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Rétif de la Bretonne: "Die Nächte von Paris"
Dem Nachtvolk aufs Maul geschaut

Berühmt ist der "Nachtkauz" der französischen Literatur für seine Einblicke in die Nächte der Revolution von 1789. Doch gibt es auch den Rétif de la Bretonne davor. Reinhard Kaiser zeigt mit seiner neu übersetzten Textauswahl bisher unbekannte Seiten des Pariser Nachtwanderers.

Von Christoph Vormweg | 28.08.2019
Buchcover: Rétif de la Bretonne: „Die Nächte von Paris“ und Ausschnitt aus dem Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" von Eugene Delacroix
Nach Rétif de la Bretonnes Beobachtungen führt nicht die Freiheit das Volk, sondern die Gier (Buchcover: Galiani Verlag, Bild: imago stock&people Le Pictorium)
Als Ende 2018 die Gelbwesten Frankreichs Straßen fluteten, warnten manche vor einer neuen Revolution. Die Protestierenden warfen dem Staatspräsidenten das Gebaren eines Königs vor, der "sein Volk" nicht mehr kenne. Ein Blick in Rétif de la Bretonnes Werk "Die Nächte von Paris" hätte Emmanuel Macron klar machen können, was auf dem Spiel steht. Denn der aus der Provinz stammende Drucker, der sich 1767 entschloss, als freier Schriftsteller zu leben, nimmt in seinem 4000-seitigen Werk genau dieses sogenannte "Volk" unter die Lupe, das die Regierenden so gern ignorieren. In der 142. Nacht schreibt Rétif de la Bretonne:
"Unter all unseren Literaten bin ich vielleicht der Einzige, der das Volk kennt, denn ich mische mich ständig unter die Leute. Ich will das Volk schildern [...]. Ich bin bis zu den untersten Klassen hinabgestiegen, um alle Missstände dort mit eigenen Augen zu sehen. Nehmt euch in Acht, ihr Philosophen. Eure Menschenliebe kann euch in die Irre führen! Was ihr das Beste nennt, könnte sich als das Schlechteste erweisen. […] Glaubt meiner Erfahrung! […] Und ihr hohen Staatsbeamten, ihr solltet euch noch viel mehr in Acht nehmen! Eine verhängnisvolle Umwälzung braut sich zusammen! Der Geist des Aufruhrs greift um sich und gewinnt an Kraft! Vor allem in der untersten Klasse gärt er klammheimlich!"
Die "Bestie Mensch" bändigen
Doch gebärdet sich Rétif de la Bretonne nicht nur als Warner. Sein Buch "Die Nächte von Paris" ist eine prall gefüllte Fundgrube von Ortsbeschreibungen, Anekdoten und Porträts aus der im ausgehenden 18. Jahrhundert größten Stadt der Welt. Es kreist um die zeitlose Frage, mit welchen politischen Mitteln die "Bestie Mensch" zu bändigen sei.
"Einsam irrte ich umher, die Menschen kennenzulernen. […] Was gibt es nicht alles zu sehen, wenn aller Augen geschlossen sind! Ihr friedlichen Bürger, für euch bin ich wach geblieben! Für euch habe ich die Nächte durchwandert! Für euch habe ich die Höhlen des Lasters und des Verbrechens aufgesucht. Dem Laster und dem Verbrechen indessen gelte ich als Verräter, denn ich werde euch deren Geheimnisse offenbaren."
Die Bürger von Paris sollen sich keine falschen Illusionen machen über das kriminelle Treiben im Königreich Ludwigs XVI. Unverblümt beschreibt Rétif de la Bretonne sexuelle Übergriffe auf Frauen, Bordellbetriebe, die Sex mit Kindern verkaufen, oder Mütter, die aus sozialer Not ihre Töchter feilbieten. Der "nächtliche Zuschauer", wie er sich nennt, wird dabei selbst aktiv. Er hilft Bestohlenen und Vergewaltigten, indem er die Täter in die Flucht schlägt oder die Polizei informiert. Noch gibt es keine breiten, luftigen Boulevards in der Hauptstadt, noch keine unterirdische Kanalisation, die er wiederholt einfordert. Nein, Paris ist ein stinkender Moloch mit engen, dicht bevölkerten Gassen, mit rund 20.000 Trägern, die die Bevölkerung mit Wasser aus der Seine versorgen. Ein Dorn im Auge ist Rétif de la Bretonne von allem die fehlende Bildung des "Pöbels", wie er ihn nennt.
"Seit zwanzig Jahren schreibe ich, angeleitet von der Liebe zum Wahren, Schönen und Nützlichen. [...] So mögen denn meine bösartigen Verleumder [...] beweisen, dass sie, so wie ich, keine einzige Zeile aus einem anderen Beweggrund geschrieben haben als dem Wunsch, das Gemeinwohl zu fördern! In diesem Punkt misstraue ich ihnen und erkläre, dass mir meine bäurische Redeweise mehr zusagt als aller unnütze Zierrat ihrer glitzernden Literatur."
