Dienstag, 14. Mai 2024

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Restauratorin Claudia Guntern. Die Nichtsesshafte

Kurz vor Mittag verlässt Claudia Guntern ihr Restaurier-Atelier um noch schnell im Dorfladen einkaufen zu gehen.

Von Antonia Kreppel | 13.11.2004
    Spitze Schuhe, enger Rock, Stirnfransen, ein langer schwarzer Zopf: eine attraktive vierzigjährige Frau. Den kleinen Dorfladen unterstützt sie gerne.
    Die junge blonde Frau an der Kasse führt das Geschäft erst seit einigen Monaten. Lisbeth Imoberdorf ist Holländerin und wohnt im Nachbarort.

    Ich hab immer im Ausland gearbeitet und wollte eigentlich in die Karibik verreisen und brauchte Geld und hab gedacht, ich geh eine Saison in die Schweiz arbeiten und hab mir blöderweise verliebt (lacht) und jetzt bin ich 12 Jahre hier schon.

    Lisbeth Imoberdorf schreibt den Einkaufs-Betrag in ein Büchlein; abgerechnet wird Ende des Monats. Geschiner Stammkunden kaufen bargeldlos ein.

    Nur fünf Gehminuten sind es vom Dorfladen zu Claudia Gunterns Atelier in einem ausgebauten Stall, den sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Elmar Werlen bewohnt. An Aufträgen mangelt es nicht; derzeit arbeitet sie am Seitenaltar der Kirche von Biel.

    Also jetzt häant i grad die Sitealtar von der Kirche Biel da, und die Figüre sind noch Ritzfigüre und a Kanzel, also vom Johann Ritz.

    Heiligenfiguren von Johann Ritz - der berühmteste Gommer Barockbildhauer; und ein blasser Corpus Christi, der merkwürdiger Weise auf das Holz eines Telefonmastens genagelt ist. Da hat den Dorfschnitzer wohl der Teufel geritten!

    Das is ein Gotische, 14.Jahrhundert; is eigentlich sehr wertvoll. Von der Form her stimmt's Chrüz scho mit der Gablig, aber vom Material her is eifach fürchterlich, ebbe weil's sehr sichtbar is, dass des so ne Latte is. Das is sehr schad.

    Der Wohn/Küchenraum über dem Atelier ist weit und offen; ein eleganter Herd steht zentral im Raum. Die heruntergelassenen Jalousien über den relativ grossen Fensterflächen sind halb geöffnet.

    Das gibt’s halt schon in einem kleinen Dorf, dass sie reinschaun und sich interessieren und halt neugierig sind.

    Mittagszeit! Claudia Guntern setzt ein Pilz-Risotto an.

    Jeder luegt was me macht und jeder gseht wenn me heikommt und wenn me geht und wenn me üfsteht – es is schon ganz a kline Welt in dem Sinn, aber mittlerwile häant i mi dran gewöhnt. Die im Dorf sage zwar immer, bist schon wieder weg und schon wieder unterwegs, aber es geht eigentli guat.

    Öfter arbeitet sie im benachbarten Kanton Graubünden, in Luzern – Luzere. Allein der Arbeit wegen so weit zu reisen ist verrückt, sagen die Geschiner.

    Die deiche die spinnt, bis üff Luzere goot me doch nit goo schaffe.

    Claudia Guntern ist eine Zugezogene im doppelten Sinn; sie ist im übernächsten Ort geboren und aufgewachsen, ihre Muttter stammt aus Österreich. Das Geschiner Bürgergemeinderecht hat sie nicht.

    Wenn jetzt irgendjemand eine Ibürgerung beanträgt , kann ich da drüber nit abstimme (ATMO/ Wasser einfüllen) ob i des will oder nit, da häant i kei Stimm.

    Claudia Guntern schneidet flink ein paar Kräuter für den Salat. Dass sie bislang sozusagen in "wilder Ehe" lebt, wird vom Dorf und vor allem von der alteingesessenen Familie ihres Lebensgefährten toleriert. Sie fühlt sich aufgenommen wie eine eigene Tochter.

    I weiss noch wie me hier sind izoge hätt mier Clara, die Mutter vom Elmar, gseit, magst a Bierzmaschiina, eine Nähmaschine, ja und da hätts gseit sie würde die zahle weil sie hätt ihre Töchtere die öü käuft....

    Eine Nähmaschine hat sie von Clara, der Mutter ihres Freundes geschenkt bekommen – so wie jede von Claras Töchtern.

    Des isch a schöne Geste gsi, wirkli...

    Auf dem Esstisch liegt ein Fotoalbum. Geschinen im Winter; Schnee, Schnee, nichts als Schnee.

    Scho schön, gell...

    Der Schnee fordert die Dorfgemeinschaft. Das hat das grosse Lawinenunglück vor fast fünf Jahren gezeigt. Ein alter Mann kam ums Leben. Drei Tage war man ohne Strom abgeschlossen von der Umwelt.

    Und nachher häant me im Dorf butteret, ja gell die Milch hätt me irgendwie müsse verarbeite.

    Wer wollte, konnte ausgeflogen werden. Viele Alte sind nicht nach Geschinen zurückgekehrt; zu beschwerlich ist dort der Winter.

    1999 sii me noch 90 Lit gsi, nachher sind fast 30 Lit gange, aber eini Familie öü mit Kind.

    Noch zeigt der Blick durch die Jalousien - ein wenig gebrochen - pure Sommer-Dorf-Idylle. Ein Sommer voller Überraschungen. Claudia Guntern ist schwanger. Eine grosse Neuigkeit im Dorf, allen Abwanderungstendenzen zum Trotz.

    Ja, im Dezember vorüssichtlich wenn all's güet gaat, und denn mal lüege, mal witerlüege...(Lachen)

    Aus so einem kleinen Dorf muss man manchmal raus. Kleine Fluchten: Nicht in die nächstgelegene grössere Stadt; nein, noch mehr in die Stille. Feierabend in der alten Senn-Hütte an der Rotten , nur eine halbe Wegstunde vom Dorf entfernt, uneinsehbar im Auenwald gelegen.

    Me is denn weg vom Dorf (lacht) .
    Dasitzen, lüege und lose – einfach schauen und hören
    ...lüege und lose und fertig. (seufzt) Ja...


    Im Goms war es von jeher schwer sein Auskommen zu finden. Der Raum für alle zum Überleben war zu klein, deshalb zog es einen Teil der Bevölkerung immer wieder in die Fremde. So verliessen beispielsweise im 12./13. Jahrhundert viele Oberwalliser ihr Hochtal und gründeten in den Bergregionen Liechtensteins, Österreichs und Italiens Walserkolonien.