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Relotius & Co
Welchen Schaden richtet Storytelling an?

Die jüngsten Debatten um die Autoren Claas Relotius, Robert Menasse und Takis Würger haben deutlich gemacht: Fakten und Fiktion zu vermischen, macht unglaubwürdig und ist ethisch fragwürdig. Die Grenzen des Storytellings in Journalismus, Wissenschaft und Literatur müssen neu ausgelotet werden.

Von Dörte Hinrichs | 07.02.2019
    Der ehemalige "Spiegel"-Reporter Claas Relotius erhielt 2017 den Reemtsma Liberty Award.
    Noch 2017 für sein Storytelling ausgezeichnet: Der ehemalige "Spiegel"-Reporter Claas Relotius (picture alliance / Eventpress / Golejewski)
    Was ist Erzählkitsch und wo vermischen sich Fiktion und Realität in unzulässiger Weise? Diese Grenze wollten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ausloten bei der Diskussion am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen unter der Überschrift "Relotius Reoladed". Vom "Fetisch der verdammt guten Geschichte", sprach der Bonner Literaturwissenschaftler Dr. Johannes Franzen, der von der Dichte der Skandale überrascht war.
    Aber inwieweit sind die Fälle Relotius, Menasse und Würger überhaupt vergleichbar? Hier wurde klar differenziert – zwischen dem Betrug eines zur Wahrheit verpflichteten Journalisten und der künstlerischen Freiheit von Romanciers, die historische Personen oder Ereignisse auf teilweise umstrittene Weise in fiktionale Geschichten einbetten.
    Moralische Bedenken
    "Was aber schon wichtig ist, ist zu sehen, dass es etwas gibt, was diese drei Fälle verbindet: Nämlich, dass es sich um eine Art und Weise handelt, mit der Wirklichkeit umzugehen erzählerisch, die für ethische Probleme gesorgt hat, die für moralische Bedenken gesorgt hat, und zwar in allen drei Fällen, und dazu gehört auch der Fall Relotius.
    Die Vorstellung, dass die Autoren, die Wirklichkeit, vor allem reale Personen benutzt haben – benutzt, um etwas zu erreichen, was sie eigentlich nicht dürfen: Das ist bei Menasse, dass er etwas jemanden hat sagen lassen, was ihm in den Kram gepasst hat, das ist bei Würger, dass er quasi diese Geschichte von Stella Goldschlag für einen möglicherweise Unterhaltungsroman genutzt hat, und bei Relotius, dass er quasi die realen Personen, die er teilweise zusammengezogen erfunden hat, quasi auftreten hat lassen in einer Form von guter Story, die vor allem ihn gut hat dastehen lassen. Und das zeigt, dass quasi auch in fiktionaler Literatur die Frage nach dem Wirklichen eine Rolle spielt, insofern als es bestimmte Geschichte, bestimmte Stoffe gibt, wo auch im Roman, der sich als fiktional ausgibt, die Verarbeitung von wirklichen Zusammenhängen ihre Grenzen finden."
    Dem hätte womöglich Florian Kessler widersprochen. Der ursprünglich angekündigte Lektor des Hanser Verlages, der den Roman "Stella" von Würger verlegt hat, hatte kurzfristig abgesagt – mit seiner Position wäre die Debatte sicher noch kontroverser verlaufen.
    Es waren vor allem die aus dem realen Kontext gelösten, im Roman eingestreuten Passagen aus den Prozessakten der Stella Goldschlag, die Auskunft geben über das Schicksal der von der Jüdin verratenen Juden, die heftig kritisiert wurden. Von "verunglückten Stolpersteinen", die gezielt als Cliffhanger eingesetzt werden, sprach Prof. Julika Griem, Leiterin des Kulturwissenschaftlichen Institutes - dass also quasi aus dem Zusammenhang gerissene, gezielt platzierte historische Fakten genutzt würden, um eine erfundene Geschichte spannender zu machen. Tatsache ist, dass der Roman sich gut verkauft, wie überhaupt die Vorliebe für historische Stoffe, für Dokutainment oder wahre Kriminalgeschichten in den letzten Jahren immer größer geworden ist, genauso wie für die oft damit verbundene Form des Storytellings.
