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Richard Russo: "Immergleiche Wege"
Die elende Flickschusterei des Lebens

Den amerikanischen Romancier Richard Russo hat das deutsche Publikum erst spät kennen und lieben gelernt. In dem Band "Immergleiche Wege" geht es wieder mal um Menschen, die ihr Leben vermasselt haben und trotzdem den Mut nicht verlieren, irgendwie weiterzuwurschteln.

Von Martin Ebel | 19.08.2018
    Buchcover: Richard Russo: "Immergleiche Wege"
    Keine Short Stories, eher Geschichten auf der Mittelstrecke (Buchcover: DuMont Verlag, Foto: Deutschlandradio Maria Lang)
    Stories, Erzählungen, genießen in den USA einen besseren Ruf als im deutschsprachigen Raum. Nicht nur die Short Story, die von Hemingway bis Carver literarischen Kultstatus genießt. Auch längere Erzählstücke haben schon etliche Autoren zu Ruhm und Ehre getragen. So ist etwa George Saunders, dessen Roman "Lincoln im Bardo" gerade auch bei uns Furore macht, als Autor von Geschichten bekannt geworden, Lydia Davis hat ausschließlich mit Kurzformen den Internationalen Booker Preis gewonnen und die Kanadierin Alice Munro mit etwas weniger kurzen gar den Nobelpreis. Zwei Ursachen könnte diese unterschiedliche Wertschätzung haben: Mit vielen angesehenen literarischen Zeitschriften stehen genügend Bühnen für Geschichten bereit, und die zahlreichen Lehrstühle für "Creative Writing" pflegen die kürzere Form – weil sie im Unterricht leichter zu erfüllen, zu diskutieren und zu bewerten ist.
    Lange überhört
    War Saunders ein Story-Writer, der jetzt mit einem Roman auftritt, so liegt bei Richard Russo der umgekehrte Fall vor. Der 1949 geborene US-Amerikaner hat zwölf Romane geschrieben, sein aktueller Titel auf Deutsch ist aber ein Band mit vier Erzählungen. Als Romancier ist Russo eine der stärksten Stimmen der amerikanischen Literatur; er reicht an Beschreibungsfülle, Detailfreude und psychologischer Einfühlung an den großen John Updike heran. Dass diese Stimme bei uns erst spät bemerkt wurde, hat damit zu tun, dass er gewissermaßen im falschen Konzertsaal aufgetreten ist. Die ersten deutschen Übersetzungen erschienen bei Heyne und Lübbe, nicht eben Häuser der Hochkultur. Erst seit der DuMont-Verlag ihn ins Programm genommen hat, wachte auch die deutsche Kritik auf und zeigte sich begeistert. Dass ausgerechnet "Empire Falls", jener Roman, der 2002 den Pulitzerpreis gewann, erst 2016, also mit 14 Jahren Verspätung, den Weg zum deutschen Publikum fand, zeigt, dass nicht alles glatt läuft auf der Vermittlungsschiene über den Atlantik.
    In "Empire Falls" – deutscher Titel: "Diese verdammten Träume" porträtierte Russo eine Kleinstadt im Nordosten der USA, die ihre besten Zeiten lange hinter sich hat. Die Textilfabriken, die die Bewohner einst ernährt hatten, sind geschlossen, die Buslinie endet im Nachbarort, und den perspektivlosen Bewohnern bleibt nichts, als in den örtlichen Abfüllstätten abzuhängen. Auch "Ein Mann der Tat", im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen, spielt in einer solchen abgehängten Stadt, deren Bewohner, wären sie nicht fiktiv, wohl Donald Trump gewählt hätten. Sie heißt North Bath, ein ebenso hochtrabender, von der Realität Lügen gestrafter Name wie "Empire Falls". Russo übrigens stammt aus Gloversville, einst die Handschuhmetropole der USA. In North Bath stinkt es zum Himmel, weil Fässer voll giftiger Chemikalien nie richtig entsorgt wurden. Auch hier sind die Romanfiguren vielfach damit beschäftigt, sich in den Pubs volllabern und volllaufen zu lassen. Es sind – in Russos eigenen Worten:
    "Größtenteils Unterhaltszahlungsverweigerer, Arbeitsunfähigkeits-Vortäuscher, Obdachlose und weitere Volltrottel verschiedenster Art."
