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Renoviertes Bergdorf
Labro wird wieder lebendig

Als der flämische Architekt das Bergdorf Labro 1968 entdeckte, lebten hier gerade noch etwa 70 Bewohner. Er beschloss, das Dorf zu retten und renovierte zusammen mit seinen Studenten Haus für Haus – ohne einen Euro vom Staat. Das freut heute Touristen ebenso wie die Bewohner.

Von Lottemi Doormann | 17.03.2019
Labro: Blick auf den See hinunter.
Labro: Blick auf den See hinunter. (Deutschlandradio / Lottemi Doormann)
Still in der Morgensonne liegt der See, gesäumt von bewaldeten Bergen. Am Rande des Lago di Piediluco dümpeln ein paar Ruderboote. Nur wenige Badegäste sind zu sehen. Jenseits des Sees öffnet sich der Blick auf ein Dorf, das weit weg auf einem Berghang thront. Zu diesem Dorf steigen wir jetzt hinauf, erfahren wir von unserem Begleiter Giovanni Nori.
"Das ist Labro. Also Labro liegt in Latium, und wir haben circa noch eine Stunde ganz gemütlich zu laufen. Und dann werden wir empfangen von unserm Gastgeber. Das ist der Ivan, der Architekt, der dieses Dorf praktisch wieder zum Leben erweckt hat."
Etwa 220 Höhenmeter sind zu bewältigen, immer wieder mit einer schönen Sicht über den See. Nach gut einer Stunde erreichen wir das mittelalterliche Dorf mit seinen mächtigen Mauern aus hellen Natursteinen. Wir spazieren durch schmale gepflasterte Gassen, von Bögen überwölbt. Die Häuser sind steil an die Felsen gebaut, manche mit Treppenaufgängen, andere mit Balkonen oder Terrassen, und ganz oben steht das mehr als tausend Jahre alte Kastell mit einem 40 Meter hohen Turm - alles zusammen ein einzigartiges Ensemble. Überall sind Blumentöpfe zu sehen, an den Mauern ranken Kletterpflanzen, in jeder Ecke gedeihen üppige Büsche und Bäume.
Unglaubliche Entdeckung
Dass Labro in seiner Substanz erhalten blieb, ist dem flämischen Architekten Ivan van Mossevelde zu verdanken, den wir in seinem Haus, einem ehemaligen Palazzo, besuchen. Während wir uns mit Speis und Trank stärken, berichtet der heute 78-Jährige:
"Ich war 28 Jahre, das war in 68, wenn ich die Reise nach Italien gemacht habe. Das war für mich eine Entdeckung, eine unglaubliche Entdeckung. Die Schönheit von dem Dorf. Nur etwas verlassen, es waren - glaube ich - noch 70 Leute hier, die hier wohnten. Aber die ganz großen Palazzi wie dieser hier waren verlassen. Was mich ganz getroffen hat, ist die Homogenität des Dorfes hier: Nur Stein in der gleichen Farbe, die Straßen der gleiche Stein, aber die Farbe von Wasser."
Zurück in Belgien, beschloss Ivan, "das Dorf zu retten". Labro ist auf Felsen gebaut, unterhalb des Kastells vor achthundert Jahren. Es sind Häuser mit Balkendecken, sehr intelligent errichtet, mit Mauern ohne Zement, so dass sie flexibel sind. Deshalb gab es hier - anders als in vielen anderen Orten Italiens - nie Erdbebenschäden. Es gelang dem flämischen Architekten, in Rom eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass weder in Labro noch in der Umgebung etwas verändert werden darf – und zwar so weit man von hier oben schauen kann. Also bis hinunter zum See.
"Es ist das einzige Dorf in ganz Italien, wo man in der ganzen Gegend hier nicht bauen und nicht intervenieren kann, was man vom Dorf aus sehen kann. Alles Grün in der Umgebung ist blockiert. Ist reserviert. Ist geschützt. Das ist natürlich für mich die große Kraft gewesen."
