Dienstag, 30. April 2024

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Reporter ohne Grenzen zu Yücel-Urteil
"In einer politischen Willkürjustiz ist immer alles möglich"

Das Urteil gegen Deniz Yücel sei zwar nicht überraschend, aber dennoch schockierend, sagte Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen im Dlf. Es zeige, dass die Pressefreiheit Opfer politischer Willkür sei. Aber man dürfe Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht den Gefallen tun und die Pressefreiheit für tot erklären.

Christian Mihr im Gespräch mit Niklas Potthoff | 16.07.2020
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2019
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wurde in der Türkei zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft verurteilt (picture alliance / Sven Simon / Elmar Kremser)
Ein Gericht in Istanbul hat den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in Abwesenheit wegen "Terrorpropaganda" zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft verurteilt. Die Richter befanden Yücel demnach der Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK für schuldig. Vom Vorwurf der Volksverhetzung und der Propaganda für die Gülen-Bewegung wurde er dagegen freigesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Yücels Anwalt kündigte bereits Berufung an. Yücel selbst sprach von einem politischen Urteil ohne praktische Auswirkungen.
Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist, bei der Eröffnung der 69. Bad Hersfelder Festspiele. D
Deniz Yücel: "Irgendwann wird dieses Regime zugrunde gehen"
Für Deniz Yücel steht das Urteil im Kontext der "immer härter, immer irrationaler, immer brutaler" auftretenden türkischen Regierung.
Auch Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland, hat den Prozess beobachtet und sieht ein politisch motiviertes Urteil.