    Erniedrigte und Beleidigte
    In diesen und anderen Romanen gelingt es Russo, ein Panoptikum von Abgehängten vor den Augen des Lesepublikums auszubreiten, eine Galerie kauziger, liebenswerter Loser, von denen man nicht genug bekommen kann. Menschen, die ihr Leben mehr oder weniger vermasselt haben und dennoch nicht aufstecken. Richard Russo verwickelt sie in verwirrende Plots und rasend komische Dialoge. Komik und Empathie sind überhaupt die Grundsubstanzen seines ganzen Werks, und sie prägen auch die vier Erzählungen, die jetzt unter dem Titel "Immergleiche Wege" auf Deutsch zu lesen sind.
    Ursprünglich einzeln und verstreut erschienen, hat sie der Autor selbst zu einem Band zusammengefasst. Tatsächlich erscheint dieser Band wie komponiert, eine literarische Sinfonie, in der Abfolge der Sätze wie in der erzählungsübergreifenden Motivik. Alle vier spielen auf zwei Zeitebenen, in der Gegenwart und einer biografisch weiter zurück liegenden Vergangenheit, und sie verfahren dabei wie ein analytisches Drama: ein früheres Ereignis taucht im Gedächtnis auf, durch etwas gegenwärtiges herbeigerufen, und wird erstmals und doppelt begriffen – nämlich in dem Sinne, den es seinerzeit hatte, und in seiner Bedeutung für das Hier und Jetzt.
    Das Milieu und das Personal der vier Erzählungen sind "gehobener" als in den genannten Romanen. Die beiden ersten, "Reitersmann" und "Stimme", spielen an Colleges, allerdings an nicht sehr renommierten; der Held der dritten, "Eingriffe", ist Immobilienmakler. Die letzte, "Milton und Marcus", versetzt uns nach Hollywood, wo ein Drehbuchschreiber, dessen Erfolg weit zurück liegt, es noch einmal wissen will: mit einem Skript über ein alterndes Gaunerpärchen, das den letzten Coup plant. Russo arbeitet gewissermaßen auch mit erzählerischen Binnenreimen.
    "Das Leben war voller Geheimnisse, großer und kleiner. Auch sie neigten dazu, sich aufzutürmen. Karton um Karton voller Unerklärlichkeiten, bis man sich kaum mehr inmitten des Gerümpels bewegen konnte. Das meiste davon wertloses Zeug, aber wenn man es in seiner schieren Masse betrachtete, musste man dann nicht unweigerlich verzweifeln, wenn es ans Aufräumen ging, und wo sollte man beginnen?"
    Auf Sicht fahren, Kurs ändern
    Was der Immobilienmakler Ray, der gerade ein Haus ausräumt, hier formuliert, ist die klassische Situation eines Russo-Helden, seine conditio humana: Er begreift, dass er sein Leben nie richtig in den Griff bekommen wird, dass die Umstände und seine eigenen Fehlleistungen ihm über den Kopf wachsen, aber irgendwie muss er es doch versuchen, sich durchzuwurschteln, einen Weg durch das angesammelte Gerümpel zu finden. Dabei leitet Russos Helden nicht unbedingt ein klar umrissenes Ziel. Sie fahren gewissermaßen auf Sicht, ändern bei Bedarf den Kurs. Dass die Menschen nicht eigentlich wissen, was sie wollen, gehört zu den wenigen Dingen, die sie begriffen haben – auch wenn sie diese Erkenntnis nur auf ihre Mitmenschen anwenden, nicht auf sich selbst. Ray, der Makler, der den Kunden das richtige Objekt verkaufen will, ist zutiefst davon überzeugt ...
    "(… ) dass die meisten Menschen keinen Schimmer hatten, was sie wollten, vor allem jene, die darauf beharrten, sie wüssten es."
    Was dann gleich am Beispiel eines Käuferpaares aus dem Süden belegt wird. Und fast wortgleich findet sich die Formulierung in jenem Filmskript, das der Held der letzten Geschichte für einen Hollywoodstar geschrieben hat:
    "Ich glaube, du hast keinen blassen Schimmer, was du wirklich möchtest."
    Wie die Personen das dann doch herausfinden, ein bisschen jedenfalls: Das führt nicht zu Triumphen und Epiphanien, aber doch zu ein wenig Erleichterung und Hoffnung. Und für den Leser zu dem Gefühl, dass die Geschichte weitergeht, auch wenn der Autor sie zu unserem Bedauern abgeschlossen hat.
