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Religion
Der Aufstieg des Islam

Der Islam ist nicht das Fremde, sondern Teil der spätantiken Mittelmeerwelt, aus der auch das heutige Europa hervorgegangen ist, konstatiert der Kieler Islamwissenschaftler Lutz Berger in seinem Buch "Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre". Darin widerspricht er der These, der Islam sei per se eine kriegerische Religion. Stattdessen seien Muslime stark geworden, weil ihre Gegner schwach waren.

Von Jan Kuhlmann | 20.02.2017
    Gemälde von Mohammed, vom Kopf bis zu den Knien vor grauem Himmel, in weißem Gewand, mit schwarzem Bart und weißem Kopftuch, in seiner Hand hält er einen Bogen Papier hoch.
    Der Prophet Mohammed in einer historischen Darstellung. Für den Islamwissenschaftler Lutz Berger gibt es in der Islam-Debatte zu viele unhistorische Rückgriffe auf die Anfangszeit des Islam vor rund 1.400 Jahren. (imago/stock&people)
    Über den Islam wird in Deutschland und anderswo heftig diskutiert. Doch von der Art und Weise, wie das allzu oft geschieht, hält der Islamwissenschaftler Lutz Berger wenig. Für ihn gibt es zu viel Schwarz und Weiß in der Debatte - was bei ihm heißt: zu viele unhistorische Rückgriffe auf die Anfangszeit des Islam vor rund 1.400 Jahren.
    "Viele sogenannte Islamkritiker meinen, dass alles Denken und Tun der Muslime bereits in einem wörtlich zu verstehenden Koran vorgezeichnet sei und sehen im Propheten Mohammed einen direkten Wegbereiter heutiger militanter Bewegungen. Konservativ-traditionalistische Muslime argumentieren ganz anders, aber oftmals genauso unhistorisch, und zeichnen von der Frühzeit des Islam das idealisierte Porträt eines Zeitalters der Glückseligkeit, von dessen Errungenschaften wir Heutigen alles lernen könnten, was wir brauchen, um die Probleme der Gegenwart zu lösen."
    Ein Rückblick in die späten Jahre des Römischen Reichs
    Die eine Sichtweise hält Berger für genauso falsch wie die andere, weil beide Seiten den Islam völlig aus seinem historischen Kontext herausreißen würden. Der Professor von der Uni Kiel bettet dagegen die ersten Jahre des Islam in ihre Zeit ein - in die Spätantike also. Er blickt so weit zurück wie nur wenige andere vor ihm. Ausgangspunkt für Berger sind die späten Jahre des Römischen Reiches, dessen Macht sich nach Konstantinopel verlagert hatte. Berger erläutert dabei auch den Erfolg des Christentums. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Frage: Wie konnte im 7. Jahrhundert mit dem Siegeszug des Islam das scheinbar Unmögliche eintreten?
    "Niemand, den man im Jahr 632, kurz vor Beginn der muslimischen Eroberungen, danach gefragt hätte, hätte im Entferntesten damit gerechnet, dass innerhalb weniger Jahre das Christentum in Ägypten oder Syrien von einer Religion der Herrscher zu einer der Untertanen werden würde. […] Dass die Macht irgendwann in den Händen der Menschen der Arabischen Halbinsel liegen könnte und diese eine neue Religion mitbringen würden, […] das hätte jeder halbwegs Vernünftige für vollkommen ausgeschlossen gehalten."
    Bis heute hält sich die gängige These, der Siegeszug des Islam sei deswegen möglich gewesen, weil es sich per se um eine kriegerische Religion handelt. Zu erklären sei der Erfolg im Wesentlichen durch Siege auf dem Schlachtfeld. Berger dagegen sieht den Islam in einem Trend der Zeit, der sich schon im Erfolg des Christentums manifestiert hatte: Monotheistische Religionen mit individuellen Erlösungsversprechen waren damals äußerst populär. Mohammed gründete nichts anderes als die lokale Variante eines attraktiven religiösen Angebots. Dabei band er altbekannte lokale Kulte ein.
