Donnerstag, 18. April 2024

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Religion und Poesie
Wissen explodiert, Orientierung geht verloren

Religion wird noch wichtiger, sagt der Essayist Sebastian Kleinschmidt. Religion werde „eine neue Funktion von Orientierung und Sinnstiftung“ übernehmen, sagte Kleinschmidt im Dlf. Denn die Explosion des Wissens gehe mit einer Explosion des Unwissens und des Sinnverlusts einher.

Sebastian Kleinschmidt im Gespräch mit Andreas Main, Teil 1 | 29.04.2019
Dr. Sebastian Kleinschmidt
Sebastian Kleinschmidt möchte mit einer Theologie des "Als ob" auch Nichtgläubige zum Denken über Gott bewegen (Privat)
Andreas Main: Er hat sich selbst einmal als Pastorensöhnchen bezeichnet – Sebastian Kleinschmidt. Sein Vater war Domprediger in Schwerin und ein prominenter, religiöser Sozialist. Sein Sohn, Sebastian Kleinschmidt, war Marxist. Er studierte Philosophie, Geschichte, Ästhetik. Selbst SED-Mitglied gründete der junge Sebastian Kleinschmidt zusammen mit Wolfgang Templin und anderen einen Kreis, der eine Revolution anstrebte, durchaus im Widerspruch zu Partei und Regime. Die Gruppe geriet in die Fänge der Stasi, später, von 1991 bis 2013 war Sebastian Kleinschmidt Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form". Er schrieb und schreibt Essays über Poetik, über bildende Kunst und Theologie. Etwa in seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Spiegelungen". Die einzelnen Kapitel darin nennt Kleinschmidt "Säle". Saal 1 – bildende Kunst, Saal 3 – Poetik. Und Saal 2 – Theologie. Kleinschmidt ist selbstverständlich kein Theologe im akademischen Sinn und schon gar keine kirchenleitende Person; und doch gibt es einige heiße Eisen zwischen den verschiedenen evangelischen Strömungen oder auch zwischen Ost und West, zu denen ein Schöngeist wie Sebastian Kleinschmidt etwas beizutragen haben dürfte. Wir sitzen uns gegenüber im Deutschlandfunk, in Berlin, ein Gespräch, das wir aufzeichnen beziehungsweise aufgezeichnet haben. Danke, dass Sie hier sind, guten Morgen Herr Kleinschmidt.
Sebastian Kleinschmidt: Guten Morgen Herr Main.
Vom Ende geprägt
Main: Herr Kleinschmidt, wenn ich Sie als Schöngeist eben bezeichnet habe, was ich als Kompliment meine, ist das für Sie ehrenrührig oder passt das?
Kleinschmidt: Das Wort Schöngeist hat nicht die allerbesten Karten, aber im Kosmos meiner Begriffe hat die Kategorie Schönheit einen hohen Wert. Man kann die Kunstgeschichte, die Musikgeschichte, die Literaturgeschichte auch gänzlich ohne Betrachtung über das Schöne sich einverleiben, sich aneignen, aber die eigentlichen ästhetischen Fragen drehen sich doch am Ende darum: Was ist schön, was ist hässlich?
Main: Da Sie als Schöngeist weniger der Mensch der Massenmedien sind und nicht alle Sie kennen können, möchte ich biografisch einsteigen. Wie stark sind Sie geprägt von Ihrem Vater, dem religiösen Sozialisten?
Kleinschmidt: Vom Ende her, ich will jetzt nicht sagen vom nahen Ende, aber doch vom Ende, das jeder religiös interessierte, theologisch interessierte Mensch im Blick haben sollte, nämlich von der Endlichkeit her, ist die Prägung doch sehr stark gewesen. Aber solange mein Vater lebte und ich im Haushalt war, hatte ich viel mehr Ehrgeiz, mich von ihm abzusetzen – wie das alle Söhne von ihren Vätern tun und tun müssen, denn sonst werden sie zu Ödipussen. Von heute aus ist es so, dass ich meinen Vater zum Beispiel sehr viel öfter gerne predigen gehört hätte. Das habe ich aber tatsächlich nicht getan, weil ich in anderen Welten unterwegs war als er. Also, er ist eine mittelfristige und langfristige Prägung gewesen, keine unmittelbare.
