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Rentenreform mit fiktiven Zahlen?

Simon: Rentenreformen sind in der Geschichte der Bundesrepublik im Vorfeld immer heiß diskutiert worden. Häufig aber haben sich Regierung und Opposition auch zusammengesetzt, um solchen Vorhaben - mit Folgen weit in die Zukunft hinein - eine breitere Basis zu geben. So hat man es beispielsweise gehalten zuletzt bei der Rentenreform, die 1992 in Kraft trat. 1996 allerdings wurde das folgende Rentengesetz gegen den Widerstand der Opposition - das war damals SPD und Grüne - verabschiedet. Der verantwortliche Arbeits- und Sozialminister hieß damals Norbert Blüm, und den begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen Herr Blüm.

    Blüm: Guten Morgen Frau Simon.

    Simon: Herr Blüm, finden Sie irgendetwas Gutes an dem Rentenreformpaket, so wie es jetzt vorliegt?

    Blüm: Ich finde gut, dass die private Vorsorge stärker gefördert wird in den unteren Einkommensgruppen. Allerdings - wie das geschieht, das ist keine Reform; das ramponiert die Rentenversicherung. Das will ich gerne begründen: Sie verquickt - diese Regierung - die gesetzliche Rentenversicherung mit der privaten Vorsorge, und zwar so. Es gehen vier Prozent Beitrag für die private Vorsorge in die Nettolohnberechnung ein. Damit sinkt der Nettolohn, damit sinkt der Rentenanspruch also auch für diejenigen, die gar keine private Vorsorge sich leisten können. Mit anderen Worten: Die Geringverdienenden bezahlen eine Rechnung für Leistungen, die sie gar nicht erhalten. Das ist eine auf den Kopf gestellte Solidarität. Zweitens: Die Faktoren - vier Prozent - die sind aus der Luft gegriffen. Sie können genauso gut morgen sagen: 6 Prozent; dann sinkt der Rentenanspruch noch weiter. Ab 2011 soll nur noch 90 Prozent des Bruttolohns die Grundlage sein der Rentenberechnung. Wieso 90 Prozent? Sie können genauso gut sagen: 85 oder 95. Wieso 2011? Sie können genauso gut sagen: 2014 oder 2008. Mit anderen Worten: Aus der Luft gegriffene, willkürliche Zahlen - das schafft keine Verlässlichkeit. Dritter Punkt: Bei der Hinterbliebenenrente wird den Ehepartnern ein Wahlrecht zwischen Splitting - also zwischen Zusammenlegen und Teilen - oder herkömmlicher reduzierter Witwen- oder Witwerrente eingeräumt. Die müssen die Wahl mit 65 Jahren treffen. Was für sie besser ist, weiß man nur, wenn man weiß, wer länger lebt. Das wissen aber die Ehepaare nicht. Das ist die Einführung des ‚russischen Rouletts' in die Rentenversicherung.

    Simon: Herr Blüm, Sie haben da detailliert Kritik geübt. Zum Beispiel im Fall der Hinterbliebenenversorgung sprechen Sie etwas an, was von vielen angesprochen wird. Aber mal - im Kern gesehen - sind das doch alles Vorschläge, die Sie auch gerne in viele Richtungen in die Tat umgesetzt hätten. In der privaten Altersversorgung war es ja damals wohl so - wenn ich das richtig in Erinnerung habe -, dass, anders als Hans Eichel jetzt, Theo Waigel den Finanzsack zugemacht hat und keine steuerlichen Anreize bieten wollte . . .

    Blüm: . . . aber selbst, wenn er sie geboten hätte, hätte ich die private Vorsorge nie so mit der gesetzlichen Rentenversicherung verquickt, wie es jetzt geschieht, dass die Niedrigverdiener, die es gar nicht leisten können - eine Verkäuferin mit 1.600 Mark, die wird trotz Förderung die vier Prozent sich nicht leisten können, aber ihr Rentenanspruch sinkt. Mit anderen Worten: Die Rente der Verkäuferin sinkt, weil ihr Verkaufsleiter eine Privatvorsorge abschließt. Also, auf die Idee wäre ich nie gekommen. Das ist eine Uraufführung der deutschen Sozialpolitik, dass die Solidarität so ausgelegt wird: Die Geringverdienenden helfen den Höherverdienenden. Das habe ich noch nie gehört.

    Simon: Also, wenn ich Sie richtig verstehe: Bei aller Vorliebe für ein zweites Standbein, für eine Privatvorsorge, sagen Sie: Das ist jetzt so schlecht, das kann ich nicht unterstützen.

    Blüm: Ja. Es galt immer in unserer Alterssicherung: Drei Säulen - die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche und die private. Und richtig ist, dass die betriebliche verkümmert ist und dass die private ausgebaut wird. Aber man kann es nicht so machen, so willkürlich, mit fiktiven Zahlen - vier Prozent. Sie können genauso gut - ich wiederhole mich - fünf Prozent sagen. Es sinkt dann wieder der Rentenanspruch, ohne Rücksicht darauf, ob jemand diese Privatvorsorge trifft. Und im übrigen: Mit der Entlastung - also, wollen wir doch mal rechnen: In unserer Rentenreform war für 2030 = 24 Prozent Rentenbeitrag, also für die Arbeitnehmer 12 Prozent. Bei Riester sind es 22 Prozent gesetzliche Rentenversicherung, geteilt durch zwei = 11 Prozent plus vier Prozent private Vorsorge. 11 plus 4 ist 15 - und das habe ich schon im ersten Schuljahr gelernt, dass 15 Prozent mehr Belastung sind als 12 Prozent.

