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Religionsphilosophie von Jürgen Habermas
Alt, aber nicht fromm

Josef Ratzinger, ein Papst der Katholiken, und Jürgen Habermas, ein Papst der Philosophen, nehmen sich wechselseitig ernst. Die Religionsphilosophie von Habermas ist nach wie vor wichtig. Habermas, der 90 Jahre alt wird, bleibt aber auch im hohen Alter offenbar "religiös unmusikalisch".

Von Henning Klingen | 14.06.2019
Der Philosoph Jürgen Habermas
Der Philosoph Jürgen Habermas wird 90 (dpa / picture alliance / Simela Pantzartzi)
"Ich bin alt, aber nicht fromm geworden": Mit diesen Worten hat sich Jürgen Habermas immer wieder gegen Vorwürfe zur Wehr gesetzt, seine Beschäftigung mit dem Thema Religion würde mit zunehmendem Alter intensiver werden. Dabei spielte Religion für den Sozialphilosophen, der in diesen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert, tatsächlich immer eine wichtige Rolle – nicht in Form persönlicher Spiritualität, wohl aber in Form eines wissenschaftlichen Interesses. So bilde Religion eine Art permanentes Hintergrundrauschen im Werk des Jürgen Habermas, sagt der Frankfurter Religionsphilosoph Thomas Schmidt:
"Ich glaube, die Beschäftigung mit Religion ist ein durchgängiges Thema, wenn sie auch wie bei einer großen Symphonie manchmal mehr im Vordergrund steht, ein Leitmotiv, das umspielt wird, nach einem Intermezzo wieder aufgenommen wird – also religionsphilosophische Spuren finden sich sehr früh im Werk von Habermas und auch durchgehend; und gerade dann in den 90er-Jahren vor dem Hintergrund der Krisen des globalisierten Kapitalismus wird Religion als eine politische Ressource gegen das, was Habermas eine ‚entgleisende Moderne‘ nennt immer wichtiger."
Religion ist für Habermas "opak"
In seinen frühen, großen Werken wie etwa der 1981 erschienenen "Theorie des kommunikativen Handelns" geht Habermas noch von einem langsamen Verschwinden der Religion aus. Mit fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierung würden die Funktionen, die Religion in der Gesellschaft hat, nämlich die Reproduktion von Solidarität, schlichtweg überflüssig. Es ist dies die an Max Weber orientierte frühe Version der sogenannten Säkularisierungsthese. Heute betrachtet Habermas diese These wie viele andere Philosophen als überholt: Religion sei weiterhin ein wichtiger, auch gesellschaftlicher Faktor – aber sie bleibt für ihn "opak", wie er selbst sagt, also dunkel, undurchsichtig. Deswegen will Habermas mehr über sie wissen, so Religionsphilosoph Thomas Schmidt:
"Wir können etwas nur verstehen, wenn wir auch die Vorgeschichte kennen. Und Religion gehört nun einmal zur Vorgeschichte der aufgeklärten, der – wie Habermas sagen würde – nach-metaphysischen Vernunft. Das heißt, wenn man die säkulare Vernunft rechtfertigen und verteidigen möchte, dann muss man ihre Vorgeschichte kennen."
Religion als Kitt für die Gesellschaft
Doch Habermas‘ Interesse an Religion geht deutlich über die Rekonstruktion einer bloßen "Vorgeschichte" der philosophischen Vernunft hinaus. Ihm geht es vielmehr darum, angesichts von gesellschaftlichen Zersetzungserscheinungen und moralischen Defiziten in der politischen Öffentlichkeit nach Ressourcen zu suchen, die das Zeug haben, Kitt für die Gesellschaft zu sein. "Postsäkular" nannte er die Gesellschaft, als er 2001 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Und: Es brauche neue Allianzen zwischen säkularer Vernunft und Religionen. Ein Ball, den die Theologie gerne aufgegriffen hat, so der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück:
"Habermas wirbt im Anschluss an John Rawls für einen öffentlichen Vernunftgebrauch der Bürgerinnen und Bürger und er sagt: Angesichts der Gefahr einer Polarisierung zwischen Säkularisten und Fundamentalisten ist es absolut wichtig, zu einem kooperativen Miteinander zwischen Gläubigen, Nichtgläubigen und Andersgläubigen zu kommen. Und er sagt, dass hier beide einen reflexiven Prozess durchlaufen müssen. Die Gläubigen müssen lernen, dass es auch Andersgläubige gibt, dass es die Wissenschaft gibt, dass es den weltanschaulich neutralen Staat gibt; aber umgekehrt müssen auch die säkularen Bürgerinnen und Bürger realisieren, dass es nach wie vor Formen vitaler Religion gibt, zu denen sie sich produktiv verhalten sollen. Will sagen: Hier muss es zu Formen eines wechselseitigen Aufeinander-Hörens kommen, die dann auch der gesamten Gesellschaft und ihren Solidaritäts-Ressourcen zugutekommen."