    Kult des Storytellings
    "Was mich stört, ist, dass es eine bestimmte Einengung gibt auf bestimmte Typen von sehr einfachen, schematischen emotionalisierenden Geschichten, im Bereich des Management, im Bereich des Coachings, im Bereich der Therapie, im Bereich der Produktion von Corporate Identities ist diese ganz spezifische Form des Storytellings: fünf Akte, Heldenreise, Aufbruch, Krise, Heimkehr, immer noch sehr dominant, und das halte ich für ein Problem."
    Der Kult des Storytellings mit seiner klaren Dramaturgie und starken Protagonisten ist nicht nur an Journalisten- und Filmhochschulen verbreitet, sondern auch in die Wissenschaftskommunikation eingesickert. Ohne den Relotius-Skandal, so die Anglistin Julika Griem, wäre das immer so weiter gegangen und die "Story" z.B. auch im Hochschulentwicklungsplan oder am Goethe-Institut das dominierende Prinzip. Dabei finden sich in den Literatur- und Kulturwissenschaften schon Ansätze einer kritischen Reflexion:
    "Es gibt sogar innerhalb der Gesprächsforschung, der sog. Narratologie schon seit einigen Jahren eine Debatte darüber, unter dem Stichwort des narrativen Imperialismus, ob man davon ausgehen kann, dass Narrativität tatsächlich dieser der privilegierte Modus der Weltdeutung ist. Und da gibt es auch kritische Stimmen, die sagen, es gibt so etwas wie ein narratives Identitätssystem, das uns zu stark aufoktroyiert, unser Leben in jeder Hinsicht erzählerischer zu gestalten und erst dann sagen zu können: nur ein erzähltes Leben ist auch ein gutes Leben."
    Von einer Krise des Storytellings zu sprechen, so weit wollte die Historikerin Dr. Nina Verheyen von der Universität Köln nicht gehen. Sie würde gerne das Interesse vieler Leser oder Zuschauer für historische Themen nutzen, um den Fokus stärker auf geschichtswissenschaftliche Literatur zu lenken als auf literarische Geschichtsschreibung.
    "Eine Möglichkeit wäre, dass die großen Rechercheabteilungen der großen Fernsehanstalten- systematischer noch als sie es bislang tun –tatsächlich mit Historikern arbeiten, wenn es darum geht, auch für Spielfilme evtl. zu recherchieren. Das gibt es ja schon, dass Historiker dann als Berater tätig sind, aber nicht selten lassen sie sich dann aus dem Abspann streichen, weil sie nicht zufrieden sind, mit dem, was da passiert ist, weil es regelrecht rufschädigend wäre, ihren eigenen Namen in Verbindung mit so einem Produkt zu sehen."
    Wenn man die Einwände von Historikern ernst genommen hätte, wäre mancher Spielfilm anders geworden - vielleicht sogar spannender, glaubt Verheyen. Doch inwieweit ist es überhaupt möglich, komplexe Sachverhalte angemessen, verständlich und unterhaltsam darzustellen?
    Für Komplexität sensibilisieren
    "Ich glaube, es ist tatsächlich möglich, für Komplexität zu sensibilisieren und gleichzeitig Komplexität auch zu reduzieren. D.h. die Komplexität nicht in toto darzustellen, denn dann versteht man tatsächlich nur noch sehr, sehr wenig. Deswegen muss man sich eben auf bestimmte, als wesentlich erscheinende Merkmale dann konzentrieren. Das ist aber möglich, auch in der Wissenschaft, also ohne auf eine unlautere Art und Weise zu vereinfachen.
    Gleichzeitig darf man glaube ich nicht unterschätzen, wieviel Sinn für Komplexität auch "ganz normale Bürger" haben. Ich glaube, die werden auch teilweise unter Wert verkauft, wenn ihnen Produkte angeboten werden, die so ganz stark vereinfacht sind. Es gibt übrigens viele Geschichte, Spielfilme, Romane, die unglaublich komplex sind, und die werden trotzdem gelesen."
