Der Baum, von dem es heißt, dass er Wünsche erfüllt, wächst auf einem Hügel inmitten der Steppe. Sergej und Zeren kennen den Weg: Eine knappe Autostunde folgt man einer schnurgeraden Landstraße. Dann biegt man ab – mitten hinein in die weite Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckt. Es ist halb sieben Uhr morgens. Vor der Windschutzscheibe, in den schrägen Strahlen der Morgensonne, taucht die Silhouette einer Eiche auf. Windschief und einsam ragt sie auf, als einziger Blickfang in einer ansonsten baumlosen Einöde.
"Ein buddhistischer Lama kam aus Indien – oder kam er aus Tibet? Aus Tibet! In seinen Händen hielt er ein Samenkorn, sagt die Legende. Er säte es in die Erde, und daraus wuchs diese Eiche. Inzwischen sie über 100 Jahre alt. Sie ist über 30 Meter hoch, und hat einen Umfang von viereinhalb Metern. Viele Gläubige kommen zum Beten hierher. Sogar meine Kinder besuchen diesen Ort gerne, denn er ist voller Energie – naja, vielleicht habe ich ihnen das auch nur eingeredet. Jedenfalls sagen sie immer: Wir waren so lange nicht bei dem Baum - fahren wir? Ja, sage ich. Fahren wir!"
Sergej – schmale Augen, Tatarenbärtchen – sieht aus wie eine zeitgenössische Reinkarnation des Mongolenfürsten Dschingis Khan. Tatsächlich verdient er sein Geld als Schauspieler in den neuerdings so beliebten Historienfilmen. Die Eiche ist von einem schneckenförmigen Metallgeländer umgeben, das den Bittsteller direkt zu einer Höhle im Wurzel-Geflecht leitet. In diesem Baumaltar liegen Gebäck, Zucker und anderen Opfergaben. Bunte Bändchen und Fahnen, die an Äste und Gestänge geknotet sind, flattern im Steppenwind. Sergej lässt den Blick schweifen: Der Baum der Wünsche ist ein wogendes Farbenmeer inmitten einer Graslandschaft, die sich von hier aus in alle Richtungen erstreckt. Kräuterduft steigt vom morgendlich kühlen Boden auf, Insekten tanzen, in der Ferne weidet eine Rinderherde.
"Jeder Mensch ist sich selbst sein eigener Buddha – im Inneren! Auf diese innere Stimme sollte man immer hören. Hier sollen meine Kinder das Spirituelle erfahren. Dann kann ihnen nichts mehr geschehen. Denn Spiritualität, so scheint mir, das ist das, was in Kalmükien fehlt."
Zeren, der wie immer seinen Tablet-Computer unter dem Arm trägt, ist ohne Wunsch gekommen. In der kalmükischen Hauptstadt Elista betreibt er einen bekannten Club. Flatterbändchen an Baumäste knoten, das ist nicht seine Art. Dafür engagiert er sich in einem kalmükischen Kulturverein. Der hat sich der kulturellen Wiedergeburt von all dem verschrieben, was das Nomadenvolk der Kalmüken während der Sowjetzeit verloren hat: Kultur, Handwerkskunst, das Reiterleben in der Steppe - und natürlich die religiösen Riten. Die Wiedergeburt des Buddhismus allerdings, sagt Zeren, ist nicht ganz unkompliziert.
"Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind wir Kalmüken zum Buddhismus zurückgekehrt. Aber jetzt geht hier vieles durcheinander. Wenn heute der Dalai Lama nach Kalmükien kommt, dann findet er viele Anhänger. Dabei gab es hier vor der Sowjetzeit gar keinen tibetischen Buddhismus. Der ursprüngliche kalmükische Buddhismus, das ist der Lamaismus, und der ist vermischt mit unserem uralten schamanischen Glauben. Da gibt es viele Rituale aus vorbuddhistischer Zeit."
Neben der alten Eiche ist ein baumlanger Pfahl errichtet – und der, berichten die beiden Männer, trägt eindeutig schamanische Züge. An seinem zugespitzten Ende weht ein Rossschweif – ein uraltes Symbol für Herrschergewalt. Eine Schamanin aus dem sibirischen Burjatien habe ihn vor einigen Jahren hier aufgestellt, berichtet Sergej.
"Er heißt Buntschuk: ein kriegerisches Ritual aus Dschingis Khans Zeiten. Ein schwarzer Pferdeschweif bedeutet Krieg, ein weißer steht für friedlichere Zeiten."
Der Pferdeschweif, der hier in luftiger Höhe am Ende des Pfahls weht, ist schwarz wie der Krieg. Ob die burjatische Schamanin das tatsächlich so gemeint hat? Zeren und Sergej schauen sich an und lachen. Ich glaube eher, sagt Sergej, dass sie gerade keinen weißen zur Hand hatte.
