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90. Geburtstag von Jürgen Habermas
Ein streitbarer Intellektueller

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat seinen Einsatz für emanzipierte Lebensformen und internationale Solidarität nie aufgegeben. Wegen seiner Zwischenrufe zu gesellschaftspolitischen Themen gilt er als Staatsdenker - und prägt seit den 50er-Jahren die soziologische und philosophische Debatte.

Von Ludger Fittkau | 13.06.2019
Der Philosoph Jürgen Habermas am 12.12.2012 bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas wird am 18. Juni 90 Jahre alt (picture alliance / dpa - Martin Gerten)
Im Jahr 1953 veröffentlicht Martin Heidegger eine Vorlesung, die er während des Nationalsozialismus an der Freiburger Universität gehalten hatte. Als junger Philosophiestudent rezensiert Jürgen Habermas diesen Heidegger-Text für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". In seiner Besprechung zeigt Habermas auf, dass der berühmte Freiburger Philosoph in seiner Vorlesung unkommentiert von der – Zitat - "inneren Wahrheit und Größe" der nationalsozialistischen Bewegung spricht.
Diese aufsehenerregende FAZ-Rezension der Nachkriegszeit wurde die Geburtsstunde des Jürgen Habermas als öffentlicher Intellektueller. Daran erinnerte einige Jahrzehnte später Jutta Limbach, die damalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. In einer Laudatio, die sie anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises für Habermas hielt:
"Ihre philosophische Naivität oder Unbefangenheit raubte ihnen frühzeitig ein Mann, in dessen Philosophie sie bis dahin gelebt hatten, nämlich Martin Heidegger. Das Erlebnis dieser philosophischen Selbstvergessenheit bewahrte sie nicht nur vor dem zuweilen anzutreffenden Hochmut einer akademischen Elite, sondern bereicherte sie vor allem um die Erkenntnis, dass Philosophie ohne Soziologie blind ist."
Keine Philosophie ohne Soziologie
Oder ohne Journalismus, so sah es Habermas schon als junger Erwachsener. Parallel zur "FAZ" erschien ab 1949 auch wieder der "Kölner Stadtanzeiger", für dessen Gummersbacher Lokalredaktion Jürgen Habermas seine ersten Zeitungsberichte schrieb. Der in Düsseldorf geborene Habermas wuchs in Gummersbach auf – sein Berufswunsch Journalist war bereits im Abiturzeugnis vermerkt. Das bekannte Jürgen Habermas noch im vergangen Jahr, als ihm der Große Deutsch-Französische Medienpreis überreicht wurde. Für seine jahrzehntelangen intellektuellen Zwischenrufe in Sachen Europapolitik.
Auch diese öffentlichen Interventionen sind bis heute immer wieder Grenzgänge zwischen politischer Philosophie und Journalismus. So etwa die Feststellung, dass der französische Präsident Emmanuel Macron am Selbstbild der Deutschen als "besonders gute Europäer" gekratzt habe. Diese "gutgläubige Selbsttäuschung", so Habermas, habe allerdings spätestens seit der Eurokrise 2010 eine "faule Stelle" gehabt:
"Nach meinem Eindruck entlarvt das Auftreten von Emmanuel Macron auf der europäischen Bühne ein solche faule Stelle im Selbstverständnis jener Deutschen, überhaupt der Deutschen, die sich während der Eurokrise im festen Glauben auf die Schulter geklopft haben, sie seien doch immer noch die besten Europäer und würden alle anderen schon aus dem Schlammassel ziehen."
Habermas feine, durch eine kleine Spracheinschränkung zum Hinhören zwingende Artikulation ist ein Markenzeichen seiner streitbaren und oft auch strittigen intellektuellen Einwürfe.
Begriff der Solidarität von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert
Jürgen Habermas lenkt den Blick auch immer wieder auf zentrale politische Begriffe. Gerade dann, wenn sie nach seinem Geschmack zu sehr von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert werden. Zum Beispiel der Begriff der Solidarität. Wenn etwa von Solidarität mit von Arbeitslosigkeit gebeutelten Ländern des Mittelmeerraumes gesprochen werde, dann seien damit allzu oft lediglich Kreditzusagen gemeint, die an harte Gegenleistungen geknüpft würden, bemängelt Habermas. Man habe ihn bisweilen als einen "Euro-Romantiker" belächelt. Dennoch müsse europäische Solidarität mehr sein, als an strenge Konditionen geknüpfte Transferleistungen etwa für Griechenland, die am Ende gar nicht geleistet werden mussten:
"Entgegen dem wüsten Geschrei über Transferleistungen, die es ja niemals gegeben hat, sickert allmählich auch in das öffentliche Bewusstsein ein, die fehlende Legitimität und der zweifelhafte Erfolg von investitionshemmenden, haushaltspolitischen Auflagen und von Arbeitsmarktreformen, die für ganze Generationen Arbeitslosigkeit zur Folge hatte und noch immer haben."
Das kapitalistische System neigt dazu, alle anderen gesellschaftlichen Bereiche zu durchdringen und die menschlichen Beziehungen dem Primat der Ökonomie zu unterwerfen. Das Ergebnis ist die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, seiner Umwelt und womöglich auch von sich selbst. Das ist eine Grundthese der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule von Horkheimer und Adorno. Auch Jürgen Habermas greift das entfremdungstheoretische Paradigma in seinen Werken immer wieder auf. Der emeritierte Frankfurter Soziologe Tilman Allert sieht das bis heute als ein Markenzeichen seines Faches in der Mainmetropole:
"Die entfremdungstheoretische Konnotation des soziologischen Denkens die lässt immer so mitlaufen: Mehr oder weniger Mitleid oder mehr oder weniger Aufruf zu einem Sich-Wehren gegen diese Verhältnisse, das ist aber für die Disziplin Soziologie streng genommen überhaupt nicht zwingend."
