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Rezension von Axel Honneths "Verdinglichung"
Die Verdinglichung unter dramatischen Umständen

Marxistische Begriffe wie Profit, Ausbeutung oder Verdinglichung erleben heute eine Renaissance. Als Axel Honneth, Schüler und Nachfolger von Jürgen Habermas an der Uni Frankfurt, 2005 seine in den USA gehaltenen Vorlesungen über Verdinglichung publizierte, war er damit Vorreiter. Eine Neuedition ist nun um drei Kritiken und auch um Stellungnahmen Honneths erweitert.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 18.01.2016
    Gebrauchte Bücher stehen in Kisten vor einem Antiquariat in Berlin
    Der Begriff der Verdinglichung ist gerade wieder modern. (dpa / picture-alliance / Wolfram Steinberg)
    Wenn der Neoliberalismus praktisch alle Lebensbereiche unter das Primat des Marktes stellt, dann liegt der Bezug zu einem Begriff der neomarxistischen Tradition nahe, nämlich dem der Verdinglichung. Werden heute Menschen nicht einfach auf Sachen reduziert? Axel Honneth widerspricht:
    "Die ganze Idee der Verdinglichung hat eine lange Tradition, geht auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Aufgebracht wurde sie damals durch den Marxisten Georg Lukács, der mit dem Begriff die Tendenz bezeichnen wollte, dass Menschen, menschliche Eigenschaften, zu Waren auf dem Markt werden. Das war die Grundintention. Deswegen sprach er von einer wachsenden Tendenz zur Verdinglichung. Ich komme eher zu Schlüssen, die mich vorsichtig gestimmt sein lassen, von einer allgemeinen Tendenz der Verdinglichung zu sprechen."
    Denn es geht gerade auf Märkten durchaus um menschliche Eigenschaften, die engagiert werden, beispielsweise um die kommunikative Kompetenz eines Verkäufers, der dazu auch Emotionalität braucht, also spezielle menschliche Eigenschaften, die sich von Sachen unterscheiden. Axel Honneth widerspricht Lukács:
    "Und deswegen ist es hier vielleicht problematisch, zu sagen, hier werden Personen oder Eigenschaften von Personen verdinglicht, werden nur noch als Dinge wahrgenommen. Das stimmt nicht."
    Axel Honneth stützt sich dabei auf seine Theorie der Anerkennung, mit der er sich 1990 habilitierte. Zur Voraussetzung zwischenmenschlicher Kommunikation gehört die Anerkennung des anderen Menschen als fühlende, leidende und aus sich selbst heraus agierende Person. Damit verlässt er die Pfade des Neomarxismus:
    "Die ursprüngliche Beziehung unter Menschen ist die einer sorgenden Anteilnahme. Da ist auf der einen Seite Heidegger zu nennen, der das in Sein und Zeit dargelegt hat. Dasselbe finden Sie auch bei Jean-Paul Sartre, der ebenfalls einen ähnlichen Begriff verwendet, als auch bei John Dewey, amerikanischer Pragmatist, der zunehmend auch in Deutschland wieder Aufmerksamkeit findet, wahrscheinlich der größte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts in den USA. Alle diese Autoren sind der Überzeugung, dass es eine ursprüngliche Beziehung unter Menschen gibt, die der Betroffenheit durch den Anderen, die der Anteilnahme an dem Anderen oder der Sorge um die Befindlichkeit des Anderen, sodass Verdinglichung im strikten Sinn des zum Dingwerden des Anderen nur dann vorliegen kann, wenn die vorgängige Form der Anteilnahme irgendwie unterbrochen ist, nämlich nur dann nehme ich den anderen nicht mehr in seinen persönlichen Eigenschaften wahr, sondern reduziere ihn unbewusst und willkürlich auf ein bloßes Ding."
