom Orient ausging, aber es gelingt ihm, offenen Auges durch diese Landschaften zu reisen.
    Dos Passos ist frei von Ressentiment und in der Lage sich von eigene Erwartungen und vorgeprägten Bildern, die jeder Reisende unweigerlich mit sich herumträgt, weitestgehend frei zu machen. Ihn überkommt Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es, wie er schreibt, ja selbst im Orient wimmele. Sein Blick ist der der Kamera die registriert, wertfrei. Dabei verlässt ihn allerdings nicht der Witz, und wenn "Orient-Express" etwas Filmisches an sich hat, dann steckt darin die Filmkunst und die Komik eines Buster Keaton:
    "Ich hatte eine Zeitung ausgebreitet und Insektenpulver in die Ecken der oberen Koje gestreut, in der ich eingezwängt zwischen anderen Schläfern lag. Die Wanzen fanden das Pulver ebenso stimulierend wie Schnupftabak, aber das Zeug brannte in den Augen und schnürte mir fast die Luft ab, bis mir nichts anderes übrigblieb, als in das Gepäcknetz zu klettern, das in den überdimensionierten russischen Zügen zum Glück sehr groß und robust ist. Dort hing ich, nur von den akrobatischeren Wanzen angeknabbert, und während sich mir die Stange in den Rücken bohrte und das Insektenpulver jeden Atemzug vergiftete, redete ich mir ein, dass dieses Unterwegssein genau das Richtige für mich sei."
    Anders als der Titel erwarten lässt, ist Dos Passos nicht nur mit dem Zug unterwegs, über weite Strecken nutzt er das Auto, ein zwar wanzenfreies, aber nicht unbedingt zuverlässiges Gefährt zu jener Zeit. Als ihm hinter Babylon das Benzin ausgeht, muss er zu Fuß weiter nach Bagdad laufen. Die politische Weltlage ist zu diesem Zeitpunkt in den Hintergrund getreten, und die Erfahrung der Landschaft, dass Gespräch mit den vielen zufälligen Reisebekanntschaften dominiert die Erzählung. Zuweilen notiert Dos Passos die Gespräche wie ein Reporter, der O-Töne sammelt und die Dinge sich selbst erklären lässt. Er selbst flicht nur hin und wieder ein, zwei Sätze ein, die die Sache klug auf den Punkt bringen:
    "Es ist der Westen, wo das Blut heiß in den Adern fließt und die Welt ungeordnet und romantisch ist, wo phantastische, unerwartete Dinge passieren. Hier ist alles versucht und erfahren und verschlissen worden."
    Bagdad erregt nicht unbedingt Dos Passos‘ Interesse, umso mehr aber tut dies die Wüste. Von der Hauptstadt des zukünftigen Irak aus macht er sich mit einer Kamelkarawane auf den Weg nach Damaskus. 36 Tage dauert dieser Abschnitt seiner Reise, und so stark und unmittelbar ist dieses Erlebnis, dass der Erzähler selbst einmal aus der Deckung tritt und keinen Hehl macht aus seinen Gefühlen.
    "Nie wieder werde ich an so aromatischen Lagerfeuern sitzen, mit so feinen Leuten zusammen sein. Mein Gott, ich fühle mich gut, bärtig, vollblütig, die Wüste, dieses kalte, purpurrote, feuersteinerne Plätteisen hat alles Gallige aus meinem Bauch, alles Runzelige aus meine Gedanken weggebügelt."
    Nie sei er so glücklich gewesen, schreibt Dos Passos weiter, auch wenn der Weg beschwerlich ist, wenn der Wind unerbittlich weht, es tagelang nicht weitergeht, weil über Wegzölle verhandelt wird und weil am Horizont Reiter auftauchen, die man für Diebe und Wegelagere hält:
    "Der Sajjid griff nach seinem Gewehr und spuckte große Töne, der Koch packte rasch das Teezeug zusammen, und dann ritten wir so eilig der Karawane hinterher, dass die Satteltaschen flogen und klapperten und die Dromedare geiferten und schnaubten. Natürlich war es falscher Alarm, aber der Schreck fuhr einem trotzdem in die Glieder. Fast wie bei den Lerchen, die vor den Kamelen singend aufflatterten, und bei dem Karnickel, das in den Dornbusch davonhoppelt."
    Winzigklein erscheint dem 1970 verstorbenen Dos Passos der Mensch in der Wüste. Und so ist dieses scharfsinnige, hellsichtige und höchst unterhaltsame Dokument überdies auch noch erfreulich uneitel. Grund genug also, wenn schon nicht selbst mit dem "Orient Express" in der Hand durch die arabische Wüste zu reiten, so doch einmal wieder in den anderen Büchern des John Dos Passos zu blättern.

    John Dos Passos: "Orient-Express"
    Übersetzt von Matthias Fienbork.
    Nagel und Kimche Verlag, 208 Seiten, 18,90 Euro.