Sich wehren gegen eine allumfassende Konsumkultur auch im Bereich des öffentlichen Raumes – dieses Motiv der kritischen Theorie taucht bereits 1962 in Jürgen Habermas berühmter politikwissenschaftlicher Habilitationsschrift auf. Ihr Titel: Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Darin beleuchtet er die Geschichte der politischen Debatte in Europa von den griechischen Stadtstaaten über das christliche Mittelalter bis zur sogenannten "bürgerlichen Öffentlichkeit", die mit der Aufklärung entsteht. Die vieldiskutierte Schrift endet mit einem Appell für eine engagierte politische Öffentlichkeit. Das Internet gab es damals noch nicht. Jürgen Habermas entwickelte eine sogenannte Diskursethik, die eine breite Beteiligung der Bürgergesellschaft an der politischen Debatte vorsieht. Heute erkennt er eine "Verinselung" der Diskurse im Internet.
Anknüpfung an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule
1964 erhielt Habermas einen Ruf nach Frankfurt am Main auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie. Es war die Zeit, als sich die Studentenbewegung formierte. Der von Marx und Hegel inspirierte Habermas war insbesondere für die linken Studierenden jemand, der an das gesellschaftskritische Denken des älteren Theodor W. Adorno und dessen vor allem gemeinsam mit Horkheimer etablierte Frankfurter Schule anknüpfte. Der spätere deutsche Außenminister Joschka Fischer hörte in den 60er-Jahren in Frankfurt am Main Vorlesungen von Adorno und von Jürgen Habermas. Dessen Bedeutung als quasi staatstragender öffentlicher Intellektueller in den vergangenen Jahrzehnten verwundert Joschka Fischer viel später immer noch ein wenig:
"Ich meine, man könnte auch ironisch sagen, er ist fast zum Staatsphilosophen des demokratischen Deutschland geworden. Das würde ihm nicht gefallen. Das war ein anderer, was den preußischen Staat betraf, Hegel. Aber er ist so etwas geworden, bei aller kritischen Distanz."
Staatsphilosophen hervorzubringen: Das war ursprünglich nicht das erklärte Ziel der kritischen Sozialforscher in Frankfurt am Main. Gerade in Zeiten der Studentenunruhen nicht. Aber Jürgen Habermas distanzierte sich 1967 klar von einem möglichen Gewaltkurs der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO. Es waren etwa die revolutionären Ideen des Studentenführers Rudi Dutschke, an denen sich Habermas rieb. Dutschke machte jedoch damals bei einer Frankfurter Studierendenversammlung deutlich, dass er keinen isolierten Umsturz der damaligen bundesrepublikanischen Verhältnisse propagierte:
"Der Begriff der Revolution ist heute auch noch international zu begreifen. Es wird keine deutsche Revolution geben. Es wird aber einen weltweiten Prozess der Emanzipation in einem langen Sinne geben, Völker kämpfen schon."
Anfang der 1970er-Jahre verließ Habermas das studentenbewegte Frankfurt am Main in Richtung des vergleichsweise beschaulichen Starnberger Sees, an dem er noch heute lebt. Dort war er ein Jahrzehnt lang Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Die Brücken nach Frankfurt, auch zum Institut für Sozialforschung, brach Habermas jedoch nie ab. Erst 1994 wurde er an seiner Universität emeritiert.
Herausragender Status als öffentlicher Intellektueller
Heute ist deutlich, dass die Soziologie - auch in ihrer Ausprägung als Kritische Theorie der Frankfurter Schule - ihren Status als Leitwissenschaft längst wieder verloren hat, den sie vielleicht im Zuge der 68er-Bewegung erlangt hatte. Tilman Allert, emeritierter Soziologieprofessor in Frankfurt am Main:
"Das Selbstverständnis unserer heutigen Zeit - wir sind in hohem Maße dominiert über ganz andere Wissenschaften."
Vor allem über die Neurowissenschaften und die Hirnforschung, glaubt Allert.
Dennoch hat Jürgen Habermas seinen herausragenden Status als öffentlicher Intellektueller bis heute nicht verloren. Ob der sogenannte Historikerstreit zu Beginn der 1980er-Jahre, in dem Habermas dafür plädierte, die historische Singularität des Holocaust nicht in Frage zu stellen. Oder wenn er etwas überraschend mit dem ehemaligen deutschen Papst Benedikt XVI. über die Rolle der Religion in der heutigen Gesellschaft diskutiert oder sich zum traurigen Zustand der europäischen Sozialdemokratie äußert – Habermas Zwischenrufe werden immer beachtet. Die Bitte, die Jutta Limbach einmal an Jürgen Habermas richtete, gilt heute - zu seinem 90. Geburtstag - noch immer. Eine Bitte, die angesichts der Widerkehr des Völkischen auf der deutschen Politikbühne aktueller ist denn je:
"Bleiben Sie der Ihnen eigenen Tugend treu, immer wieder einen Streit über die Zukunft der Bürgergesellschaft zu entfachen. Die kulturelle Lesart der Nation, die nach ihrer Ansicht im Gegensatz zur Völkischen dazu beitragen kann, einen solidarischen Zusammenhang zwischen Personen zu stiften, die bis dahin einander fremd gewesen sind."