Dem Nachtvolk aufs Maul geschaut
Rétif de la Bretonne schaut dem Nachtvolk von Paris aufs Maul, wovon viele Dialoge zeugen. Das Faszinierende an seinem Erzählton ist die Direktheit, die Schonungslosigkeit, mit der er die Schicksale von Armen, Kriminellen und Verlierern beschreibt. Deshalb bezeichnete ihn der deutsche Wahlpariser Friedrich Melchior Grimm als "Rousseau der Gosse". Übersetzungen der frühen Bekenntnis- und Sittenromane Rétif de la Bretonnes kursieren seit den 1770er Jahren auch in Deutschland. Denn der Autor schlägt definitiv neue Töne an. Und er hat Ehrgeiz. Um sein Werk voranzubringen, schläft er nur zwei Mal zwei Stunden pro Tag. Zuspruch erhält er von einer Marquise, der er eines Nachts begegnet - er unten auf der Straße, sie oben auf dem Balkon ihres Stadtpalais. Die reiche, unglücklich Verheiratete wird seine Zuhörerin und Muse. Doch der Erzählrahmen, der an die Märchen aus 1001 Nacht erinnert, zerbricht, als die Marquise stirbt.
Der Monarchie ergeht es nicht anders. 1789 nimmt die Französische Revolution ihren Lauf. Rétif de la Bretonne recherchiert weiter. Sein frühes Fazit: Den gut meinenden Revolutionären drohe vor allem eine Gefahr, wie der Marsch der Marktfrauen nach Versailles zeige:
"Zwei andere Arten von Menschen mischten sich unter sie – Männer, die sich als Frauen verkleidet hatten [...], und elende Schlampen, der Abschaum und Auswurf der zivilisierten Gesellschaft, Frauen, die in jungen Jahren Prostituierte gewesen waren und im Alter Zuhälterinnen und Bordellwirtinnen wurden. Diese Letzteren verursachten die ganze Unruhe."
Wo es etwas zu plündern oder zu vergewaltigen gebe, so Rétif de la Bretonnes Beobachtung, sei der Pöbel zur Stelle. Deshalb sei er auch so leicht manipulierbar, was die Agitatoren der verschiedenen revolutionären Gruppen für ihre Ziele auszunutzen wüssten. Für erzählerische Spannung sorgt also allein schon das revolutionäre Chaos. Doch entwickelt die Prosa durch das regelmäßige Umschalten vom Präteritum ins Präsens auch eine eigene Dynamik.
Blicke in die Zukunft
Hinzu kommt der Wechsel von Reportage, Augenzeugenbericht, Reflexion und Blick in die Zukunft. Zu den utopischen Visionen ist Rétif de la Bretonne sehr wahrscheinlich von seinem Freund Louis-Sébastien Mercier angeregt worden, dem Autor des Romans "Das Jahr 2440":
"Um mich zu erleichtern, versetzte ich mich in die kommenden Jahrhunderte: Ich sah die Menschen von 1992, wie sie unsere Geschichte lasen. […] Die Strenge ihres Urteils erschreckte mich. Mir schien, dass die einen uns vorwarfen, wir hätten es an Menschlichkeit fehlen lassen, während die Extremisten, genau wie heutzutage, unser Handeln billigten."
Reinhard Kaisers kluge, immer anregende Auswahl aus den "Nächten von Paris" zeugt von Rétif de la Bretonnes enormer geistiger Wendigkeit. Gleichzeitig ist es – ganz indirekt – aber auch ein Buch über die Ängste des Schriftstellers. Denn im Ancien Régime muss er Rücksicht auf die Wünsche der Zensoren nehmen. Und während der sich radikalisierenden Revolution drohen Gefängnis oder die Guillotine, wenn man das falsche Lager lobt. So verwundert es nicht, dass der zunächst königstreue Rétif de la Bretonne am Ende der radikalen Bergpartei unter Robespierre applaudiert. Zu dieser Logik des Überlebenskampfes gehört auch, dass er 1795, nach Ende der Schreckensherrschaft, gleich wieder zurückrudert.
"Die Revolution war gut: nicht gut waren aber jene, die sie machten",
schreibt Rétif de la Bretonne in den Erweiterungen zu seiner Autobiografie. Das Zitat findet sich in Reinhard Kaisers glänzender, höchst informativer 40-seitiger Einleitung. Ihre Lektüre sei jedoch erst als Nachwort empfohlen. Denn sie verrät zu viel. Mit anderen Worten: Es lohnt, "Die Nächte von Paris" erst einmal ganz naiv zu lesen. Denn Rétif de la Bretonne nimmt uns Leser an die Hand: ob auf der Jagd nach einem Vergewaltiger, ob beim Philosophieren über Staat und Existenz, ob beim Springen durch die Zeiten. Seine Einblicke in die Pariser Nächte vor und während der Französischen Revolution schonen uns heutige Leser dabei nicht. Vielmehr werfen sie uns zurück auf unsere eigenen Widersprüche und Anpassungszwänge – oder auch auf die zwiespältige Frage, wie viele von den Träumen der Aufklärer und Revolutionäre heute eigentlich umgesetzt sind.
Rétif de la Bretonne: "Die Nächte von Paris"
Ausgewählt, aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung von Reinhard Kaiser
Galiani Verlag, Berlin. 525 Seiten, 22,99 Euro.