Niklas Potthoff: Wie haben Reporter ohne Grenzen und wie haben Sie persönlich das Urteil heute aufgenommen haben?
Christian Mihr: Ja, einerseits schockiert, weil die Vorwürfe, die der Verurteilung zugrunde liegen, so absurd sind, genauso absurd sind wie vor drei Jahren, und gleichzeitig letztlich auch nicht sehr überrascht, denn das Verfahren ist ja ein durch und durch politisches und das war es von Anfang an und hat auch das heutige Urteil ja gezeigt – auch deshalb, weil einerseits zwar Vorwürfe fallen gelassen wurden und gleichzeitig im Verfahren das Gericht neue Vorwürfe auf den Tisch gepackt hat. Einer dieser Vorwürfe ist, ehrlich gesagt, sehr befremdlich, denn ihm wurde vorgeworfen, im Rahmen der Verteidigungsschrift die Türkische Republik beleidigt zu haben, und das ist schon mehr als befremdlich, wenn die Verteidigung jetzt für eine neue Anklage herhalten muss.
Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, steht vor einem Banner der Journalistenorganisation
Christian Mihr ist Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland und hat den Prozess gegen Yücel seit Beginn beobachtet (imago images / Rainer Zensen)
Potthoff: Gleichzeitig – Sie haben es erwähnt – wurden auch andere Vorwürfe fallen gelassen: der Vorwurf der Volksverhetzung und der für die Propaganda für die Gülen-Bewegung. Wie bewerten Sie das, dass diese Vorwürfe fallen gelassen wurden?
Mihr: Ich glaube, das kann man leider nicht als einen Ausweis eines funktionierenden Rechtsstaats sehen, sondern genau als Ausdruck dieser Willkür. Ich habe auch die Anklageschrift gelesen und meine Kollegen auch. Wenn man sich die Anklageschrift durchliest, waren ja die Belege für diese Vorwürfe, um es mal freundlich auszudrücken, sehr dünn. Aber eigentlich waren sie absurd und insofern ist absurd, dass sie fallen gelassen wurden, genauso wie die Verurteilung heute wegen Terrorpropaganda.
"Opfer politischer Willkür"
Potthoff: Sie sagen, Sie waren nicht überrascht vom Urteil, obwohl das türkische Verfassungsgericht ja im letzten Jahr geurteilt hatte, dass die Verhaftung Yücels rechtswidrig gewesen sei. Das Recht auf Meinungsfreiheit sei verletzt worden, hieß es da unter anderem. Was sagt denn dieses heutige Urteil über den Umgang der türkischen Justiz mit Presse- und Meinungsfreiheit aus?
Mihr: Es zeigt, dass es Opfer politischer Willkür ist. Ja, es gab im vergangenen Jahr das ermutigende Urteil des Verfassungsgerichts, was aber gleichzeitig für politische Kritik auch gesorgt hat, aber es gab immer mal wieder auch in anderen politischen Verfahren in der Türkei solche Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Aber es zeigt letztlich in der Summe heute, dass die türkische Regierung und dass vor allem der türkische Präsident – denn das muss man ja schon sagen: es ist ein Präsidialsystem – Pressefreiheit am Ende nicht als eine Freiheit sieht, sondern am Ende nur die Freiheit dessen, was ihm gefällt. Und wenn Kritik an ihm und seiner Person und seiner Regierungspolitik geübt wird, das am Ende einem zum Vorwurf gemacht werden kann. Genau das ist aber die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten.
Potthoff: Jetzt ist Deniz Yücel ja auch nicht der einzige Journalist, der in den letzten Jahren in der Türkei inhaftiert war. Viele sind es noch. Von Amnesty International kam heute noch einmal die Zahl von rund 100 Medienschaffenden. In keinem Land seien es mehr. Wie frei können Journalist*innen dort überhaupt noch arbeiten?
Turkish President Recep Tayyip Erdogan reacts during a meeting of his ruling Justice and Development Party in Ankara, Turkey, on March 2, 2020.
Kritik am Präsidenten nur noch im NetzWährend die viele Medien unter Druck geraten, verlagert sich die Kritik an Erdogan in die sozialen Medien. Und auch die will der Präsident seiner Kontrolle unterwerfen.
Mihr: Ich denke, ich kann das sagen, was ich auch schon immer mal wieder gesagt habe: Wir sollten trotzdem dem türkischen Präsidenten, Herrn Erdogan nicht den Gefallen tun, die Pressefreiheit für tot zu erklären. Sie ist ein bedrohtes, ein zartes Pflänzchen, aber es gibt beeindruckende Journalistinnen und Journalisten, die ihre Pressefreiheit wahrnehmen, die kritisch berichten nach wie vor über Korruption, die aktuell berichten über auch die Corona-Politik der türkischen Regierung und des türkischen Präsidenten.
Aber immer, wenn man sehr nahe dem Präsidenten kommt und seiner Familie möglicherweise, dann kann es gefährlich werden, und das schwebt immer wie ein Damokles-Schwert über vielen Journalistinnen und Journalisten, dass ich Klagen wegen Präsidentenbeleidigung so wie heute Deniz Yücel zusätzlich bekommen kann, und in vielen türkischen Redaktionen, die ich selber auch von vielen Besuchen in der Türkei kenne, ist es mehr oder weniger Alltag, dass es dort leere Stühle gibt, die Kolleginnen und Kollegen gehören, die im Gefängnis sitzen. Insofern: Es gibt Freiheit, aber es gibt immer auch das Risiko, selber Verfahren zu bekommen, selber verhaftet zu werden.
"Viele Gerichte politischer geworden"
Potthoff: Ich würde da noch mal gerne Ihre Einschätzung zur Entwicklung hören. Wenn man jetzt an diesen Putschversuch denkt, der ist fast auf den Tag genau vier Jahre her. Insbesondere danach hat man in Deutschland vor allem im Jahr 2017 viel mitbekommen, wie hart durchgegriffen wird. Das lag daran, dass Peter Steudtner, Mesale Tolu und Deniz Yücel, dass mehrere deutsche Journalisten innerhalb weniger Monate verhaftet wurden. Danach wurde es hierzulande ein wenig ruhiger. Würden Sie sagen, dass die Lage sich für diese Journalist*innen vor Ort inzwischen auch ein wenig beruhigt hat, oder ist es eher schlimmer geworden?
Mihr: Die ist, glaube ich, gleichbleibend schlimm geworden. Klar, der Blickpunkt, die internationale Aufmerksamkeit ist deutlich zurückgegangen, weil Journalisten wie Deniz Yücel und Mesale Tolu erfreulicherweise in Freiheit sind. Aber die Lage für einheimische Journalistinnen und Journalisten ist anhaltend schlimm. Das was schlimmer geworden ist, dass die Justiz, die unabhängige Rechtsstaatlichkeit noch weiter ausgehöhlt wurde. Aber es gibt trotzdem, wie wir im vergangenen Jahr gesehen haben, natürlich noch das Verfassungsgericht, wo es immer mal wieder dann doch auch überraschende Entscheidungen geben kann. Aber in der Summe sehen wir tatsächlich die vielen lokalen Gerichte in der Türkei, an denen viele Verfahren stattfinden, dass die deutlich politischer geworden sind, und die Justiz ist am Ende ein ganz wichtiger Pfeiler für Pressefreiheit.
"Deutsch-türkischen Beziehungen weit von Normalität entfernt"
Potthoff: Jetzt hatte der Fall Yücel ja schon damals für große Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei gesorgt. Was erwarten Sie von der deutschen Bundesregierung jetzt nach diesem Urteil im Umgang mit der Türkei?
Mihr: Ich denke, das heutige Urteil zeigt natürlich, dass in den deutsch-türkischen Beziehungen wir weit entfernt sind von so etwas wie Normalität, denn es gibt ja im Übrigen auch noch viele deutsche und andere Staatsbürger, die wegen politischer Gründe in Haft sind. Das sind nicht Journalisten, aber dieses Urteil einer Haftstrafe zeigt, dass die deutsche Regierung deutlich sein muss und, ich glaube, auch deutlich sein muss, wenn es um Vertiefung von Kooperation geht, Beispiel EU-Beitritt. Ich glaube, es ist wichtig, dass man im Rahmen von EU-Beitrittsverhandlungen deutlich macht, dass es eine Vertiefung nur geben kann, wenn sich die Lage von Journalistinnen und Journalisten verbessert, und dass man finanzielle Zusagen immer auch verbindet mit politischem Druck, mit Konditionalitäten. Ich glaube, da ist die Bundesregierung heute, gerade im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft, gegenüber der Türkei noch mehr gefordert als zuvor, denn das Urteil heute ist ein politisches und das ist auch ein Signal der Türkei an Deutschland, dass man offenbar kein gesteigertes Interesse an einer Deeskalation hat.
Potthoff: Noch ganz kurz zum Abschluss. Wie anfangs gesagt: Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Es wurde Berufung eingelegt. Aber nach dem Urteil heute, wie hoch ist Ihr Vertrauen darin, dass Yücel doch noch freigesprochen wird?
Mihr: In einem Willkürsystem, in einer politischen Willkürjustiz ist immer alles möglich. Das ist genau das Problem bei Willkür. Insofern kann es tatsächlich auch, weil vielleicht politischer Druck jetzt wieder wächst, am Ende doch noch einen Freispruch geben. Ganz davon abgesehen, dass es ja auf europäischer Ebene noch ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von Deniz Yücel gegen die Türkei gibt. In diesem Verfahren ist Reporter ohne Grenzen übrigens auch durch ein sogenanntes Amicus-Curia-Verfahren beteiligt. Aber es kann in dieser türkischen Willkürjustiz immer wieder Überraschungen geben. Es kann aber auch immer wieder neue Vorwürfe geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.