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Reportagen aus der hässlichen deutschen Bananenrepublik

Wallraff - das war doch der, der die Arbeitsmethoden der "Bild"-Zeitung öffentlich machte? Der als Obdachloser lebte? Als Afrikaner in Deutschland? Als Callcenter-Mitarbeiter? Der bekannteste Undercover-Journalist der Republik legt seine Reportagen vor - schön ist sein Deutschland nicht.

Ein Autorengespräch von und mit Walter van Rossum | 01.12.2009
    Ehrlich gesagt, das hätte man sich denken können, dass es ein Afrikaner hier nicht so ganz leicht hat. Nur, wie sieht das aus im Alltag? Wie fühlt sich das an? Was macht das mit den Betroffenen? Da wird es schon ein bisschen ungemütlicher. Dann müsste man schon ein bisschen näher rangehen – oder man macht es gleich wie Günter Wallraff: Man wechselt die Identität und wird zum Afrikaner. Hat dieser Identitätswechsel nicht auch etwas Bedrohliches? - habe ich Günter Wallraff gefragt.

    "Nein, im Gegenteil. Ich habe ursprünglich ein eher unterentwickeltes Selbstbewusstsein, eine schwache Identität, und indem ich mir diese Rollen suche – das sind ja auch Rollen, mit denen ich mich identifiziere - fühle ich mich nichtdazugehörigen Menschen eher dazugehörig. "

    Es ist etwas anders, wenn ein Journalist problematische Zustände beobachtet oder wenn er sich unmittelbar mit Haut und Haaren ins Problemgebiet begibt. Und es wird besonders ungemütlich, wenn Wallraff sich unter die Obdachlosen begibt.

    "Ich fühle mich überhaupt fremd in dieser Gesellschaft, ich fühle mich so fremd in Vielem, dass ich ausbreche und mich dann auch immer neu definiere. ( ... ) Gerade auch in der Obdachlosenrolle, wo ich da bei 15 Grad unter null im Freien übernachtet habe, und wo dann ein paar Tage später einer vor Entkräftung am nächsten Morgen nicht mehr aufgestanden ist. Da habe ich Glück gehabt. Aber auch da gab es welche, mit denen ich jetzt noch Kontakt habe."

    Wenn wir in eine Kneipe gehen, dann sehen wir manchmal einen vom Lauf der Jahre vergilbten Rahmen an den Wänden. Das ist kein Bild, sondern ein Auszug aus den Jugendschutzbestimmungen. Wirte sind verpflichtet, diesen Schrieb, den kaum einer je liest, in ihren Gaststätten aufzuhängen. Und manchmal klingelt bei einem Wirt das Telefon. Dann meldet sich jemand vom "Deutschen Jugendschutz e. V." und fragt, ob der Aushang mit den Jugendschutzvorschriften nach Vorschrift angebracht ist. Falls nicht, könne er die jetzt für 89,90 Euro telefonisch bestellen. Andernfalls käme das Ordnungsamt und der Wirt habe mit einer deftigen Geldbuße zu rechnen. Tatsächlich könnte sich jeder den Text aus dem Internet runterladen oder im Großhandel für ein paar Euro gerahmt kaufen. Doch es ist aber nicht der "Deutsche Jugendschutz e. V." am Telefon, sondern der Mitarbeiter eines Callcenters. Und die Kunst des Callcenteragenten besteht gerade darin, seinen "Kunden" nicht von der Leine zu lassen, ihm so zusetzen, dass er dem völlig überteuerten Geschäft zustimmt. Fast alles bei diesem Deal ist erstunken und erlogen und obendrein in mehrfacher Hinsicht illegal. Aber es funktioniert. Bis Günter Wallraff kommt. Mittlerweile 67 Jahre alt, gelingt es ihm mithilfe einer Maskenbildnerin, erstens, sein Alter zu verschleiern und, zweitens, das prominente Gesicht zu retuschieren.

    "Das sind ( ... ) meine Ausdrucksmittel, ja mein Handwerkszeug seit vier Jahrzehnten, mich in die Rolle von andern zu begeben und dann selber auch eine Gesellschaft neu zu erfahren, neu sehen zu lernen."
    Man kann sich natürlich fragen, ist diese Sorte organisierter Kleinkriminalität, wie sie von Callcentern systematisch betrieben wird, wirklich so dramatisch? Ließe sich die Branche nicht auch mit herkömmlichen journalistischen Mitteln beschreiben? Doch es geht Wallraff in diesem Fall nicht so sehr um die Opfer, es geht ihm vielmehr um die Täter, die sind nämlich bei näherem Hinsehen auch schwer geschädigt, wie er bei seinen Tarneinsätzen immer wieder an sich selbst feststellt.