Die Gottebenbildlichkeit des Menschen
Eine Erfahrung dieses wechselseitig-Aufeinander-Hörens quasi am eigenen Leib konnte Habermas 2004 machen: Damals traf er nämlich in München auf Einladung der dortigen Katholischen Akademie mit dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Josef Ratzinger, zusammen. Zwei Antipoden im Blick auf ihr Verständnis von freiem Denken und der Rolle der Religion – möchte man meinen. Tatsächlich diskutierte man vor ausgesuchtem Publikum über die vorpolitischen moralischen Grundlagen der Demokratie – und Habermas hielt fest, dass er den Religionen ein besonderes Gespür für Sünde, Verfehlung, Scheitern und Gelingen des Lebens zutraut, an das die philosophische Sprache nicht zu rühren vermag. Zwei alte Denker auf Kuschelkurs? Nein, wohl eher das gegenseitige Erkennen, dass der jeweils andere über Kompetenzen verfügt, die zum allseitigen Nutzen eingesetzt werden können. Vorausgesetzt, säkulare wie religiöse Bürger sind bereit, nicht nur die Perspektive des jeweils anderen zu akzeptieren, sondern auch füreinander argumentativ offen zu sein. Er fordert Übersetzungsprozesse ein, allerdings nicht ohne den Vorrang der säkularen Perspektive aufzugeben:
"Habermas hat diesen Vorgang der Übersetzung semantischer Gehalte von Religion selbst illustriert und zwar am Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Diese kommt in der Schöpfungserzählung Genesis vor. Er übersetzt die jetzt ins Medium der philosophischen Vernunft, indem er sagt, der Mensch ist ein mit Freiheit begabtes und zur Freiheit verpflichtetes Wesen; wenn man die Geschöpflichkeit des Menschen noch mit einbezieht, kann man sagen: der Mensch verdankt sein natürliches So-Sein nicht einem anderen Menschen. Und das ist für die bioethische Debatte zentral: Habermas sagt, dass der Gedanke des egalitären Universalismus verletzt wird, wenn Eltern manipulative Eingriffe in das Erbgut ihrer Kinder vornehmen. Hier ist der Gedanke der wechselseitigen Achtung verletzt; hier wird eine Asymmetrie eingeführt, weil die Eltern über die Köpfe ihrer Kinder hinweg bestimmen, was biogenetisch zu machen sei. Und hier spielt er diesen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen ein und sagt, das heißt im Medium der philosophischen Vernunft, dass alle als Person gleiche Achtung verdienen."
Metz contra Habermas
Doch ungetrübt ist die Freude seitens der Theologie angesichts der religionsphilosophischen Tauchgänge des Frankfurter Philosophen nicht. So erinnert Tück an eine rege Debatte, die sich vor 30 Jahren zwischen Habermas und einigen deutschsprachigen Theologen entsponnen hat und die sich bis heute in den Aussagen und Texten von Habermas zur Religion niederschlägt:
"Vor allem die Neue Politische Theologie von Johann Baptist Metz und seinen Schülern hat sich mit Habermas intensiv auseinandergesetzt. Berühmt ist Metz‘ Beitrag in der Festschrift ‚Zwischenbetrachtungen‘ für Habermas, wo er letztlich die Kritik übt, dass die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ geschichtsvergessen sei; sie würde unter Gleichzeitigkeitsvorbehalt stehen. Hier steht im Hintergrund der Gedanke der universalen Solidarität: die könne nicht nur auf die Zeitgenossen bezogen sein, sondern müsse auch die Opfer der Geschichte mit einbeziehen. Diese Kritik muss Habermas zutiefst irritiert haben – immerhin kommt er aus der Tradition der Frankfurter Schule, ist also mit den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins, die ja die Tradition der Unterdrückten einbeziehen wollen, zutiefst vertraut. Aber er hat sich mit dieser Kritik dann auch produktiv auseinandergesetzt."
"Religiös unmusikalisch"
Es ist wohl kein Zufall, dass beide Denker – Jürgen Habermas wie Johann Baptist Metz – nicht nur gleich alt sind, sondern auch eine ähnliche intellektuelle Brucherfahrung gemacht haben, die mit Auschwitz beziehungsweise dem Holocaust bezeichnet werden kann. Es ist das Erschrecken vor der Monstrosität von Auschwitz, die beide in ihrem Ringen um ein "Nie wieder" verbindet und die sie Brücken zum jeweils anderen schlagen lässt. Bleibt am Ende die Frage, ob Habermas bei all dem nicht einen allzu funktionalistischen Begriff von Religion hat. Wird Religion hier nicht auf ihre gesellschaftliche Funktionalität konzentriert und somit verkürzt? Dazu noch einmal der Frankfurter Philosoph Thomas Schmidt:
"Das ist sicher ein Religionsbegriff aus der Beobachterperspektive. Habermas ist immer der Meinung, dass gerade eine säkulare, nachmetaphysische Vernunft nicht die Perspektive ‚der Religion‘ einnehmen kann: Man kann sich nicht in die Religion einfühlen und als Denker betrachtet sich Habermas ja selbst auch als religiös unmusikalisch. Aber es gibt ein großes Verständnis für Religion als Vollzugs- und Erfahrungsform und auch ein großes Verständnis für theologische Argumentationsfiguren, für Dogmatik. Er ist wie ein Kunstkritiker, der Kunst versteht, aber selbst nicht Künstler ist. So versteht er Religion: Er ist selbst nicht religiös, weiß aber sehr genau, worum es bei dieser Sache geht."