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Religion im Wahlkampf, Teil 5: die Debatten der Zukunft
"Religionspolitik wird vernachlässigt"

Religionspolitische Fragen haben im Bundestags-Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Das könnte sich rächen, sagen Wissenschaftler. Aber wie und worüber sollte in Zukunft diskutiert werden? Auch über komplexe Themen wie Laizismus oder das Religionsverfassungsrecht, fordern einige Politiker.

Von Burkhard Schäfers | 22.09.2017
    Screenshot des TV-Duells zwischen der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und dem SPD-Kanzlerkandidaten und SPD-Vorsitzenden Martin Schulz am 03.09.2017 in Berlin. Im Vordergrund stehen die Moderatoren (l-r) Sandra Maischberger (ARD), Claus Strunz (ProSieben/SAT.1), Maybrit Illner (ZDF) und Peter Kloeppel (RTL).
    "Ist einer von Ihnen beiden in der Kirche gewesen heute?", fragte Sandra Maischberger im TV-Duell (dpa-bildfunk / MG RTL D)
    Im Fernsehduell der Spitzenkandidaten wurden Angela Merkel und Martin Schulz gefragt, ob sie heute in der Kirche waren. Beide berichteten von Gedenkbesuchen für Verstorbene - und damit war der Punkt Religion rasch abgehakt. Aus Sicht von Ulrich Willems, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Münster, ist diese Szene symptomatisch für den Wahlkampf.
    "Es ist insgesamt so, dass die Religionspolitik in den letzten Jahren von den Parteien deutlich vernachlässigt worden ist. Man darf nicht vergessen, dass sich in den letzten 20, 25 Jahren die religiöse Landschaft in Deutschland dramatisch verändert hat. Das generiert jetzt aber eine Reihe von Problemen, die dringend gelöst werden müssten. Man sieht es in vielen anderen Ländern, dass es zu großen Debatten gekommen ist, und in der Bundesrepublik hinkt man da etwas hinterher."
    Religiöse und kulturelle Differenzen
    Das Kopftuch am Arbeitsplatz, religiöse Riten wie Beschneidung und Schächten, Kreuze in Klassenzimmern und Gerichtssälen, Moschee- und Minarett-Bauten, das Tanzverbot am Karfreitag: Diese und andere Themen werden vermehrt diskutiert in einem Land, in dem nur noch gut die Hälfte der Menschen Kirchenmitglieder sind und zugleich immer mehr Konfessionslose sowie Anhänger verschiedener religiöser Minderheiten leben. Streit auf diesem Politikfeld sei also unvermeidlich, meint Politikwissenschaftler Willems.
    "Insofern wird der Umgang mit Religion nach wie vor eine der wichtigen Fragen sein. Der Diskurs wird nicht mehr allein über Religion gehen, sondern vielleicht stärker darüber, wie man mit kulturellen Differenzen umgeht. Die Bürger brauchen Grundkompetenzen, um zu verstehen, um was es sich bei Religion handelt. Um nicht, weil etwas fremd und unverständlich ist, dann auch abgelehnt zu werden."
    "Ein laizistisches System bringt auch große Probleme"
    Der Politologe kritisiert die Politiker für ihre Zurückhaltung. Er vermisst die Auseinandersetzung mit normativen Fragen: Wann soll sich der Staat neutral verhalten? Inwieweit kann er die Glaubensfreiheit achten? In den Wahlprogrammen der Parteien, die nach den derzeitigen Umfragen dem nächsten Bundestag angehören, findet sich unter dem Begriff Religion oft ein vages "Sowohl-als-auch": Einerseits wird sie - Stichwort Islam und Islamismus - mit einem besonderen Augenmerk auf die innere Sicherheit behandelt. Zugleich betonen die Parteien unisono die Religionsfreiheit. Aber wie ist es um Religionsfreiheit hierzulande bestellt? Stefan Ruppert, Religionspolitiker der FDP, ist skeptisch:
    "Ich habe sogar manchmal den Eindruck, die Religionsfreiheit ist eines der eher stärker bedrohten Grundrechte. Es ist nirgendwo gefährlich, seine Meinung zu sagen oder zu demonstrieren. Aber ein sehr religiöser Mensch zu sein, sei man Christ oder Moslem oder Jude, stößt doch bei dem einen oder anderen mittlerweile auf Unverständnis. Und die Bereitschaft, darauf eine gewisse Rücksicht zu nehmen, sinkt."
