Wenn Leila Guerriero eine Geschichte erzählen will, bleibt sie stets lange genug an den Orten und bei den Menschen, die sie interessieren. Die schnelle Recherche, das kurze Interview sind nicht ihr Metier. Guerriero – Argentinierin, Jahrgang 1967 – schreibt "crónicas", journalistische Chroniken. Lange, zum Teil literarisch anmutende Texte über das wirkliche Leben, die so gar nichts zu tun haben mit Allerwelts-Medienberichterstattung.
Buchzitat:
"Ich entdecke eine gewisse Schönheit darin, dass Dinge geschehen – absurde, widersprüchliche und manchmal irreale Dinge –, und ich liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts."
"Ich entdecke eine gewisse Schönheit darin, dass Dinge geschehen – absurde, widersprüchliche und manchmal irreale Dinge –, und ich liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts."
Der jetzt auf Deutsch vorliegende Sammelband "Strange Fruit" enthält Chroniken und Reportagen, die Leila Guerriero zwischen 2001 und 2013 in den besten spanischsprachigen Zeitungen und Magazinen veröffentlichte, darunter "El País" und "Gatopardo". Die Themen sind so vielfältig wie die Wirklichkeit Lateinamerikas. Etwa geht es um den sogenannten Riesen Gonzalez, einen 2,30 Meter großen Mann aus einem armen argentinischen Dorf. Er wurde Basketball-Profi, schaffte es fast in die amerikanische Liga NBA, machte in den USA das große Geld als Schau-Ringer, und lebte dann krank und verarmt wieder in seinem Heimatdorf – bis zu seinem frühen Tod mit 44 Jahren.
Guerriero:
"Meine Aufmerksamkeit wird durch Geschichten erregt, über die die Presse rauf und runter berichtet, bekannte Geschichten, bei denen für mich aber viele Fragen offenbleiben. Im Grunde sind das ganz einfache Fragen – die Fragen eines neugierigen Mädchens. Mich interessieren auch abseitige Geschichten, Randgeschichten, Randfiguren. Lieber als über Maradona würde ich zum Beispiel über Maradonas Friseur schreiben."
"Meine Aufmerksamkeit wird durch Geschichten erregt, über die die Presse rauf und runter berichtet, bekannte Geschichten, bei denen für mich aber viele Fragen offenbleiben. Im Grunde sind das ganz einfache Fragen – die Fragen eines neugierigen Mädchens. Mich interessieren auch abseitige Geschichten, Randgeschichten, Randfiguren. Lieber als über Maradona würde ich zum Beispiel über Maradonas Friseur schreiben."
Verrscharrte Opfer der argentinischen Militärdiktatur
"Die Stimme der Knochen" heißt eine Chronik, für die Leila Guerriero 2010 den renommierten Preis "Nuevo Periodismo" erhielt.
Buchzitat:
"Der Raum – in einem alten Bezirk mitten in Once, einer Wohn- und Geschäftsgegend von Buenos Aires – wirkt unauffällig: Niemand kommt versehentlich herein. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen ausgelegt, auf den Zeitungen liegen ein gestreifter Pullover – zerrissen –, ein verdrehter Schuh, der wie eine schwarze, ausgedörrte Zunge aussieht, ein paar Strümpfe. Und die Knochen. Schienbeine und Oberschenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kiefer, Zähne, Rippenstücke."
"Der Raum – in einem alten Bezirk mitten in Once, einer Wohn- und Geschäftsgegend von Buenos Aires – wirkt unauffällig: Niemand kommt versehentlich herein. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen ausgelegt, auf den Zeitungen liegen ein gestreifter Pullover – zerrissen –, ein verdrehter Schuh, der wie eine schwarze, ausgedörrte Zunge aussieht, ein paar Strümpfe. Und die Knochen. Schienbeine und Oberschenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kiefer, Zähne, Rippenstücke."
"Die Stimme der Knochen" handelt von einer Gruppe forensischer Anthropologen, die sich seit drei Jahrzehnten damit beschäftigt, anonym verscharrte Opfer der argentinischen Militärdiktatur auszugraben und zu identifizieren. Dass es diese Gruppe gibt, war bekannt in Argentinien – doch viel mehr auch nicht. Leila Guerriero wollte mehr über jene Menschen wissen, deren Lebensinhalt es ist, anhand von Knochen Identitäten zu rekonstruieren.