"Ich bin kein klassisches Kind der Säkularisierung"
Main: Es geht mir jetzt hier nicht um Bekenntnisse, sondern ums Verstehen gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie sind ja womöglich auch ein bisschen prototypisch für jene von oben verordnete Säkularisierung in der DDR. Wieso haben Sie und große Teile der Gesellschaft sich von den Kirchen verabschiedet?
Kleinschmidt: Na, in dem Falle war es ja gar nicht so. Ich bin natürlich getauft worden, ich bin auch konfirmiert worden. Ich hatte Konfirmationsunterricht bei meinem eigenen Vater, was nicht ganz unproblematisch war. Das können Sie sich vorstellen. Insofern bin ich kein klassisches Kind der gesellschaftlichen Säkularisierung.
Die Sprengung der Universitätskirche am Leipziger Karl-Marx-Platz am 30.05.1968
In der DDR wurden die Kirchen systematisch an den Rand gedrängt (imago stock&people / epd)
Main: Aber Sie haben sich gelöst.
Kleinschmidt: Ja, ja – ja, ja. Ich habe mich gelöst. Die religiöse Erziehung war auch nicht besonders streng. Mein Vater war zum Beispiel jemand, der den Kirchenbesuch während des Konfirmationsunterrichts, also in der Zeit des Konfirmationsunterrichts fakultativ gestellt hat, was natürlich dazu führte, dass ich nicht einen einzigen Gottesdienst besucht habe. Von heute aus gesehen wäre es mir lieber gewesen, er hätte es obligatorisch verstanden und nicht fakultativ. Dann hätte ich sehr viel mehr Gottesdienste besucht, vielleicht auch einen, in dem mein Vater gepredigt hätte.
"Die Religionskritik des Marxismus ist nicht dumm"
Main: Waren Sie zwischendurch ganz und gar auf Distanz zu Kirche, zu Religion, zu Theologie, also vor allem auch in den Phasen, in denen Sie Marxismus-Leninismus studiert haben?
Kleinschmidt: Ja, das würde ich schon sagen. Da ich aus voller Überzeugung Marxist war, habe ich natürlich auch die Religionskritik des Marxismus akzeptiert. Sie ist ja auch keineswegs dumm, geht weiter als die französische Aufklärung, weil sie die gesellschaftlichen Ursachen der Religiosität viel stärker reflektiert. Aber es war doch so, dass mich von den marxistischen Autoren fast von Anfang an diejenigen besonders interessierten, die eine gewisse Offenheit gegenüber der Religion sich bewahrt hatten. Nehmen wir Ernst Bloch oder nehmen wir Walter Benjamin. Und bei Walter Benjamin war es dann ganz spürbar. 1984 habe ich im Reclam-Verlag eine Auswahl aus dem Gesamtwerk von Benjamin herausgegeben, also 1984, fünf Jahre vor der Wende. Von einem Marxisten, den die SED-offizielle Philosophie eigentlich nicht als einen astreinen Marxisten angesehen hat. Und dort haben mich besonders die Verbindungen von Materialismus und theologischer Betrachtungsweise interessiert. Und die sind ja bei Benjamin mit Händen zu greifen.
Hinwendung vom Diesseits zum Jenseits
Main: Sie sind heute womöglich noch offener für theologisches Denken, wenn man sich Ihr Buch "Spiegelungen" durchliest. Diese "Wiederannäherung" an christlichen Glauben, diesen Schritt ist ja das Gros der Menschen, die in der DDR groß geworden sind, eher nicht gegangen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Kleinschmidt: Ja, ich würde sagen, auf der einen Seite habe ich an mir selbst das erlebt, was die gesamte Gesellschaft oder das ganze System des Ostens auch erlebt hat, nämlich die Implosion einer Idee: Die Herrschaft des Marxismus im eigenen Gehirn ist nach und nach zerbröselt und hat also eine Art Implosion erlebt. Und da es einen Horror vacui gibt, hat sich instinktiv damit ein Interesse an einer älteren Ideen-, Gedankenformation eingestellt. Und da liegt es nur nahe, dass das aus dem Umkreis stammte, aus dem ich ja selbst stamme. Und nicht nur mein Vater war Pfarrer und Theologe, sondern mehrere Vorfahren väterlicherseits waren Theologen. Darunter gab es sogar einen Mann – das habe ich erst sehr viel später herausgefunden – der eine sechsbändige Dogmatik des Christentums verfasst hat.