Renovierung Haus für Haus
Es ist ganz langsam gegangen, die Häuser nach und nach zu renovieren, berichtet Ivan. Er hat eine erste Wohnung verkauft und mit dem Geld die nächste Wohnung renoviert. Nicht "restauriert", betont er, das hätte Labro verändert. Viele seiner Architekturstudenten aus Belgien haben hier ganze Sommer gearbeitet, in zwei Gruppen von 16 Personen mit dem schweren Material auf dem Rücken. So ging das von oben nach unten allmählich weiter, auch genauso mit den Treppen und den Gassen, einen halben Meter bis zu sechs Meter breit - ohne einen Euro Hilfe vom Dorf oder vom italienischen Staat. Was empfindet Ivan heute, wenn er durch Labro geht?
Straße in Labro.
Straße in Labro. (Deutschlandradio / Lottemi Doormann)
"Es ist für mich ein Wunder. Ich hatte viele Freunde aus Deutschland hier. Und dann sagten sie auch: "Sie haben nicht umsonst gelebt." Ich glaube, es muss etwas so sein, ohne viel Geld verdienen wie hier. 44 Jahre Arbeit. Aber es ist ... wenn ich die Geschichte wieder anschaue - ganz schwer gewesen, aber ganz schön auch."
Wer gern wie die Wandergruppe über Nacht in Labro bleiben möchte, findet hier eine besondere Art der Unterkunft. Seit vier Jahren betreiben Ivan und seine Frau Anne die "Albergo Diffuso Crispolti": nämlich unterschiedlich große Ferienwohnungen, die über mehrere historische Häuser verteilt sind, zumeist mit einem phantastischen Blick über die umliegenden grünen Berge bis hinunter zum Piediluco-See.
Schatzkammer und Fluchtweg
Abends bummeln wir auf vielen Treppenstufen zum Restaurant "Arco Luna" weiter unten im Dorf. Der Besitzer Romano ist in Labro geboren. Seine Eltern hatten hier eine Metzgerei. Und wie war es für ihn als Kind damals? fragen wir. Unser Begleiter Giovanni übersetzt. Er hat eine sehr schöne Kindheit gehabt, sagt er. Damals waren sie sehr viele Kinder, es lebten noch 1500 Menschen in Labro, berichtet er.
Vor zehn Jahren hatte Romano die Idee, in der früheren Wohnung und Metzgerei seiner Eltern und Großeltern ein Restaurant aufzumachen. Er erzählt:
"Ich bin da aufgewachsen zwischen Käse, Fleisch, ich bin also mit Lebensmitteln groß geworden. Und dann habe ich gesagt: Ich mache ein Restaurant auf, und ich will Superqualität bieten."
Romano will seinen Besuchern einen Geheimgang zeigen. Er geht vor. Wir stapfen einen langen, engen, gewundenen Gang tief in den Felsen hinein und hinunter.
"Schatzkammer! Diese Grotte ist tausend Jahre alt. Wir sind hier unter dem Kastell von Labro. Es war früher ein Fluchtweg, wo man nach oben verschwinden konnte", sagt Romano.
Gefühl vergangener Zeit
Hier in dieser Grotte haben sein Opa und sein Vater Wurstwaren und Käse gelagert, die zuvor oben getrocknet worden waren, berichtet er. Seine Oma sei eine passionierte Weinkennerin gewesen. Sie habe einen Wein von 1929 hier gelagert. Für uns nimmt Romano einen zehn Jahre alten Montepulciano zum Abendessen mit nach oben. Es wird ein Festessen.
"Wir haben heute Hasen. Und wir haben ein ganz besonderes Schwein: "nero sabino".
Romano fordert seine Gäste auf, den Schinken zu probieren. Küchenchef Paulo serviert als Vorspeise "pizzi gotti" – hausgemachte Nudeln mit schwarzen Trüffeln, obendrüber lokaler Käse und dazu verschiedene Sorten Wurst. Der von Giovanni angekündigte Hasenbraten kommt als Hauptgericht auf den Tisch. Und als wir uns schließlich nach dem Dessert auf den Rückweg zu unseren Quartieren oben im Dorf machen, ist es stockdunkle Nacht. Das Licht unserer Taschenlampen huscht über die Treppengänge. Totale Stille. Kein Mensch weit und breit. Es ist ein Gefühl wie in längst vergangener Zeit.