    Simon: Herr Blüm, jetzt wird aber ganz klar, dass die Rente wohl unvermeidlich zum Wahlkampfthema wird bei der Union, denn es hat wenig Gespräche vorher gegeben. Sie persönlich haben das immer zu vermeiden versucht: Bei diesem Thema dürfe der Bürger nicht verunsichert werden - das war Ihr Credo. Was kann Gutes dabei herauskommen, wenn die Rente Wahlkampfthema wird - mal abgesehen von Plakataktionen?

    Blüm: Also zunächst mal: Sie können keine Themen aus dem Wahlkampf nehmen, wenn die Menschen sich dafür interessieren. Das sind elementare Fragen, die können Sie ja nicht aus dem Wahlkampf rausbringen. Richtig ist: Man muss alles immer tun, um eine möglichst breite Übereinstimmung zu schaffen. Also ein Rentenkonsens - der ist sehr viel Wert. Da muss man sich sehr viel Mühe geben, dass er zustande kommt. Allerdings nicht um jeden Preis. Sie können jetzt nicht um des lieben Friedens willen sagen: Wir machen mit. So jedenfalls, wie das jetzt vorliegt, dem werde ich nicht zustimmen. Tut mir leid, aber ich kann so einer Sache nicht zustimmen.

    Simon: Aber tut es Ihnen als wirklicher Hauptvertreter der Konsensrichtung - Sie haben immer mit den Sozialdemokraten, bei allen Gegensätzen, vorher geredet - tut es Ihnen nicht in der Seele weh, wenn zum Beispiel jetzt der zustimmungspflichtige Teil Reform schnurstracks in den Vermittlungsausschuss geht? Da verhandeln nicht die Sozialpolitiker, da wird das Machbare ausgehandelt.

    Blüm: Also, die ganze Diskussion der letzten Jahre, die kann ich nur mit großem Bedauern zur Kenntnis nehmen. Gewinner gibt es da keine, da gibt es nur einen Verlierer: Das Vertrauen in die Rentenversicherung. Und das ist ein schwerer Schaden. Diese Diskussion - chaotisch geführt - alle vier Wochen einen neuen Vorschlag - bis kurz vor Torschluss, bis gestern noch, werden neue Regelungen getroffen. Das durchschaut ja niemand mehr, das ist doch keine Vertrauensgrundlage. Rentenpolitik ist Vertrauenspolitik. Und deshalb: Es tut mir leid - unsere Rentenversicherung ist ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates Deutschland -, wenn die behandelt wird wie ein Balg, an dem jeder herumzerrt. Simon: Sie sprechen gerade das an, was eine Schwäche von Bundesarbeitsminister Riester nach außen scheint, und zwar dieses, dass er sich bis zuletzt hat ändern müssen in seiner Position, weil es soviel Kritik gegeben hat. Warum hat die Union das nicht stärker benützt - wie auch die Verbände -, um ihre Vorschläge, die sie ja hat, durchzusetzen? Warum hat man sich da dem Gespräch so verweigert?

    Blüm: Nein, wir haben ja sogar sehr viele Gespräche geführt. Und richtig ist: Wir haben ja nicht nur Vorschläge, wir haben ein Gesetz gehabt, und zwar vor der Bundestagswahl. Wir haben das Gesetz verabschiedet; es war nicht sehr populär, aber es war die Wahrheit. Und dieses Gesetz hat die Regierung aus meiner Sicht ohne Not außer Kraft gesetzt, ohne zu wissen, was sie an diese Stelle setzt. Es gibt aus meiner Sicht nichts besseres als eine demographische Komponente, weil die in der Sache begründet ist; die ist Versicherungsmathematik. Wenn die Menschen - Gott sei dank - länger leben, dann beziehen sie länger Rente. Das sei jedem gegönnt - ich wünsch es mir auch -, aber das können nicht nur die Jungen bezahlen, und zwar aus Gerechtigkeitsgründen muss das auf beide Schultern gelegt werden, Jung und Alt.

    Simon: Aber Sie sprechen jetzt einen Vorschlag von vor der Wahl 1998 an, Ihr Gesetz von damals. Aber da nun die anderen an der Macht sind, hätte man doch mit denen auch verhandeln können darüber.

    Blüm: Es wurde unendlich viel verhandelt, unendlich viel . . .

    Simon: . . . in den letzten Monaten aber nicht mehr . . .

    Blüm: . . . ja, es ist schwer, mit einer Regierung zu verhandeln, die alle vier Wochen etwas als ‚der Weisheit letzter Schluss' ausgibt und dann vier Wochen später war das nur die vorletzte Weisheit. Ich kann gar nicht mehr numerieren, wieviel Vorschläge es gegeben hat. Das macht natürlich ein Verhandeln schwer. Und wie gesagt: Eine solche Verquickung - die ist nicht konsensfähig. Eine solche Verquickung von zwei Systemen, die jede ihre Aufgabe hat - private wie gesetzliche -, aber die so zu vermengen, ohne Rücksicht darauf, ob jemand sich eine private leisten kann und den Rentenanspruch zu senken - dem würde ich nie zustimmen, unter keinen Bedingungen. Das ist gegen alle Übungen, gegen alle Prinzipien der Solidarität. Das ist Solidarität auf den Kopf gestellt. Simon: Das war Norbert Blüm, der frühere Bundesarbeits- und Sozialminister zur Rentenreform, die heute im Bundestag zur Beratung ansteht - die übrigens vom Deutschlandfunk auf der Langwelle 153 KHz übertragen wird. Der frühere Bundesarbeitsminister wird gegen das Paket stimmen. Danke für das Gespräch.

    Blüm: Dankeschön

    Link: Interview als RealAudio