Main: Böse Zungen könnten jetzt behaupten, Sie haben diesseitige Welterlösungsfantasien ersetzt durch jenseitige. Was kontern Sie?
Kleinschmidt: Das ist doch gar keine böse …, sondern es ist ja vollkommen richtig, denn die Diesseitserlösung ist eben einer der großen Irrtümer des Marxismus. Nicht? Die Diesseitserlösung. Und es gibt nur, wenn überhaupt, eine Jenseitserlösung. Diesseitserlösungen sind eben das, was man politische Religionen nennt oder Ersatzreligionen. Und de facto hat der Marxismus, obwohl er nicht so gedacht war von seinen Ursprüngen her, diese gesellschaftliche Rolle eingenommen – einer Ersatzreligion.
"Wir leben in einer Welt der Wissensexplosionen"
Main: Welche Entwicklung unserer Tage erklären Sie sich mit der weitgehenden, von oben verordneten Säkularisierung im Osten einerseits und der, ja, weniger staatlich oktroyierten, aber doch auch langsam aber sicher sich durchsetzenden Säkularisierung im Westen?
Kleinschmidt: Na ja, die Säkularisierungsprozesse sind eigentlich gesellschaftliche Prozesse. Die mussten weder im Osten im strengen Sinne des Wortes oktroyiert werden, noch müssen sie heute im Westen im strengen Sinne des Wortes oktroyiert werden. Gleichzeitig sehen wir natürlich weltweit, dass die Thesen über die weltumspannende Säkularisierung selbst in die Krise gekommen sind. Also, das, was auch Max Weber die Entzauberung der Welt genannt hat, hat heute dazu geführt, dass die Idee der Entzauberung der Welt ihrerseits entzaubert wurde und es natürlich viel religiöses Bedürfnis gibt.
Main: Sie spielen auf Hans Joas oder Jörg Lauster an, die von einer Verzauberung der Welt sprechen oder vom Heiligen?
Kleinschmidt: Ja, ja. Das kann man vielleicht sagen, weil die alte Aufklärung natürlich auch ein Versprechen abgegeben hat, nämlich das Versprechen, dass der Mensch in der Wissenschaft, im System des Wissens, Orientierung, Führung und so weiter finden wird.
Heute leben wir in einer Welt der Wissensexplosionen. Kein Ende ist davon abzusehen. Und je mehr der Wissenskosmos expandiert, desto stärker wird im selben Maße der Grad der Unbildung und damit der Orientierungslosigkeit. Und insofern wird die Religion gerade in der Explosion des Wissens, die gleichzeitig eine Explosion des Unwissens ist, eine neue Funktion von Orientierung, von Sinnstiftung finden. Davon bin ich überzeugt.
Das Wunder der friedlichen Revolution
Main: Sie sprechen jetzt von der Explosion des Wissens. Eben haben Sie von der Implosion eines Systems gesprochen. Anknüpfend an die Implosion des Systems, dieses Phänomen beleuchten Sie mit der Kategorie des Wunders. Was ist für Sie das Wunder an dem, was damals, 1989, passiert ist?
Kleinschmidt: Na, das Wunder war die gewaltfreie Wende des Geschehens, die friedliche Revolution selbst. Die Revolutionsschwärmer träumen natürlich immer von der friedlichen Revolution, wenn sie von der Revolution träumen. Die Realität der allermeisten Revolutionen ist, dass es auch Gewaltorgien waren. Und in der DDR war die friedliche Revolution, die vom Oktober, tatsächlich ein gewaltfreier Umsturz der Verhältnisse.
Auf einer Brücke in Leipzig haben am 23.10.1989 DDR-Bürger Transparente aufgehängt und fordern Reise-, Presse-, Meinungsfreiheit sowie "Wir fordern Krenz(en)lose Freiheit". 