    Mohammed einigte zerstrittene arabische Stämme
    "Der Islam bot den Arabern […] die Möglichkeit, sich dem prestigeträchtigen und daher glaubhaften Modell der Erlösungsreligion anzuschließen, ohne zentrale Elemente ihrer kulturellen Identität aufgeben zu müssen. Das beste Beispiel dafür sind die Riten der islamischen Pilgerfahrt, die umfassend vorislamische Praktiken in die neue Religion integrierten."
    Mohammed schaffte es auch, die häufig zerstrittenen arabischen Stämme zu einigen. Der Islam wurde zu einer Religion der inneren Befriedung, schreibt Berger. Krieg war damals auf der Arabischen Halbinsel aus Sicht der Zeitgenossen nicht zwangsläufig eine schlechte Sache, wenn er denn nötig war. Mohammed fügte ihm jedoch ein wesentliches Element hinzu:
    "Neu war, dass Krieg nicht allein der Ehre und des materiellen Gewinns wegen geführt wurde. Mohammeds Botschaft hatte dem Krieg eine ideologische Komponente gegeben, ohne die ein Zusammenhalt jenseits tribaler Ordnung nicht möglich gewesen wäre. Diese Ideologie zusammen mit dem militärischen Erfolg hatte ein über den Stämmen stehendes Gemeinwesen etabliert. Arabische Gruppen, die sich zuvor nie als politische Einheit wahrgenommen hatten, agierten nun als Gläubige gemeinsam."
    Und das zu einer Zeit, in der die beiden Weltreiche in der Umgebung extrem geschwächt waren: die Römer einerseits, die Sassaniden im persischen Raum andererseits. Sie hatten sich vor allem in Kriegen gegeneinander aufgerieben.
    Keine Gegenwehr der Römer und Perser
    "In […] dem Moment der arabisch-islamischen Eroberungen, verfügten Römer wie Perser folglich nicht über die finanziellen Mittel, um sich einen großen Krieg leisten zu können. Hinzu kam, dass innerhalb relativ kurzer Zeit Ägypten und der Fruchtbare Halbmond […] an die Muslime verloren gingen. […] In dem Moment, da die Niederlagen einmal eingetreten waren, war also an eine Gegenoffensive nicht mehr zu denken."
    Die Muslime profitierten also weniger von ihrer eigenen Stärke als vielmehr von der Schwäche ihrer Gegner. Und ihnen kam zugute, dass die Kriege zwischen Römern und Persern die Loyalität der lokalen Eliten gegenüber den beiden Großreichen erschüttert hatten. Die Muslime wurden oft mit offenen Armen empfangen.
    "Eine Unterwerfung unter die Muslime war für die Bewohner der Provinzen […] deutlich attraktiver als fortgesetzte Loyalität: Die Muslime ließen überall die lokalen Eliten in ihren angestammten Positionen. Sie sorgten für Ordnung, kümmerten sich aber nicht um die inneren, vor allem religiösen Angelegenheiten der einheimischen Gemeinschaften. […] Die Steuern blieben zu guten Teilen vor Ort und mussten nicht für die Verteidigung entfernter Provinzen aufgewendet werden."
    Die Macht blieb also vor Ort und wanderte zumindest in den ersten Jahrzehnten nicht wie bei den Römern in eine weit entfernte Zentrale.
    "Frühmuslimische Herrschaft stellte so ein typisches Beispiel indirekter imperialer Herrschaft dar in einer Epoche, in der dieses Modell zunehmend durch kontrollierende bürokratische Herrschaft abgelöst wurde. Das war das Geheimnis des muslimischen Erfolges."
    Berger sieht in der Ausbreitung des Islams auch keinen Bruch in der Geschichte. Im Gegenteil. So wurde etwa das Erbe der römisch-griechischen Welt in der Alltagskultur und in der Wissenschaft bewahrt, schreibt er. In der aufgeheizten Debatte über den Islam ist dieses sachliche und äußerst fundierte Buch geradezu eine Wohltat. Es entkräftet Mythen, die sich hartnäckig halten. Und es beschreibt den Islam nicht als das Fremde - sondern als Teil der spätantiken Mittelmeerwelt, aus der auch das heutige Europa hervorgegangen ist. Damit liegt Berger wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit. Dieses Buch gibt der Debatte über den Islam ein historisches Fundament, ohne das sie nicht geführt werden sollte.
    Lutz Berger: "Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre"
    Verlag C.H.Beck, 334 Seiten, 26,95 Euro.