Guerriero:
"Ich fragte mich: wie funktioniert die Arbeit der forensischen Anthropologen eigentlich genau? Wie finanziert sich die Gruppe? Und: Wie wirkt es sich auf das Privatleben der Mitglieder aus, dass sie seit drei Jahrzehnten mit schrecklichen Geschichten in Berührung kommen?"
"Ich fragte mich: wie funktioniert die Arbeit der forensischen Anthropologen eigentlich genau? Wie finanziert sich die Gruppe? Und: Wie wirkt es sich auf das Privatleben der Mitglieder aus, dass sie seit drei Jahrzehnten mit schrecklichen Geschichten in Berührung kommen?"
Leben nach der Entführung
Argentiniens Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ist auch der Hintergrund einer anderen Chronik von Leila Guerriero. "Blutsbande" erzählt die Geschichte von Mercedes, die eigentlich Claudia heißt. Zu den Verbrechen der Militärs gehörte der Raub von knapp 500 Kindern, meist Neugeborenen. Claudia war eines dieser Kinder. Ihre Eltern hatten sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen, weshalb das Regime sie 1978 verschwinden ließ. Claudia wurde unter dem Namen Mercedes von einem Militärangehörigen aufgezogen, bis im Jahr 2000 der Staat die junge Frau über ihre wahre Identität aufklärte. Was keineswegs zu einem Happy End führte.
Buchzitat:
"Nachdem sie erfahren hatte, wer sie wirklich war, zog Claudia Victoria Poblete Hlaczik nicht etwa aus dem Haus aus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und verzichtete auch nicht auf ihre Europareisen; vor allem aber hörte sie nicht auf, Ceferino und Mercedes, diesen Militärangehörigen und seine Frau, die alle als ihre Entführer bezeichneten, bei den Namen zu nennen, die niemand auszusprechen wagt: Mamá und Papá. Niemand sah – niemand wollte sehen –, was nicht zu übersehen war. Claudia liebt die beiden."
"Nachdem sie erfahren hatte, wer sie wirklich war, zog Claudia Victoria Poblete Hlaczik nicht etwa aus dem Haus aus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und verzichtete auch nicht auf ihre Europareisen; vor allem aber hörte sie nicht auf, Ceferino und Mercedes, diesen Militärangehörigen und seine Frau, die alle als ihre Entführer bezeichneten, bei den Namen zu nennen, die niemand auszusprechen wagt: Mamá und Papá. Niemand sah – niemand wollte sehen –, was nicht zu übersehen war. Claudia liebt die beiden."
Literarische Stilmittel sind kein Tabu
Leila Guerrieros Chroniken sind elegant konstruiert und fesselnd wie gute Prosa, ihre Protagonisten könnten genauso gut Kurzgeschichten bevölkern. Um diese Protagonisten in spannende, tiefgründige Figuren zu verwandeln, die beim Leser aufrichtiges Interesse wecken, verbringt Guerriero viele Tage mit ihnen. Sie beobachtet sie in unterschiedlichen Lebenssituationen, sie spricht auch mit den Menschen, die ihnen nahestehen. Und sie betrachtet literarische Stilmittel nicht als Tabu.
Guerriero:
"Die Abgrenzung zum literarischen Text besteht darin, dass ich in einer journalistischen Chronik nichts erfinden darf. Aber ich kann durchaus mit Metaphern arbeiten. Die sprachliche Form des Textes ist wichtig, sie muss für den Inhalt wie ein Handschuh sein, der perfekt passt. Zwar darf die Form niemals über dem Inhalt stehen, sie darf nicht von der Geschichte ablenken. Aber durch eine attraktive Form will ich die Wertschätzung des Lesers für die Geschichte erreichen, die ich erzähle."
"Die Abgrenzung zum literarischen Text besteht darin, dass ich in einer journalistischen Chronik nichts erfinden darf. Aber ich kann durchaus mit Metaphern arbeiten. Die sprachliche Form des Textes ist wichtig, sie muss für den Inhalt wie ein Handschuh sein, der perfekt passt. Zwar darf die Form niemals über dem Inhalt stehen, sie darf nicht von der Geschichte ablenken. Aber durch eine attraktive Form will ich die Wertschätzung des Lesers für die Geschichte erreichen, die ich erzähle."
Leila Guerriero: "Strange Fruit. Crónicas"
(Übersetzung: Kirsten Brandt)
Ullstein Verlag, 272 Seiten 19,99 Euro
(Übersetzung: Kirsten Brandt)
Ullstein Verlag, 272 Seiten 19,99 Euro