Die friedliche Revolution von 1989 ist für Sebastian Kleinschmidt eine wundersame Ausnahme (picture alliance/dpa)
Der hat natürlich sehr viele Voraussetzungen gehabt. Ich nenne nur die Perestroika und Gorbatschow. Ohne das wäre das ja gar nicht zu denken gewesen. Aber dass die aufbegehrenden Massen und Aktivisten von vornherein das Prinzip der Gewaltlosigkeit, man könnte sagen den "Gandhiismus", sich als Schärpe um die Brust geschwungen hatten, hat das natürlich auch auf der anderen Seite, der Seite der bewaffneten Staatsmacht, der Polizei und der Armee, zu der Zurückhaltung geführt, die wir dann am Ende erlebt haben. Und die war das Wunder - und Wunder in dem Sinne: Dieses Wunder hatte keinen Einzelakteur, wie im Christentum, sondern sie war eine Resultante sehr diszipliniert agierender Leute; und als Ereignis war sie ein Wunder im Sinne von Ausnahme.
Den Menschen vertikal betrachten
Main: Herr Kleinschmidt, lassen Sie uns nun den Saal 2 betreten. "Saal 2 – Theologie" – so ist das Kapitel in Ihrem Buch "Spiegelungen" überschrieben. Sie bezeichnen sich als Laie und als Liebhaber der Theologie. Welche Art des Theologietreibens mögen Sie?
Kleinschmidt: Ja, also, wie soll ich mich ausdrücken? Ich bewege mich ja als Essayist vorwiegend im Raum der Künste, der bildenden Kunst und der Literatur. Ich bin aber kein Empirist. Das heißt, ich gehe nicht einfach hinein in diese Gebiete und lasse mir gewissermaßen die Gedankentopographie von diesem Gebiet allein bestimmen, sondern ich gucke dann auch von außen und versuche auch, von oben ein bisschen darauf zu gucken. Das kann man eben auf zweierlei Weise tun. Einmal philosophisch oder eben auch theologisch.
Da die Philosophie normalerweise mehr in der Nähe der Wissenschaft operiert und damit auch rationaler operiert, ist es bei der Theologie so, dass ihr eigentlicher Gegenstand, die Religion, ja kein Rationalitätsgeflecht ist. Meine Erfahrung ist eben im Laufe der Jahre die geworden, dass die Theologie mir sehr viele geistige Freiheiten ermöglicht in der Betrachtungsweise der Dinge.
Und vielleicht darf ich noch ergänzen: Da mein Interesse an den Künsten eigentlich sehr stark anthropologisch ausgerichtet ist und die Anthropologie ja die Kunde vom Menschen, die Wissenschaft vom Menschen oder die philosophische Wissenschaft vom Menschen ist, bin ich im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gelangt, dass man den Menschen nur dann richtig in den Blick bekommt, wenn man ihn vertikal betrachtet, und zwar vertikal im Sinne zweier verschiedener Richtungen. Einmal vertikal von unten aus der Perspektive der Tiere, über die der Mensch gleichzeitig Herrschaft ausübt. Und aus der Perspektive der Vertikalität von oben, also eines göttlichen Wesens oder eines transzendenten Subjekts – wie auch immer – wo der Mensch quasi auch eine geistige Determination erfährt. Und dadurch wird das Menschenbild einfach reicher, reichhaltiger. Das heißt, es kommt ein Stockwerk drunter, also in den Keller wird eins gebaut, und eins in den Loft hinauf. Und dadurch wird es einfach interessanter.
Die Stärke der Theologie: ihre Wurzeln
Main: Also, um es ganz einfach zu sagen, ich habe den Eindruck, Sie nehmen sich auch alle Freiheiten heraus, weil Sie eben das Stichwort genannt haben. Sie nehmen sich auch die Freiheit, theologische Strömungen so zu bearbeiten oder weiterzudenken oder nachzuvollziehen, wie es zu Ihnen passt.
Kleinschmidt: So könnte man das sagen, ja. Diese Freiheit nehme ich mir. Und diese Freiheit des Sich-Nehmens erlaubt auch die Theologie.
Main: Gibt es auch bestimmte Formen von Theologie, bei der sich Ihnen als Philosoph, als Dichter und Denker die Nackenhaare aufstellen?
