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Ricardo Menéndez Salmon
Tragischer Dokumentar des Grauens

Für Nazi-Deutschland dreht Karl Gustav Friedrich Prohaska einen Fim über das Massaker an Juden in Litauen. In seinem Roman Medusa erzählt der Spanier Ricardo Menéndez Salmón die Geschichte des Deutschen. Eine fiktive Geschichte, die aktuelle Fragen aufwirft und dabei anrührt.

Von Eva Karnofsky | 27.06.2014
    Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof.
    Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. (dpa)
    Darf ein Berichterstatter einem Killer die Hand geben, weil er ihm Informationen über organisierte Kriminalität liefert? Oder einen Terroristen treffen, um dessen Beweggründen nachzuspüren? Jeder Journalist, Fotograf oder Kameramann, der in Krisen- oder Kriegssituationen arbeitet, kennt diese Frage: Wo hört die Chronistenpflicht auf und wo beginnt die Mittäterschaft? Es gibt Studien darüber, und filmisch wurde dieses Spannungsfeld gelegentlich ausgelotet. Der spanische Schriftsteller Ricardo Menéndez Salmón hat nun mit Medusa einen beeindruckenden Roman vorgelegt, der sich mit der kunstvollen Dokumentation von Gräueltaten auseinandersetzt.
    "Der Film hatte keine Tonspur, aber die Haltung der Gefangenen - resigniert, mechanisch, fast skeptisch - ließ erahnen, dass die Hinrichtung im Stillen ablief; egal, wie oft man sich den makabren Tanz ansah, auch die Lippen der Henker blieben unbeweglich: Die schlichte, immer gleiche Abfolge der Bilder war so dämonisch, dass der Betrachter für einen Moment den Eindruck hatte, es handele sich immer um denselben Gefangenen, der dort vor seinen Augen starb. Nur der Wechsel der Henker und die unterschiedliche Art, wie die leblosen Körper zusammenbrachen, verrieten, dass es sich um keine Endlosschleife handelte.
    Auch nach mehrfachem Betrachten war das eigentlich Entsetzliche, dass der Film in medias res einsetzte; das heißt, der ersten Einstellung gingen zweifellos schon andere Hinrichtungen voraus, und die letzte Einstellung beschloss auch nicht den Kreislauf des Todes.“
    Es ist der fiktive deutsche Dokumentarfilmer und Maler Karl Gustav Friedrich Prohaska, der in Menéndez Salmóns Roman diesen grausamen, aber künstlerisch perfekt gestalteten Film über die Massaker an Juden im litauischen Kaunas gedreht hat, im Auftrag des Hitler-Regimes. Und es ist Prohaskas einziger Freund Jakob Stelenski, der später die Lebensgeschichte des genialen Filmemachers und Malers aufschreibt. Stelenski ist Jude, die beiden haben sich in Dachau kennengelernt. Stelenski war dort interniert, und Prohaska hielt den Schrecken des Lagers auf Zelluloid fest.
    "Wir wissen nicht wie, aber Prohaska ringt dem Lagerkommandanten von Dachau, Theodor Eicke, das Versprechen ab, ihm bei den Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm einen Gefangenen zur Seite zu stellen. Dieser Gefangene ist kein Geringerer als Stelenski. Über die Beziehung der beiden in dieser Zeit ist wenig bekannt, Stelenski berichtet, Dinge gesehen zu haben, die kein Mensch sehen sollte, aber er räumt auch ein, dass ihm Prohaskas Schutz das Leben rettete."
    Eindruck einer wissenschaftlichen Arbeit
    Der namenlose Ich-Erzähler des Romans, ein spanischer Historiker, stieß auf Stelenskis Biographie von Prohaska sowie auf einen Film von ihm, als er für eine Doktorarbeit über die Ikonographie des Bösen recherchierte. Der Ich-Erzähler ergänzt nun Stelenskis Prohaska-Biographie und schaltet sich im Text mit zusätzlichen Informationen ein, die er selbst zusammengetragen hat. So erweckt Autor Menéndez Salmón den Eindruck, bei Medusa handele es sich tatsächlich um eine wissenschaftliche Arbeit, in deren Mittelpunkt das Werk des Dokumentarfilmers steht. Diese dadurch erzeugte, scheinbar objektive Distanz und der der Wissenschaftlichkeit geschuldete, kühle Erzählton lassen sowohl das in seinem Werk festgehaltene Leid als auch Prohaskas Mit-Leiden besonders eindringlich erscheinen.