    "Ich muss gestehen, dass ich bereits an meinem zweiten Arbeitstag in dieser geschlossenen Anstalt mit den anderen um die Wette telefoniere. Mein Selbstversuch, das (Callcenter)-Geschäft zu erkunden, um die Drahtzieher aus eigener Erfahrung überführen zu können, leitet allmählich eine mir selbst unbekannte Persönlichkeitsveränderung ein. Anfangs bin ich noch erleichtert, wenn ich auf eindeutige Ablehnung stoße; vor allem die deutschen Kneipiers wehren sich. Dann gibt mir der Teamleiter zu verstehen: 'Jetzt mach endlich mal 'n Abschluss. Geh an die Ausländer ran!' Nach meinem ersten erfolgreichen Abschluss gratulieren mir der Chef und der Teamleiter, und die anderen applaudieren. Ich bin aufgenommen in die Betrugsfamilie. 'Du machst das richtig routiniert. Du machst das sicher nicht zum ersten Mal', lobt mich (Kollegin) Vanessa. Vom Mitspieler zum Mittäter – so schnell geht das also. Ich erschrecke."

    Eines der älteren Bücher mit Reportagen von Günter Wallraff heißt "Ihr da oben, wir da unten". Es erschien 1975. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts funktioniert diese Sicht der Dinge nur noch bedingt. Die Zeiten haben sich geändert. Oben und unten sind instabiler geworden. Viele werden zu Menschenjägern, wie eben die Mitarbeiter in den Callcentern oder die Vorarbeiter einer Brötchenfabrik. Jeder gegen jeden. Günter Wallraff:

    "Das sind ja auch Abenteuergeschichten. Und es rückt auch in die Mitte der Gesellschaft vor. Daher auch der Untertitel: Expeditionen ins Landesinnere. Und was früher nicht so der Fall war, das betrifft jetzt auch Menschen, die bislang glaubten, dass eine Zugehörigkeit, Sicherheit, dass Arbeitsrechte für sie gelten – insofern kommen zu mir Leitende Angestellte und offenbaren sich. Selbst Spitzenleute aus der Deutschen Bahn. Entweder, weil sie selber auf der Strecke geblieben sind oder um soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen. Manchmal auch, um sich zu entlasten. ( ... ) Dadurch hat sich das Spektrum auch erheblich erweitert."

    Günter Wallraff beschreibt nicht mehr wie früher, wie es zugeht nur in den unteren Abteilungen der Gesellschaft, sondern er beschreibt, wie die Gesellschaft insgesamt zur Kampfzone geworden ist. Ob nun in den Manageretagen der Deutschen Bahn oder in der Küche des Luxusrestaurants. Und es ist unbezweifelbar eine hässliche Gesellschaft, die da zutage kommt – weit unterhalb der Ideale, denen sie angeblich huldigt. Den Humanismus unserer Sonntagsredner sucht man hier vergeblich.

    Es ist ein dickes Buch geworden, doch Wallraff hat sich nicht für jedes einzelne Kapitel unter falschem Namen in Büros oder Fabriken geschlichen.

    "Es sind nicht nur Geschichten, die ich selber erlebt habe. Allein so eine Kaffeekette, schöne neue Kaffeewelt wie Starbucks, wo ich mit meinen Töchtern schon mal war und wo es ganz locker zuzugehen scheint. Aber wenn sich einem plötzlich ganze Belegschaften anvertrauen, die werden da ausgepresst bis zum Umfallen. Da ist die ganze Belegschaft des Frankfurter Flughafens, hat sich mir anvertraut, auch die des Düsseldorfer Flughafens. Da hat man den Eindruck, da braucht es nicht die Mitgliedschaft bei Scientology, die so bis in die Freizeit hinein abkommandiert werden, unbezahlt natürlich. Und dann auch noch in Kursen sich diesen ganzen Wahnsinn wie bei einer Gehirnwäsche angedeihen lassen müssen. Und dann nicht einmal die Zeit haben, nach Hause zu fahren. Da gibt es welche, die übernachten in der Filiale und dann müssen sie am nächsten Morgen strahlen. Da gibt es Testnoten, da wird das Lächeln oder das Nichtlächeln benotet und wehe, da hat mal einer ein trauriges Gesicht. Da gibt es gleich Punktabzug. Das sind neue Strukturen, die sich breitmachen. Da kann man nicht mehr von Prekariat oder Unterschicht sprechen, das ist eine Verunsicherung und eine Verfügbarkeit der Menschen, ( ... ) die sich manchmal sogar anschließend identifizieren, weil sie es müssen oder weil sie sonst total dabei draufgehen. Und dann sogar demonstrieren - während der Arbeitszeit, bezahlt vom Arbeitgeber - gegen die eigenen Interessen demonstrieren, nach vorgegebenen Texten, wie in einer Sekte, Lobpreisung des Chefs. Also man muss da noch mal Huxley lesen, 'Brave new world'. Soweit sind wir schon in vielen Bereichen."

    Es ist nicht Günter Wallraffs Schuld, wenn sich weite Teile dieses Buches wie Reportagen aus einer hässlichen Bananenrepublik lesen.

    Günter Wallraff, "Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere". Kiepenheuer & Witsch Verlag. 326 S. 13,95 Euro.