Kleinschmidt: Ja, wenn die Theologie so weit in ihrem eigenen Progressismus oder vermeintlichen Progressismus gefangen ist, dass sie anfängt, den Kanon selbst umzubauen, das biblische Wort selbst quasi durch Übersetzung oder Interpretation dem Zeitgeist anzupassen. Solche Dinge imponieren mir nicht, sondern die Bedeutung der Theologie besteht gerade darin, dass sie diese lange geistige Wurzel hat, also die zeitlich lange Wurzel, dass es über so viele Jahrhunderte dieses Geschäft der Theologie gibt. Die Bücher der Kirchenväter sind immer noch als Ausgangspunkt interessanter als das neueste theologische Buch.
Katechismen als "konzentrierte Form von Wahrheit"
Main: Sie selbst schreiben über Literatur und Religion, über Metaphysisches bei bildenden Künstlern, bei Dichtern. Sie entwickeln eine eigene Essaytheologie. Ließe sich sagen, Poesie und Religion sind natürliche Geschwister?
Kleinschmidt: Inzwischen würde ich schon sagen ja, aber dann muss man einen sehr weiten Begriff von Religion oder Religiosität in Anschlag bringen.
Main: Welcher ist das bei Ihnen?
Kleinschmidt: Na, das ist dann der, der vom Monotheismus, vom konfessionell gebundenen Monotheismus bis zum Pantheismus, ja, bis zum Animismus geht.
Main: Also, nicht unbedingt einer, der in Katechismen steht?
Kleinschmidt: Nein, aber Katechismen können selbst eine sehr konzentrierte Form von Wahrheit und Führung und Verstehen darstellen. Nehmen wir den Kleinen und den Großen Katechismus von Luther. Das möchte ich nicht kleinreden.
Main: Aber Sie möchten es ausweiten auf einen erweiterten Religionsbegriff?
Kleinschmidt: Für mich.
Main: Für Sie?
Kleinschmidt: Für mich, ja, ja, für mich.
Eine Theologie des "Als ob"
Main: In einem Ihrer Essays formulieren Sie auf gerade mal neun Seiten eine Theologie des "Als ob". Können Sie diesen Gedanken auf ein paar Sätze einschrumpfen? Geht das?
Kleinschmidt: Ja, das ist eine Reaktion auf die Tatsachen der Säkularisierung, über die wir ja ganz am Anfang gesprochen haben. Man könnte sagen, die Theologie des Als-ob erlaubt das Aufrechterhalten einer Bindung zur Religion oder zu religiösen Sphäre, auch für den Fall, dass man selbst ungläubig ist. Und für den Fall, dass man selbst ungläubig ist, kann man natürlich nicht verlangen, dass diese Leute quasi die ontologischen Überzeugungen der religionsbejahenden Theologie einfach schlucken: "Es gibt Gott", "es gibt den wiederauferstandenen Christus", "es gibt das Jüngste Gericht" und so weiter. Also, alles das, was in der Religion und der zu ihr gehörigen Theologie affirmativ behauptet wird, erlaubt eine Theologie des "Als ob" aus der thetischen Sphäre in die hypothetische Sphäre zu bringen. Sodass ich also den Ungläubigen auf ein Terrain, das er sonst nicht betreten würde, locken kann. Und, wenn er dann anfängt spazieren zu gehen auf dem Gebiet, auf das er sonst sich nicht begeben hätte, und er macht gute Erfahrungen, von Schönheit, von Anregungen, von weiß ich nicht noch allem, dann hat man schon ihn halb gewonnen. Und das könnte die Funktion der Theologie des "Als ob" sein.
Gleichzeitig würde ich zugeben, im Status der Gläubigkeit, die ich für mich nicht prinzipiell ablehne und auch nicht prinzipiell anerkenne, weil es tatsächlich insofern eine Geschwisterlichkeit zwischen Poesie und Religiosität gibt, als das Poetische selbst auch keine Sache ist, die man sich in einem Willensakt aneignen kann, sondern das ist ein Nehmen und Geben, es hängt von sehr vielen Zufällen ab... Und die religiöse Verfassung, also der Status der eigenen Gläubigkeit ist auch etwas, was nicht in unserer Macht liegt. Deswegen spricht ja auch das protestantische Christentum sehr stark vom Geschenk des Glaubens. Also, was ich sagen wollte: Wenn man im Status der Gläubigkeit oder der Frommheit ist, dann genügt natürlich die Theologie des "Als-ob" nicht. Dann steht das andere höher.