    Der in Cambridge lehrende US-Philosoph Raymond Geuss kritisiert Honneth dahingehend, dass seine Theorie der Anerkennung zu stark auf ethische Motive zurückgreift beziehungsweise, dass sich damit moralisierende Erwartungen verknüpfen: Wenn der Agent den Gefangenen als Menschen anerkennen würde, dann würde er ihn nicht mehr foltern. Aber Anerkennung könnte nach Raymond Geuss just die gegenteilige Wirkung haben:
    "Die beste Möglichkeit, um Informationen zu gewinnen, könnte darin bestehen, sich mit Fantasie und Einfühlungsvermögen in die Welt des Anderen hineinzuversetzen."
    So kritisiert Geuss Honneth, er würde mit der Anerkennungstheorie ein moralisches Fundament für Sozialkritik liefern. Doch daraus ergibt sich für Geuss gerade keine objektive Gesellschaftstheorie:
    "Ich bin nach wie vor von der Wichtigkeit des Vorhabens überzeugt, eine nicht-moralisierende Form globaler Sozialkritik zu pflegen. Unglücklicherweise kann ich nicht glauben, dass Anerkennung als Grundlage einer solchen Kritik dienen könnte."
    Dem hält Honneth jedoch entgegen:
    "Das scheint mir aber ein Missverständnis zu sein, auch ein Missverständnis gegenüber der Tradition, auf die ich mich beziehe. Emotionale Anteilnahme, affektive Anteilnahme am Anderen, heißt nur, in der Lage zu sein, zu spüren, wahrzunehmen, dass es sich um menschliche Personalität, leidensfähige wie wir selbst, artikulationsfähige, seelisch bewegte, aus einem Zentrum heraus agierende Wesen handelt. Mehr heißt das zunächst mal nicht."
    Honneth begründet seine Theorie der Anerkennung als primäre Beziehung zum anderen Menschen denn auch nicht ethisch, sondern entwicklungspsychologisch und beruft sich dabei auf diverse wissenschaftliche Studien. Er stellt fest:
    "Kleine Kinder reagieren auf menschliche Personen, auf das Lachen eines Menschen etwa einer Bezugsperson ganz anders als auf sachliche Umstände oder auf Dinge. Das führe ich darauf zurück, dass unsere vorgängige Beziehung zu Personen die einer anerkennenden Aufmerksamkeit ist."
    Der Philosophieprofessor Jonathan Lear aus Chicago attestiert Honneth zwar, dass durchaus zahlreiche empirische Studien dessen Anerkennungstheorie unterstützen. Doch er bezweifelt die Schlüsse, die Honneth entwicklungspsychologisch daraus zieht. Er schreibt:
    "Selbst, wenn wir akzeptieren, dass die Fähigkeit zur Anerkennung im frühesten Kindesalter vorliegt und dass sie emotionsgeladene Vorgänge beinhaltet, ergibt sich daraus nicht, dass es irgendeine Form von Achtung gegenüber der Autonomie des anerkannten Anderen geben müsste. Oder stellen wir es uns so vor: Ein Kind könnte dadurch 'Mamis Selbstständigkeit anerkennen', dass es immer neue psychologisch raffinierte Möglichkeiten erfindet, um sie zu manipulieren."
    Und selbst, wenn man akzeptiert, dass in der Kindheit Anerkennung eine wichtige Rolle spielt, dann folgt für Jonathan Lear indes nicht daraus, dass dergleichen nicht im Zuge des Erwachsenwerdens verloren geht. Honneth sieht in allen drei Kritiken ein Grundmotiv, dass er mit seiner Anerkennungstheorie moralisierende Konsequenzen verbinden würde. So hält er Jonathan Lear entgegen:
    "Der hat, wenn man mich so versteht, zurecht gesagt, da steckt zu viel Ethik drin, da wird alles, was wir an Moral brauchen, in die vorgängige Einstellung reingepackt. Das möchte ich gar nicht so verstanden wissen. Und das mit der Anerkennung ist ein moralisch neutraler Begriff erst mal."