    Keine Siegertypen
    "Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles!", heißt es bei Rilke. Siegertypen sind sie alle nicht, die Russo-Helden dieses Bandes, auch wenn sie dem Mittelstand angehören und mehr oder weniger funktionierende Berufe ausüben. Von den beiden College-Dozenten der ersten beiden Erzählungen, einer jungen und einem schon pensionierten, wird in verdächtiger Formulierung gesagt, sie seien zwar fleißig und korrekt, aber "nicht gut" – jedenfalls zu wenig für eine akademische Karriere. Den Makler hat die Immobilienkrise voll erwischt, dazu eine Krebsdiagnose, die ihn allerdings weniger wegen des wahrscheinlichen Ausgangs ängstigt als wegen der Behandlungskosten. Beim Drehbuchschreiber ist es die Frau, die Krebs hat, und eine Krankenversicherung hat er gar nicht mehr. Das Elend klopft also auch an die Türen der vermeintlich oder nur vorläufig Bessergestellten. Und manchmal sind sie es selbst, die ihm aus Schusseligkeit die Tür öffnen.
    Der liebenswürdigste Schussel des Bandes ist Nate, geschasster Dozent eines Provinz-Colleges, der einer Studentin zu nahe getreten ist – nein, kein #metoo-Fall, vielmehr eine Übersprunghandlung aus fehlgeleiteter Fürsorge. Er wollte die brillanteste Essayschreiberin seines Jane-Austen-Seminars, eine Autistin mit dem ostinatohaft zitierten Namen Opal Mauntz, aus ihrer Isolation herausholen, ihre "Stimme" zum Erklingen bringen. Das geht fürchterlich schief, wird als Übergriff gedeutet und führt zu Nates Rauswurf.
    Noch ein Jahr später drückt ihn die Blamage, als er mit seinem Bruder Julian an einer Venedig-Gruppenreise teilnimmt, die Russo zum tragikomödiantischen Höhepunkt des Bandes macht. Während er das Opal-Mauntz-Desaaster um und um wälzt, zweifelt er an seinen Fähigkeiten, seinem Verstand, seiner Berufswahl, seinem ganzen verfehlten Leben.
    "Sein Studium hat er finanziert, indem er für einen Bauunternehmer namens Handscombe arbeitete, einen überraschend nachdenklichen Mann, der sich auf die Restaurierung alter Häuser spezialisiert hatte. Aus irgendeinem Grund schloss er Nate ins Herz, und statt ihn immer nur Trockenbauwände einziehen zu lassen, nahm er ihn unter seine Fittiche und brachte ihm jedes zum Baugeschäft gehörige Handwerk bei, von der Zimmerei über das Mauern bis zu Klempner- und Elektroarbeiten. Er wunderte sich über das Geschick, das der Junge bei all diesen Aufgaben an den Tag legte. 'Bleib doch bei uns!', schlug er ihm, ein paar Wochen bevor Nate sein Masterstudium aufnehmen wollte, vor. 'Du machst dich echt gut. Und es scheint dir Spass zu machen.'
    Und das stimmte auch, er war wirklich gern dort. Einen Nagel einzuschlagen oder ein Rohr zu verlegen, das war ehrliche Arbeit, und das gefiel ihm. Wenn man eine Aufgabe nicht ordentlich erledigte, konnte man nicht so tun, als hätte man sie gut gemacht. An der Universität hingegen konnten manche durch geschicktes Argumentieren ein schlechtes Buch wie ein gutes erscheinen lassen und umgekehrt. Jede überzeugende Argumentation – egal, wie verdreht sie im Kern war – wurde bewundert.
    Anders hingegen in Mr. Handscombes Welt, wo eine lausig ausgeführte Arbeit zur Folge haben konnte, dass das Rohr leckte oder die Mauer einstürzte. Auch wenn Nate es nicht zugegeben hätte, waren für ihn die rhetorischen Werkzeuge, mit denen er während des akademischen Jahrs hantierte, nicht annähernd so befriedigend wie jene, die im Juli und August an seinem Gürtel baumelten. Und, mehr noch, zum Sommerende hin war sein Körper sonnengebräunt und durchtrainiert. Doch damals war er sich dieser Tatsachen nicht so bewusst. Welcher Mann entscheidet sich schon für harte körperliche Arbeit, wenn er ein beschauliches, intellektuelles Leben führen kann?"
