Freitag, 19. April 2024

Archiv


Republikflüchtling mit unbegrenzter Rückreiseerlaubnis

Das Ost-Sandmännchen konnte in Länder reisen, in die DDR-Bürger nicht reisen durften. Dennoch sei das Programm durch "die Verbundenheit mit dem Leben in der DDR" erfolgreich geworden, betonte der Journalist Volker Petzold.

Volker Petzold im Gespräch mit Mario Dobovisek | 29.08.2009
    Mario Dobovisek: So klang es im November vor 50 Jahren, als der Sandmann das Licht der Fernsehwelt erblickte. Und so ähnlich klingt es auch heute noch, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. Gleich zu Beginn trat der Sandmann mit einem Bart ins Leben, im DDR-Fernsehen war es am 22. November 1959 der markante Spitzbart, im Westen eine Woche später ein angedeuteter Vollbart beim Sender Freies Berlin. Heute feiert der Nachfolger beider Sender, der Rundfunk Berlin-Brandenburg, in Potsdam eine große Geburtstagsparty, und zwar für beide Sandmännchen. In unserem Berliner Studio begrüße ich Volker Petzold, einst war er stellvertretender Chefredakteur des DDR-Fernsehens, heute ist er Autor des "großen Ost-West-Sandmännchen-Lexikons", das diese Woche erschienen ist. Guten Morgen, Herr Petzold!

    Volker Petzold: Schönen guten Morgen!

    Dobovisek: Erst kam also der Ost-Sandmann, dann, nur eine Woche später, sein Westkollege. Das erinnert ein bisschen an das Wettrennen um die Raumfahrt, an den Sputnikschock und die Mondlandung. Sind die Sandmännchen ein Produkt des Kalten Krieges?

    Petzold: Im Prinzip ja. Im Westen gab es ja eine gewisse Ilse Obrig, und diese Ilse Obrig hatte allerdings schon im Sommer 1959 ein Sandmännchen vorbereitet und hatte es ganz planmäßig für den 1.12., also zur guten Vorweihnachtszeit, zum Einsatz vorbereitet. Also die Produktionen waren schon fertig, und es war eine einfache Handpuppe. Und davon kriegte der Deutsche Fernsehfunk, der im Übrigen schon das Jahr zuvor einen Abendgruß auf den Sender brachte, davon kriegte der Ostberliner Fernsehfunk Wind und hat dann innerhalb von drei Wochen dieses Sandmännchen ins Fernsehleben gerufen.

    Dobovisek: Das heißt auf Deutsch gesagt, die Idee geklaut?

    Petzold: Das habe ich vor Kurzem auch gelesen, es ist nicht ganz richtig, denn im Prinzip hat ja auch Ilse Obrig geklaut, denn sie hatte wiederum eine Fernsehsendung geklaut, denn der Ostberliner Fernsehfunk hatte ja schon, wie gesagt, im Oktober 1958 eine Gute-Nacht-Sendung auf dem Sender. Also es war eher, wenn man so will, ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

    Dobovisek: Und wie wichtig war es damals den Obrigen, Erster zu sein?

    Petzold: Das verstehe ich heute auch nicht mehr so richtig. Also der damalige Programmchef war Walter Heynowski im Deutschen Fernsehfunk, und Walter Heynowski war einer, der auch sehr auf, ich will mal sagen auf die politische Linie achtete. Und er hatte diese Programmnotiz in Westberliner Zeitungen gelesen und hat das richtig aufgebauscht. Inwieweit er das ernst gemeint hatte oder inwieweit er nur eine Sendung mit guten Argumentationen durchbringen wollte, das vermag ich nicht zu sagen.

    Dobovisek: Walter Ulbricht war damals einer der führenden Funktionäre in der DDR, sein Markenzeichen: ein recht üppiger Kinnbart. Eine rein zufällige Parallele zum Sandmann?

    Petzold: Ich muss das, sagen wir mal, als – ich nehme das einmal für mich in Anspruch – als Kenner nun weit von mir weisen, dass das Sandmännchen irgendwas mit dem Ulbricht-Bart zu tun hatte. Schauen Sie sich den Ulbricht-Bart an und schauen Sie sich den Sandmännchen-Bart an, das sind schon Unterschiede. Und die Macher hatten das auch überhaupt nicht im Blickfeld. Also das ist wirklich Unsinn. Es hält sich aber über die Jahrzehnte dieses Gerücht oder diese Fama.

    Dobovisek: Ach du meine Nase, ein harmloser Fluch der Ost-Sandmann-Figur Pittiplatsch, die aber deshalb auf Anordnung der DDR-Führung zumindest vorübergehend wieder von der Mattscheibe verschwinden musste zu Beginn. Wie groß war der Einfluss der DDR-Funktionäre auf das Sandmann-Programm?