    Und können sogar Aha-Effekte auslösen. Auf mehr Beispiele dieser Art dürfen wir gespannt sein, von Filmemachern, Schriftstellern und Journalisten, die auf immer mehr Plattformen und unter wachsendem ökonomischem Druck um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen. Wie nachhaltig wird die Empörung sein über den Reporter Claas Relotius, die Schriftsteller Robert Menasse und Takis Würger, die ja nicht die ersten waren, die es mit der Wahrheit nicht so genau genommen haben?
    Neue Ethik des Medienkonsums gefragt
    "Was man daraus mitnehmen kann, damit das nicht verebbt ist, ist vielleicht die Frage danach, ob sich daraus eine neue Ethik des Medienkonsums auch ableiten lässt, wo man sich eben selbst die Frage stellt, jetzt nicht im Sinne Zweifel an der Presse und ihrer Integrität, wie das ja auch leider verbreitet wurde, sondern vor allem Zweifel an sich selbst, Zweifel daran, inwiefern man selber bestimmte Motive hat, bestimmte Geschichten zu lesen."
    Meint der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen von der Universität Bonn, wo übrigens unter den Studierenden in seinen Lehrveranstaltungen kaum einer vom Fall Relotius gehört hatte. Ist das Ganze als nur eine Debatte im Elfenbeinturm, in den Feuilletons und Medienanstalten? Julika Griem, die Leiterin des KWI in Essen, wäre schon zufrieden,
    "Wenn wir die Diskussion dazu nutzen könnten, um nicht nur Empörung und Moralisieren zu produzieren, sondern möglichst viele Teilnehmer mit einbeziehen, die dazu beitragen, dass wir Fragen stellen, die noch nicht gestellt worden sind und dadurch vielleicht ein etwas originelleres Bild größerer Zusammenhänge gewinnen können."
    Und auch im Publikum, das sich engagiert an der Diskussion über die Grenzen des "Storytelling" in Journalismus, Literatur und Wissenschaft beteiligt hat, sieht die eine oder der andere Handlungsbedarf: z.B. Wolfgang Rohe, Geschäftsführer der Mercator-Stiftung, wo Storytelling als Fortbildungsmaßnahme sehr beliebt ist.
    Kohärenz der Argumente statt Kohärenz der Geschichte
    "Ich würde mich immer - nach dieser Veranstaltung noch mehr als vorher- dafür stark machen, dass die Kohärenz der Argumente, so wie das hier ja auch von Frau Verheyen gesagt worden ist, die richtige ist, und nicht die Kohärenz der Geschichte. Und die Verführung ist natürlich sehr stark, eine kohärente Geschichte zu erzählen, die hat ihre eigene Logik, und dann tendiert sie irgendwann ins Fiktionale. Und dann ist sie angreifbar und schadet der Sache, für die sie eigentlich erzählt werden sollte."
    Und Sabine Behrenbeck vom Wissenschaftsrat hält die Gier nach der guten Geschichte zwar für nachvollziehbar, aber auch für gefährlich:
    Gefährliche Gier nach der guten Geschichte
    "Wenn ich etwas, was ich eigentlich auf der intellektuellen Ebene als wahr beweisen will, in einer narrativen Verpackung tue, damit es leichter ist, damit es auch lieber genommen wird, damit die Leute sich überhaupt dafür interessieren, weil das andere so anstrengend ist und auch geistige Disziplin erfordert und vielleicht auch Vorkenntnisse, dann ist es eine Verführung, wenn man unter Druck steht, Zeitdruck, Konkurrenzdruck, Aufmerksamkeitsdruck, dass man sagt, ach, das mache ich mir jetzt mal einfach, ich erzähle es lecker und dann flutscht es so durch. Es geht auch darum, was wir als Rezipienten dazu beitragen, dass diese Dinge passieren. Wenn wir als Rezipienten uns selber an der Stelle an die Nase fassen, und sagen, Vorsicht, jetzt muss ich aufpassen, ich darf mich nicht von dieser leckeren Geschichte so verführen lassen, ich darf meinem Hunger an dieser Stelle nicht so nachgeben. Ich glaube, diese Gier nach der guten Geschichte, die ist gefährlich, und da können Rezipienten selber dazu beitragen, dass die nicht sie übermannt."