    Wie also sehen die Parteien das künftige Verhältnis von Staat und Religion? Lediglich die Linke macht sich für eine stärkere Trennung stark. Die Losung der anderen hingegen heißt: Weiter so. Ein laizistisches Modell hält auch FDP-Mann Ruppert nicht für zukunftsweisend:
    "Ich bin ein großer Anhänger insgesamt des Religionsverfassungsrechts. Weil ein strikt laizistisches System, wie etwa in Frankreich, auch große Probleme und Sprachlosigkeiten - man beobachte die Vororte von Paris - mit sich bringt. Und dort sucht man nach Marktplätzen, nach Ebenen wo man miteinander ins Gespräch kommt. Und unser System fordert, dass man sich strikt an die Verfassung hält, dass man aber seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln kann."
    "Wir müssen die Hindernisse für die Integration beseitigen"
    Das derzeitige Recht gewährleiste die Gleichberechtigung aller Religionen und auch der Konfessionslosen, heißt es bei den Grünen und der SPD. Allerdings sehen sich die meisten Islamverbände benachteiligt, weil sie der Staat nicht als Religionsgemeinschaften anerkennt. Muss mit Blick auf die wachsende Zahl der Muslime also das Grundgesetz geändert werden? Nein, meint die Religionspolitikerin Kerstin Griese von der SPD:
    "Unser Begriff von Religionsfreiheit in unserem Grundgesetz ist ja, wie ich finde, ein sehr guter. Es ist einer der positiven Religionsfreiheit: Man darf in Deutschland seine Religion - auch im öffentlichen Raum - leben. Es ist gleichzeitig eine klare Anerkennung, dass auch die negative Religionsfreiheit existiert. Wer keiner Religion angehört, darf nicht diskriminiert werden. Und das ist gut für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft."
    Auch aus Sicht von Politikwissenschaftler Ulrich Willems ist keine Grundgesetzänderung nötig, um islamische Organisationen staatlich anzuerkennen. Indes müsse die Politik durch konkrete Gesetze das Religionsverfassungsrecht weiterentwickeln. Das habe derzeit eine christlich-großkirchliche Schlagseite. Betroffen seien davon zum einen die Konfessionslosen, zum anderen religiöse Minderheiten, vor allem die Muslime.
    "Das Problem in der Bundesrepublik ist, dass die Konturen dieses Modells in einer Zeit entwickelt worden sind, in der wir es im Wesentlichen mit den beiden großen christlichen Kirchen zu tun hatten und auch mit dem Judentum. Und dadurch entsteht eine gewisse Asymmetrie mit Blick auf die Herausforderungen, die die Pluralisierung der religiösen Landschaft stellt. Was wir nun dringend tun müssen ist, die Hindernisse für die Integration von mehr Vielfalt zu beseitigen."
    Bildung als Voraussetzung
    Veränderte Gesetze sind das eine. Das andere sei eine gesellschaftliche Debatte über strittige Themen, so der Politologe. Die könne nur eine kundige Bevölkerung führen.
    "Was man dafür braucht, ist, dass etwa in den Schulen Grundkompetenzen vermittelt werden über dieses Phänomen Religion, das menschliche Gesellschaften seit ihrer Gründung geprägt hat. Ich glaube, neben dem konfessionellen Religionsunterricht braucht es an den Schulen auch ein Unterrichtsfach, in dem Religionskunde ein wesentlicher Bestandteil ist."
    Auch wenn die Parteien im Wahlkampf das Thema Religion eher zögerlich behandeln: Von der politischen Agenda fernhalten können sie es auf Dauer wohl kaum. Denn Säkularisierung bedeutet nicht, dass die Menschen religiösen Fragen gleichgültig gegenüberstehen.