    Petzold: Ich glaube, der war nicht so groß. Ich glaube schon, dass die relativ autonom waren. Dass die natürlich alle irgendwie in der Partei waren oder zum größten Teil in der Partei waren und natürlich auch auf die Linie achteten und natürlich auch Politik und Ideologie mit in ihre Sendung reinbrachten, das ist eine ganz andere Geschichte.

    Dobovisek: Zum Beispiel?

    Petzold: Na ja, zum Beispiel in den Abendgrüßen, also in den eigentlichen Abendgrüßen, von denen es ja in den Jahren mindestens 10.000 gab, wenn man so all die 40 Jahre mal 365 Tage rechnet, da gab es schon immer mal wieder Anlässe, politische Anlässe, wie zum Beispiel natürlich den Tag der Volksarmee oder den Tag der Republik oder den Frauentag, wo natürlich auch kräftig ins Horn geblasen wurde. Das gab es natürlich. Beim Sandmännchen selber ist das nicht so augenscheinlich gewesen. Aber es gibt natürlich auch politische Anlässe, die sich im Sandmännchen niederschlugen. Natürlich war das Sandmännchen auch ne Figur, eine Puppentrickfigur, die aus dem Märchen stammte und die auch Märchen verbreitete, also ganz normales Kindermärchen. Und die andere Strecke war eben die Alltagsverbundenheit, die Verbundenheit mit dem Leben in der DDR, die Verbundenheit mit dem Fortschrittsdenken, auch das war in gewisser Weise Ideologie. Und wenn Sie daran denken, dass das Sandmännchen schon sehr frühzeitig in den Kosmos flog, also fiktiv natürlich, virtuell mit einer Rakete, das war natürlich auch Politik.

    Dobovisek: Sie haben die Rakete angesprochen: Ein Republikflüchtling mit unbegrenzter Rückreiseerlaubnis war der Sandmann in der DDR. Mit seiner Schwalbe raste er etwa zu den Bremer Stadtmusikanten oder besuchte die Sieben Schwaben, die bekanntlich ja in Westdeutschland zu Hause waren. Hatten denn die Funktionäre damals keine Angst vorm Fernweh ihrer Jungpioniere?

    Petzold: Na, das ist auch eine Frage, die hab ich mir manches Mal gestellt, weil das Sandmännchen ja ganz offenkundig auch in Welten reiste, in die kein DDR-Bürger, auf jeden Fall nicht die Masse der DDR-Bürger fahren konnte. Aber das Sandmännchen ging natürlich, sagen wir mal, nach Ägypten schon sehr frühzeitig, nach Afrika, nach Vietnam, später nach Japan, aber auch in die sozialistischen Länder. Das ist wirklich ein Phänomen, und das habe ich mich auch sehr oft gefragt: War da nicht ein bisschen Hoffnung der Macher, die das gemacht haben, mit drin? Also vielleicht haben die Macher das selber so ein bisschen gewollt, das kann sein, weil ich weiß es nicht.

    Dobovisek: 30 Jahre lang existierten die Sandmännchen in Ost und West nebeneinander in friedlicher Koexistenz sozusagen. Warum konnten die verschiedenen Ausführungen des West-Sandmannes nie die Popularität seines Ostgenossen erreichen?

    Petzold: Warum das nicht so gut funktioniert hat, das ist einfach eine Frage des künstlerischen Könnens. Also Gerhard Behrendt war einfach besser oder die im Osten waren einfach besser. Die hatten natürlich nachher auch viel mehr Geld zur Verfügung, viel mehr Mittel, viel mehr Zeit auch. Der Scholz, der war Einzelproduzent, Privatproduzent, der musste auf die Minute achten, auf die Sekunde achten, das war ins Werbeprogramm eingebunden, da konnte man keine Sekunde länger machen. Also da gibt es verschiedene Gründe. Ich muss allerdings auch sagen, dass im Westen die Gute-Nacht-Geschichten, wie sie dort hießen, zum großen Teil auch sehr gut gearbeitete Geschichten waren. Also die waren nicht schlecht und die waren nicht schlechter als die im Osten, im Gegenteil, es waren sehr viele Stars darunter. Wenn ich an die Augsburger Puppenkiste denke, da gab es schon gute Geschichten. Also das war nicht das Schlechtere, möchte ich behaupten.

    Dobovisek: 20 Jahre nach dem Mauerfall sind die Überreste der DDR fast völlig aus dem vereinten Deutschland verschwunden, der Sandmann ist geblieben. Heißt vom Sandmann lernen, siegen lernen?

    Petzold: Vielleicht, vielleicht. Das Sandmännchen ist ein Phänomen. Also ich sag immer, die DDR hatte ein Phänomen, und das war das Sandmännchen. Und dass das Sandmännchen von Anfang an so einen großen Erfolg hatte, das konnten die Macher selber nicht ahnen, das wusste man nicht. Das wurde aus dem Boden gestampft, das war ein Schnellschuss, und es war die Hoffnung, dass es was Gutes wird, und es wurde was Gutes, es hätte aber genauso gut auch daneben gehen können.