    Zwar lehnt sich Prohaska nie gegen seine Arbeit auf, was er unter den Nazis auch teuer bezahlt hätte. Doch nachdem er jenen Film über die Hinrichtungen im litauischen Kaunas gedreht hat, verschwindet er für neun Monate spurlos, und auch der Historiker findet keine Daten über seinen Verbleib.
    "Als Prohaska, ähnlich Hawthornes Wakefield, in sein Berliner Domizil zurückkehrt, bricht Heidi Knörr lautlos zusammen. Der Mann, den sie ihrem stillen, von Kindergeschrei unberührten Haus empfängt, gleicht viel zu sehr den Trümmern des Mannes, den sie liebt, als das sie nicht spüren könnte, was für einen makabren Scherz das Leben mit ihr treibt. An diesem Tag sollte Heidi erfahren, was der Begriff menschliches Wrack bedeutet."
    Nach dem Krieg flieht Prohaska mit seiner Frau aus Deutschland, weil er als Rad in Goebbels´ Propaganda-Maschinerie Strafverfolgung durch die Alliierten befürchten muss. Menéndez Salmón zeichnet ihn nun als einen Getriebenen, den es immer dorthin zieht, wo das Elend besonders groß ist. Prohaska fotografiert das gedemütigte linke Spanien unter dem rechten Diktator Franco, er filmt Menschen unter der Knute lateinamerikanischer Diktatoren, er malt die Wunden von Hiroshima. Doch es ist nicht die Lust an der Sensation, die Prohaska antreibt, sondern der geheime Wunsch, sich nach dem, was er unter den Nazis gesehen hat, mit immer neuem Leid zu bestrafen.
    Ricardo Menéndez Salmón bringt auch die Betrachter der Prohaskschen Kunst ins Spiel: Der Künstler macht sie zu seinen Komplizen, denn er verwehrt es ihnen, sich fortan auf das Nicht-Wissen zurückzuziehen.
    Spannende Lebensgeschichte, wirklichkeitsnah erfunden
    Prohaska versinnbildlicht die moderne Massenkommunikation, dennoch gelingt es dem Autor, ihn nicht als Prototypen, sondern als vom Leben gezeichnete, tragische Figur darzustellen, deren Schicksal den Leser anrührt. Prohaskas letztes Werk vor seinem ebenfalls tragischen Tod ist eine Zeichnung der Medusa:
    "Was Prohaskas Medusa erblickt, ist der kahle Kopf, der bleiche Bart, das bereits ältliche Antlitz eines ausdruckslosen Mannes ohne wiedererkennbare Züge, ein Mann in der Menge, das Gesicht eines Bürokraten des Bösen, das Fleisch gewordene Testament eines Menschen jenseits von Schuld und Gewissen."
    Kurz zuvor hatte Prohaska erfahren, welche in seinen Augen pervers hohen Summen ein Museum seinem Freund Stelenski für seine Zeichnungen aus dem Warschauer Ghetto geboten hatte. Womit Ricardo Menéndez Salmón auch noch die Frage aufwirft, in wie weit es ethisch vertretbar ist, mit dem Elend der in Journalismus und Kunst abgebildeten Menschen Geld zu verdienen. Der spannenden Lebensgeschichte des gut und wirklichkeitsnah erfundenen Karl Gustav Friedrich Prohaska sind viele Leser zu wünschen. Und von Ricardo Menéndez Salmón erhofft man sich nach Medusa weitere Roman-Übersetzungen.
    Ricardo Menéndez Salmon: Medusa.
    Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 140 Seiten, EUR 15,90.