Programmtipp:
Mehr zum Thema gibt es im Deutschlandfunk am morgigen Samstag in der Sendung "Gesichter Europas" um 11:05 Uhr:
Republik im Steppenwind - Dschingis Khans Erben in Kalmückien
"Ein buddhistischer Lama kam aus Indien – oder kam er aus Tibet? Aus Tibet! In seinen Händen hielt er ein Samenkorn, sagt die Legende. Er säte es in die Erde, und daraus wuchs diese Eiche. Inzwischen sie über 100 Jahre alt. Sie ist über 30 Meter hoch, und hat einen Umfang von viereinhalb Metern. Viele Gläubige kommen zum Beten hierher. Sogar meine Kinder besuchen diesen Ort gerne, denn er ist voller Energie – naja, vielleicht habe ich ihnen das auch nur eingeredet. Jedenfalls sagen sie immer: Wir waren so lange nicht bei dem Baum - fahren wir? Ja, sage ich. Fahren wir!"
Sergej – schmale Augen, Tatarenbärtchen – sieht aus wie eine zeitgenössische Reinkarnation des Mongolenfürsten Dschingis Khan. Tatsächlich verdient er sein Geld als Schauspieler in den neuerdings so beliebten Historienfilmen. Die Eiche ist von einem schneckenförmigen Metallgeländer umgeben, das den Bittsteller direkt zu einer Höhle im Wurzel-Geflecht leitet. In diesem Baumaltar liegen Gebäck, Zucker und anderen Opfergaben. Bunte Bändchen und Fahnen, die an Äste und Gestänge geknotet sind, flattern im Steppenwind. Sergej lässt den Blick schweifen: Der Baum der Wünsche ist ein wogendes Farbenmeer inmitten einer Graslandschaft, die sich von hier aus in alle Richtungen erstreckt. Kräuterduft steigt vom morgendlich kühlen Boden auf, Insekten tanzen, in der Ferne weidet eine Rinderherde.
"Jeder Mensch ist sich selbst sein eigener Buddha – im Inneren! Auf diese innere Stimme sollte man immer hören. Hier sollen meine Kinder das Spirituelle erfahren. Dann kann ihnen nichts mehr geschehen. Denn Spiritualität, so scheint mir, das ist das, was in Kalmükien fehlt."
Zeren, der wie immer seinen Tablet-Computer unter dem Arm trägt, ist ohne Wunsch gekommen. In der kalmükischen Hauptstadt Elista betreibt er einen bekannten Club. Flatterbändchen an Baumäste knoten, das ist nicht seine Art. Dafür engagiert er sich in einem kalmükischen Kulturverein. Der hat sich der kulturellen Wiedergeburt von all dem verschrieben, was das Nomadenvolk der Kalmüken während der Sowjetzeit verloren hat: Kultur, Handwerkskunst, das Reiterleben in der Steppe - und natürlich die religiösen Riten. Die Wiedergeburt des Buddhismus allerdings, sagt Zeren, ist nicht ganz unkompliziert.
"Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind wir Kalmüken zum Buddhismus zurückgekehrt. Aber jetzt geht hier vieles durcheinander. Wenn heute der Dalai Lama nach Kalmükien kommt, dann findet er viele Anhänger. Dabei gab es hier vor der Sowjetzeit gar keinen tibetischen Buddhismus. Der ursprüngliche kalmükische Buddhismus, das ist der Lamaismus, und der ist vermischt mit unserem uralten schamanischen Glauben. Da gibt es viele Rituale aus vorbuddhistischer Zeit."
Neben der alten Eiche ist ein baumlanger Pfahl errichtet – und der, berichten die beiden Männer, trägt eindeutig schamanische Züge. An seinem zugespitzten Ende weht ein Rossschweif – ein uraltes Symbol für Herrschergewalt. Eine Schamanin aus dem sibirischen Burjatien habe ihn vor einigen Jahren hier aufgestellt, berichtet Sergej.
"Er heißt Buntschuk: ein kriegerisches Ritual aus Dschingis Khans Zeiten. Ein schwarzer Pferdeschweif bedeutet Krieg, ein weißer steht für friedlichere Zeiten."
Der Pferdeschweif, der hier in luftiger Höhe am Ende des Pfahls weht, ist schwarz wie der Krieg. Ob die burjatische Schamanin das tatsächlich so gemeint hat? Zeren und Sergej schauen sich an und lachen. Ich glaube eher, sagt Sergej, dass sie gerade keinen weißen zur Hand hatte.
Programmtipp:
Mehr zum Thema gibt es im Deutschlandfunk am morgigen Samstag in der Sendung "Gesichter Europas" um 11:05 Uhr:
Republik im Steppenwind - Dschingis Khans Erben in Kalmückien