Freitag, 19. April 2024

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Resilienz in der Coronakrise
Psychiater: Längerfristig umstellen statt Durchhaltetaktik

Mit Blick auf eine mögliche Verlängerung des Lockdowns in der Coronakrise empfiehlt der Psychiater und Psychotherapeut* Jan Kalbitzer eine längerfristige Umstellung und Anpassung des Alltags. Es habe sich gezeigt, dass Menschen, die auf eine reine Durchhaltetaktik setzten, nun mehr Probleme im Umgang mit der Krise hätten, sagte er im Dlf.

Jan Kalbitzer im Gepräch mit Anja Reinhardt | 17.01.2021
Spaziergänger gehen in der Nähe des Breitenstein im Schnee.
Zeit an der frischen Luft sei für viele Menschen in der Coronakrise sehr wichtig, sagt Psychiater und Psychotherapeut* Jan Kalbitzer (dpa/Marijan Murat)
Schon in normalen Zeiten ist Schnee ein Ereignis. Während einer Pandemie, in der sich viele Länder seit Wochen im Lockdown befinden und der Bewegungsradius extrem eingeschränkt ist, hat das einen noch größeren Reiz als sonst. Das würde erklären, warum sich im Sauerland, im Thüringer Wald oder im Schwarzwald Menschenmassen an einschlägigen Wintersportorten trafen. Wegen der Infektionsgefahr sind allerdings diverse Ski- und Rodelgebiete gesperrt.
Aber nicht nur die verständliche Sehnsucht nach Schneespaß lässt Menschen die Gefahr vergessen. In Hameln wurde eine Kindergeburtstagsparty aufgelöst, als die Polizei eintraf versteckten sich die Erwachsenen in Schränken. Und Verschwörungstheorien behaupten, in den Impfstoffen sei ein Mikrochip eingebaut, der seinen Träger dann überwache.
Vorbereitung der Impfung, Aufziehen der Spritze
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Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Stressmedizin der Oberberg Kliniken (*), empfindet jedoch in diesem Zusammenhang eine zunehmende Übermoralisieurng - auch befeuert durch die mediale Berichterstattung. Der Fokus werde zunehmend auf Menschen gelegt, die etwas falsch machten. Es sei eine verständliche Reaktion, dass viele Familien mit Kindern raus wollten. Das Problem sei immer noch, dass es sehr pauschale Aussagen dazu gebe, wo und wann man sich anstecken könne und wo die Gefahren besonders groß seien.
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Mehr als 30.000 Deutsche sind 2020 an oder mit COVID-19 gestorben. Aber auch jene tragen Verletzungen davon, die sich nicht anstecken, aber etwa unter Depressionen leiden. Meist jenseits der Schlagzeilen kümmern sich Seelsorger um diese Menschen. Eine Langzeitbeobachtung.

Positives Verhalten der Bevölkerung stärker herausstellen

Wenn man die Menschen dazu bringen wolle, weiter durchzuhalten, klappe das nicht mit noch mehr Angst, sagte der Psychiater. Die Reaktionen auf mehr Angst seien entweder dauerhafte Sorge und Unruhe oder komplette Verweigerung und Trotz. Keines von beiden sei zielführend. Man brauche vielmehr Bilder, die zeigten, was die Bevölkerung richtig mache.
Kalbitzer plädierte auch dafür, in der Coronakrise die Expertise von Verhaltensökonomen, Sozialpsychologen und Epidemiologen stärker einzubeziehen. Allein auf die Empfehlungen der Virologen zu setzen, hält er für falsch. Man müsse die Erkrankung sehr ernst nehmen, doch die Bevölkerung kämpfe mittlerweile mit soziologischen und epidemiologischen Problemen. "Da fehlen uns Experten", kritisiert der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie*. Hier sieht er auch Journalisten in der Verantwortung. Zu selten würden Menschen befragt, die sich damit auskennen, wie man eine Bevölkerung durch eine Krise navigiert. Im Fokus stünden viel zu sehr die Virologen.

Tipp für die Krise: Alltag längerfristig umstellen

Er wünscht sich ein positives Narrativ in der Krise. Es müsse viel stärker kommuniziert werden, dass die Menschen ihre Freiheit durch strenge Maßnahmen zurückgewinnen könnten. Das sei auch Aufgabe der Politik.
Mit Blick auf eine mögliche Verlängerung des Lockdowns empfiehlt der Psychiater und Psychotherapeut*, sich in seinem Alltag längerfristig umzustellen. Es habe sich gezeigt, dass Menschen, die auf eine Durchhaltetaktik setzten, mehr Probleme im Umgang mit der Krise hätten. "Die sind immer zermürbter und können immer weniger durchhalten." Eine langfristige Anpassung an die Situation sei hingegen hilfreich. Diese Menschen würden auch weiter gut durch die Krise kommen. Sein Appell an die Wissenschaft und Politik ist, "nicht immer auf Verzicht und Regeln rumzureiten, sondern zu sagen: ‚Das sind die Ressourcen, die wir zur Verfügung stellen, damit Menschen das langfristig durchhalten können‘.
(*) *An dieser Stelle wurde eine Berufsbezeichnung korrigiert.