    Slapstick und Melancholie
    Nun, so beschaulich war das Leben am College für Nate ja nicht, und die Spätfolgen einer Fehlentscheidung, wenn es denn eine war, zeigen sich in Venedig, das Nate wie einen Irrgarten erlebt, und die Verwirrung greift auf seinen Kopf über, bis er glaubt, seinen Verstand zu verlieren. Verstärkt wird die Verwirrung durch ständige Attacken seines Bruders. Der ist ein eitler Großkotz, der mit seinen Geschäftserfolgen prahlt und Nate lächerlich macht. Aber eigentlich ist dieser Julian ein von einem Hausbrand schwer traumatisiertes Kind, das viel zu früh die Stelle des davongelaufenen Vaters einnehmen musste. Nun ist er pleite und zu feige, den "Versager" Nate um Geld zu bitten. Da reist er lieber heimlich ab und überlässt dem Bruder die Hotelrechnung.
    Schon diese Erzählung, die zweite und mit 110 Seiten auch die längste des Buches, hat Breite, Tiefe und Fülle für einen Roman. Der Ton ist so, dass man gar kein Ende finden möchte: Slapstick und Melancholie gehen die schönsten Verbindungen ein. Und an jeder Ecke platziert der Autor wunderbare Beobachtungen, immer gefiltert durch das Bewusstsein eines kauzigen, liebenswerten Misanthropen, der an sich selbst irre wird und dessen Sätze über die Seiten mäandrieren. Der informiert uns, eher kopfschüttelnd als aggressiv, über die "Verdachtskultur" an amerikanischen Universitäten. Russo, der an einigen Colleges unterhalb der "Ivy League" gelehrt hat, weiß, wovon er spricht. Außerdem über das umgekehrt proportionale Verhältnis von Ansprüchen und Leistungen seiner Studenten. Die finden das öffentliche Vorlesen ihrer Essays "demütigend", vielleicht weil sie wissen, wie dürftig sie sind.
    "Abgesehen von Opals Essay war der ganze restliche Stapel der ersten Seminararbeiten deprimierend erbärmlich. Ihre Verfasser waren keineswegs dumm – die Diskussionen hatten das gezeigt -, aber ihre Texte waren vollkommen inkohärent. Ihr ganzes akademisches Leben lang hatten sie Passagen aus dem Internet kopiert und in ihre Arbeiten eingesetzt – hier ein Abschnitt, dort ein Satz -, ein Potpourri an Beobachtungen, verbunden durch wenig mehr als das übergeordnete Thema. Die einzelnen Sätze, die sie aus dem originalen Kontext gerissen und in einen fremden Text hatten hineinplumpsen lassen, unterschieden sich auf abenteuerliche Weise in Tonlage und Stil. Hätte man ihnen eine Liste mit Konjunktionen und verbindenden Partikeln an die Hand gegeben – aber, vielmehr, andererseits, während, demzufolge -, hätten die angeblichen Autoren der Aufsätze hilflos davorgesessen und nicht gewusst, welche von ihnen die Beziehung zwischen den einander gegenübergestellten Aussagen abbilden würden, hätte eine solche Beziehung denn überhaupt existiert. Es war zum Verrücktwerden, aber oft waren ganze Absätze gleichermaßen fehler- wie sinnfrei."
    Das klingt, als hätte Richard Russo die Doktorarbeit des einstigen Ministers Guttenberg gekannt. Mit einem echten Plagiat hat es die Dozentin Janet in der ersten Geschichte, "Reitersmann", zu tun; der ertappte Student wird noch frech – und versetzt Janet in eine peinliche Episode ihre eigenen Studentenzeit. Plagiat, verfehlte Lebensentwürfe, feindliche Brüder, charakterlich entgegengesetzte Freunde: solche Motive verklammern die Erzählungen miteinander, als habe Russo insgeheim einen Roman in vier Sätzen schreiben wollen.