    Auch die postmoderne feministische Philosophin Judith Butler hält Honneth vor, dass er eine elementare zwischenmenschliche Beziehung voraussetzt, die eine moralische Struktur entwickelt, die dann im Laufe der kulturellen wie der individuellen Entwicklung verloren geht. Außerdem gibt sie sich mit der einfachen Bindung durch Anerkennung nicht zufrieden. Sie schreibt:
    "So sehr Bindung auch eine Vorbedingung für Entwicklung sein mag – eine These, der ich aus vollem Herzen zustimme –, so sehr ist Abgrenzung eine Aufgabe, die uns unser ganzes Leben hindurch beschäftigt und die für das hartnäckige Fortbestehen eines bestimmten ethischen Dilemmas verantwortlich ist: Wie kann ich gebunden und zugleich als ein Selbst abgegrenzt oder unterschieden bleiben?"
    Nach Judith Butler kann Bindung nur stattfinden, wenn zuvor schon eine Abgrenzung besteht. Sonst gäbe es keinen Grund für die Bindung. Also kann die Bindung durch Anerkennung nicht primär sein. Auf diesen Einwand Judith Butlers antwortet Axel Honneth:
    "Das ist eine ihrer dialektischen Argumente, was mich persönlich nicht überzeugt. Das, was wir als Grundphänomen haben, darauf würde ich schon bestehen, sowohl entwicklungspsychologisch, also mit Blick auf das Kleinkind, als auch logisch, philosophisch oder systematisch. Es ist der Tatbestand einer sorgenden Anteilnahme, eines Mitvollzugs des Anderen."
    Die in der neuen Edition enthaltene Erwiderung Honneths auf seine Kritiker erhellt nicht nur den Begriff der Verdinglichung aus dem Horizont seiner Anerkennungstheorie. Sie führt auch nicht nur vor, dass er den Raum des Neomarxismus verlässt, sondern auch, dass ihn dabei weniger der neoliberale Zeitgeist antreibt.
    Verdinglichung geschieht gerade dann, wenn die sozial erlernte Anerkennung des Anderen unter bestimmten dramatischen Umständen verloren geht. Es gibt Fälle, wenn Menschen andere Menschen nicht als Menschen behandeln oder achten, sodass sie offenbar eine erlernte Fähigkeit in ihrem Handeln nicht mehr einsetzen. Honneth:
    "Das ist der Grundtatbestand, von dem ich ausgehe, sodass Verdinglichung analysiert werden muss als ein eigentümliches Phänomen, nämlich als die Umstände, die dazu führen, dass diese vorgängige Anerkennungsbeziehung unter Menschen irgendwie in Vergessenheit gerät, ausgeschaltet wird. Ich nenne das dann Anerkennungsvergessenheit, im Unterschied zu Heidegger, der von Seinsvergessenheit spricht in einer ziemlich obskuren Weise."
    So entfaltet die Anerkennungsvergessenheit ihre eigentliche Dynamik als Analyseinstrument zum Beispiel bei der Frage, wie Auschwitz passieren konnte. Axel Honneth:
    "Das ist nichts Selbstverständliches, auch nicht an jedem Ort Vorfindbares, sondern etwas Ungeheuerliches, was sich da vollzieht, weshalb ich auch das Phänomen eigentlich konzentriert sehe in der Massenvernichtung, in der Barbarei des Krieges, wo man erklären muss, wie es möglich sein soll, dass Menschen, die in solche Praktiken einbezogen werden, Praktiken der Massenvernichtung, diesen Weg gehen können, dass sie schließlich soweit sind, im anderen nur noch das Ding zu sehen, das sich behandeln lässt wie ein Ding unter anderen Dingen."
    Es geht natürlich nicht nur um die Vergangenheit. Traumatisierte Soldaten nach Kriegseinsätzen sind nichts Neues. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Phänomen systematisch verdrängt, während es heute zu einem großen Thema in der Öffentlichkeit avanciert. Dabei – aber auch in anderen Zusammenhängen – erhalten Honneths Analysen ihre aktuelle, aber weniger ökonomische Relevanz. Daher ist die Neuedition hoch interessant.
    Buchinfos:
    Axel Honneth: "Verdinglichung – Eine anerkennungstheoretische Studie", um Kommentare von Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear erweiterte Ausgabe, Berlin 2015, 183 S. stw, Preis: 15,50 Euro