"Ich spiele nicht mit gezinkten Karten"
Main: Aber ist Ihre Theologie des "Als ob" ein Missionstrick? Das hörte sich nämlich eben gerade so an, wenn Sie unterscheiden zwischen Ungläubigen und Gläubigen. Da muss ich jetzt mal als Mandant derjenigen, die sich vielleicht eher als religionsfrei bezeichnen würden und nicht als ungläubig, weil sich das auch sehr negativ anhört, da muss ich mal nachhaken. Ist das sozusagen so ein Zuckerli, um "Ungläubige" – in Anführungszeichen – zu ködern?
Kleinschmidt: Ja. Na, das kommt darauf an, wie man den Missionar in diesem Falle auffasst. Wenn wir jetzt die Analogie uns erlauben und auf das Gebiet der Künste übergehen: Wenn ich jemanden, der an sich eine Scheu hat, die Schwelle zu übertreten, locke, indem ich ihm irgendwas verheiße, ein geistiges Glück oder eine neue seelische Durchlässigkeit oder überhaupt nur eine Anregung, hinauszukommen aus den Konventionen seines Denkens und seines Bewusstseins, und ich locke ihn und er vertraut mir, geht über die Schwelle und macht dann positive Erfahrungen, dann kann man doch einverstanden sein damit. Also, es ist kein Trick. Das wollte ich sagen. Es ist kein Trick. Ich spiele nicht mit gezinkten Karten.
Main: Und sie oder er, der Ihnen zuhört oder der Sie liest, kann ja auch sagen, bei dieser Theologie des "Als ob": Ich bin mir schon sicher, dass es keinen Gott gibt.
Kleinschmidt: Kann jeder sagen, selbstverständlich. Aber das ist eben die Parallele auch zu den Künsten. Also, wenn Sie ins Theater gehen und Hamlet sehen, Hamlet ist eine fiktionale Figur. Solange Sie im Theater sitzen als Zuschauer an dem Abend und es eine gute Inszenierung ist, dann ist Hamlet eine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit übt Wirkung auf Sie aus, möglicherweise sehr viel mehr Wirkung auf Sie als der reale Nachbar, der neben Ihnen sitzt und denkt, auf der Bühne steht nur der fiktionale Held. Und so ähnlich ist es auch mit dem "Als ob".
Atheisten betreiben "geistige Selbstverarmung"
Main: Was bringt Ihnen und was bringt uns die Theologie des "Als ob"?
Kleinschmidt: Es erinnert diejenigen, die für sich beschlossen haben, Agnostiker zu sein oder Atheisten zu sein, daran: Kinder, ihr betreibt eine geistige Selbstverarmung, wenn ihr diesen ganzen Kontinent für nicht existent erklärt. Und die Theologie des "Als-ob" sagt: Es mag ja sein, dass dieser ganze Kontinent inexistent ist, aber nehmen wir doch einmal an, er würde existieren! Also wir tun so, als ob er existiert - und nun bewegt euch doch mal!
Main: Wir bleiben also Gott treu, ohne zu wissen, ob es ihn gibt, aber das ist dann besser für uns alle?
Kleinschmidt: Würde ich sagen.
Mit Denkspielen zur Wahrheit
Main: Trotzdem bleiben Sie als Philosoph, als Denker ein Freund der Uneindeutigkeit. Da verstehe ich Sie schon richtig?
Kleinschmidt: Ja. Die Mehrdeutigkeit gehört vielleicht zum essayistischen Denken, aber eine Mehrdeutigkeit, die doch versucht, eine Richtung auf Wahrheit einzuhalten.
Main: Also, Sie gehen davon aus, dass es den Kontinent gibt – den Kontinent der Religion?
Kleinschmidt: Ja, den gibt es ja in jedem Falle. Den gibt es in jedem Falle. Die Frage ist ja, ob es Gott gibt. Ich habe ja in einem meiner Essays geschrieben – mal sehen, ob ich mich selbst richtig wiedergeben kann: Es mag ja sein – habe ich geschrieben –, dass Gott eine Idee des Menschen ist, aber wenn Gott eine Idee des Menschen ist, dann besteht diese Idee darin, dass nicht Gott eine Idee des Menschen, sondern der Mensch eine Idee Gottes ist. Das ist dann quasi das Sprachspiel oder das Denkspiel. Ja?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.