    Leitmotiv: Nichts Besonderes sein
    So antagonistisch wie Julian und Nate in "Stimme" - der eine, der mehr vom Leben will, gegen einen, der sich mit dem bescheidet, was eben da ist - so antagonistisch erlebt der Makler Ray seinen Vater und dessen Bruder Jack. Der Vater, ein mit seiner eng umschriebenen Existenz zufriedener Mensch, wird von Onkel Jack immer wieder zu "todsicheren» Geschäftsideen eingeladen, vielmehr fast gewaltsam in sie hineingezerrt. Der Vater indes wehrt sich, er will einfach "nichts Besonderes" sein. Und muss sich jedes Mal eine wütende, von Russo kursiv gesetzte Tirade seines Bruders anhören:
    "Was ist los mit dir, Tommy? Du stehst wohl gern Schlange? Und wartest, bis jemand beschließt, wie viel du vom Kuchen abbekommst? Während du da draußen mit den anderen Trotteln herumstehst und auf Reste wartest, huschen die cleveren Typen durch den Hintereingang hinein und nehmen sich, was ihnen zusteht. Du warst doch in der Army, verdammt noch mal. Hast doch gesehen, wie es läuft. Du weißt, wie dieses Land, für das wir gekämpft haben, funktioniert, oder nicht? Es ist das Land der Hintertüren, wo Geschäfte mit einem Handschlag besiegelt werden. Während der Prohibition haben die Leute nicht zu trinken aufgehört. Sie haben einfach nur aufgehört, den Vordereingang zu benutzen."
    Natürlich enden all die todsicheren Geschäfte im Desaster, und Jack stirbt einsam und verlassen in einem Ort, der genauso heißt wie die Frau seines Bruders: Rita. Manches, was in der Vergangenheit liegt und ganze Lebensläufe aus dem Lot bringt, muss Russo gar nicht ausbreiten; Andeutungen genügen, um den Erzählungen einen zweiten Boden einzuziehen. Aber auch der Bruder, des Maklers Vater, nimmt kein schönes Ende; er bekommt Krebs und lehnt es ab, sich behandeln zu lassen: Er sei ja schließlich nichts Besonderes, und sowas könne jeden erwischen.
    "Nichts Besonderes sein" – das durchzieht wie ein Leitmotiv die Erzählungen eines Autors, der einmal gesagt hat "Es gibt keine kleinen Leben", und der jede seiner Figuren zu etwas Besonderem machen kann. Was ja die ureigenste Aufgabe und Leistung der Literatur ist.
    Ein Ende in Hoffnung
    Die letzte, die Hollywood-Erzählung, versetzt einen solchen "nicht besonderen" Menschen in die Welt der Stars, Wesen larger than life, die sich jeden Wunsch erfüllen können und alle, denen es nicht so geht, als Niemande betrachten. Aber kurz bevor man hier piefige Moral wittern könnte, verrät Russo, dass eben jener Superstar William Nolan von seinem Göttersitz aus bedauert, nicht mehr "just Bill" zu sein, der unbeschwerte Jüngling, der einst mit dem Rucksack durch Griechenland zog. In dem zehn Jahre alten Gauner-Skript glaubt er eben jenen Bill wiederzufinden. Die Chance, die er dem Drehbuchautor gibt, ist also zuvörderst eine für ihn selbst.
    Russo gelingt es in dieser Erzählung, Glanz und Brutalität Hollywoods so auszubalancieren, dass wir vom Helden zugleich fasziniert und angewidert sind. Und auch dieses Milieu kennt Russo aus eigener Erfahrung. Er hat selbst etliche Drehbücher geschrieben und liefert, wie als Bonustrack, Ausschnitte aus "Milton und Marcus", derart hinreißend, dass man unbedingt den Film realisiert sehen möchte.
    Am Schluss der Geschichte schlägt Russo einen Bogen zur amerikanischen Verfassung, zum Glücksversprechen, das in ihr formuliert ist. Genauer: Das Recht, nach Glück zu streben. Nach mehr, so versteht er es, als viele "kleine Leute" glauben, dass ihnen zustehe. Tatsächlich enden alle vier Erzählungen nach mancherlei Verwirrungen und Verirrungen mit der Hoffnung, es doch noch hinzukriegen mit der "elenden Flickschusterei", die das Leben ist. Hoffnung: in seriöser Literatur eine eher schwierige Schlussstimmung. Aber Russo beherrscht auch sie.
    Richard Russo: "Immergleiche Wege"
    Erzählungen
    aus dem Englischen von Monika Köpfer
    DuMont Verlag, Köln. 302 Seiten, 23 Euro.