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Richard Wright: "Sohn dieses Landes"
Gefangen zwischen Diskriminierung und Selbsthass

Bigger Thomas, ein junger Schwarzer, arbeitet als Chauffeur bei einer reichen weißen Familie in Chicago. Weil die schöne Tochter eines Abends zu viel getrunken hat, trägt er sie in ihr Schlafzimmer. Er muss um seine Integrität fürchten - und tötet sie. Ein Schlüsselroman über die Wirkung von Rassismus.

Von Eberhard Falcke | 06.09.2019
Der amerikanische Schriftsteller (u.a. "Onkel Toms Kinder", "Schwarzer Hunger") schildert in seinen Werken die sozialen Konflikte der Schwarzen Amerikas. Richard Wright wurde am 4. September 1908 bei Natchez geboren und ist am 28. November 1960 in Paris gestorben. Undatierte Aufnahme.
Richard Wright und seine Schreibmaschiche in New York (picture-alliance / dpa)
Für Bigger Thomas und die seinen beginnt der Tag mit einer Rattenjagd in der Ein-Zimmer-Wohnung zwischen Betten, Schrank und Truhe. Das heißt, er beginnt mit Verzweiflung und Wut über die Lebensverhältnisse, in denen die vaterlose Familie vegetieren muss. Der größte Wunsch der Mutter besteht darin, dass ihre Kinder möglichst bald zum knappen Einkommen beitragen können. Vor allem Bigger, der Älteste, soll um Gottes willen die Stelle annehmen, die ihm das Wohlfahrtsamt angeboten hat. Hoffnungen auf glücklichere Tage gibt es ansonsten keine.
Zur Chancenlosigkeit verurteilt
Man schreibt das Jahr 1940, es herrscht strikte Rassentrennung und die weiße Gesellschaft setzt alles daran, dass die Chancen für die Nachkommen der Sklaven begrenzt bleiben. Entsprechend sehen Biggers Tage aus:

"Was sollte er tun? Sooft er sich diese Frage stellte, gingen seine Gedanken ins Leere, und er wusste nicht weiter. Ja, er konnte die Arbeit bei den Daltons annehmen und sich das Leben vermiesen oder sie ablehnen und verhungern. Es machte ihn verrückt, keine andere Wahl zu haben."
Bigger Thomas ist der Titelheld des Romans "Sohn dieses Landes". Und Richard Wright hat in diesem, seinem bekanntesten Werk zwei entscheidende Aspekte des vor hundert Jahren noch weithin ungezügelten Rassismus gegenüber Afroamerikanern in demonstrativ zugespitzter Form dargestellt: nämlich zum einen die ebenso packende wie quälende Fallgeschichte über den unaufhaltsamen Weg eines Schwarzen vom armseligen Getto-Alltag bis hin zum elektrischen Stuhl. Und zum anderen das ungemein präzise gezeichnete Psychogramm einer rassistisch deklassierten Persönlichkeit.
"Er hasste seine Familie, weil er wusste, dass sie litt und dass er machtlos dagegen war. Er wusste, wenn er sich vom Mitgefühl für ihr elendes Leben ergreifen ließ, würden ihn Angst und Verzweiflung überwältigen. Er wusste, wenn er Sinn und Bedeutung seines Lebens in sein Bewusstsein dringen ließe, würde er sich oder jemand anderes umbringen. Deshalb verleugnete er sich selbst und gab sich unnahbar."
Gefangen zwischen Diskriminierung und Selbsthass
Bigger Thomas steckt in einer doppelten Falle. Einerseits weiß er, dass der amerikanische Traum definitiv nicht für ihn erfunden wurde, obwohl er ein Sohn dieses Landes ist. Andererseits verachtet er sich selbst für die Diskriminierungen, die ihn daran hindern, sich frei zu fühlen und seine Chancen wahrzunehmen.
Auf besonders tückische Weise entwickeln sich die Dinge, als er bei der reichen Familie Dalton tatsächlich die angebotene Chauffeurstelle erhält. Die Daltons versuchen die Tatsache, dass sie für teures Geld Rattenlöcher an schwarze Familien vermieten, dadurch wettzumachen, dass sie sich als freundliche Philanthropen geben und Bildungseinrichtungen für Schwarze mit Millionen unterstützen.
Mary, die Tochter der Daltons, gebärdet sich sogar als Salonkommunistin. Gleich bei der ersten abendlichen Fahrt in die Stadt macht sie Bigger mit ihrem Freund, einem Mitglied der Kommunistischen Partei, bekannt. Die beiden progressiven Weißen behandeln den schwarzen Chauffeur wie ihresgleichen und damit bringen sie ihn in eine schreckliche Bredouille.
Mörder aus Angst
Nach Hause zurückgekehrt, trägt Bigger die betrunken plappernde junge Frau in ihr Zimmer, weil sie nicht mehr laufen kann. Doch dann muss er plötzlich befürchten, neben dem Bett der schönen Mary ertappt zu werden, womit er sofort in den Verdacht des Vergewaltigers geraten würde, den schon viele Schwarze mit dem Tod bezahlt haben:

"Voller Angst drückte er ihr den Zipfel des Kopfkissens auf den Mund. Er musste sie zum Schweigen bringen, sonst würde man ihn hier entdecken. Sie bäumte sich auf, und er drückte sie mit seinem ganzen Gewicht nach unten. Sie durfte ihn einfach nicht verraten. "
Obwohl Bigger keineswegs vor hatte, Mary zu töten, überlebt sie seine Panikreaktion nicht. Damit hat seine Geschichte, mit Dürrenmatt zu sprechen, die schlimmstmögliche Wendung genommen. Nun, da Bigger kein guter Mensch mehr werden kann, legt er mit atemberaubender Konsequenz die ganze Schlechtigkeit, Niedertracht und Gemeinheit an den Tag, die ihm das rassistische System ohnehin nachsagt.
In düster-beklemmenden Szenen von heilloser Dramatik wird geschildert, wie der 20-Jährige seinem Untergang entgegen rast: Er hackt Marys Leiche den Kopf ab, er verbrennt sie im Heizofen ihres Elternhauses, er versucht sich als Erpresser, er erschlägt seine verschreckte Freundin Bessie und entsorgt sie wie ein Stück Müll. Nach einer Jagd über die verschneiten Dächer des Schwarzengettos von Chicago wird er von der Polizei gefasst. Von da an verwandelt sich der Roman zu einem fulminanten Gerichtsdrama.
Die Rolle der Kommunisten im Rassenkonflikt
Als Richard Wrights "Sohn dieses Landes" 1940 erschien, wurde der Roman sofort zum Bestseller und zu einem anerkannten Schlüsselwerk der sozialkritischen amerikanischen Literatur. In die psychologische Analyse von Bigger Thomas hat Richard Wright viele der Identitätskonflikte einfließen lassen, die ihm selbst zu schaffen machten. Außerdem wirft er Schlaglichter auf die Rolle der Kommunistischen Partei im Rassenkonflikt, deren Widersprüchlichkeit er als Parteimitglied und junger Schriftsteller gründlich kennen gelernt hatte.
Als Bigger der Prozess gemacht wird, führt der Autor den jüdischen Rechtsanwalt Max von der Arbeiter-Rechtshilfe ein, der den schwarzen Angeklagten im Gefängnis betreut und vor Gericht verteidigt. In seinem großen, viele Seiten umfassenden Plädoyer weist der Anwalt mit der ganzen argumentativen Dialektik, die den Roman insgesamt charakterisiert, nach, dass es die rassistischen Verhältnisse sind, die Bigger zum Verbrecher gemacht haben:

"Was hätte ein Junge getan, der nicht den negativen Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre, die Bigger Thomas so stark geprägt haben? Es hätte keinen Mord gegeben. Doch die Art und Weise, wie wir diesen Jungen behandelt haben, hat ihn dazu gebracht, genau das zu tun, was wir verhindern wollten."
James Baldwins Kritik
James Baldwin, der in seinen Anfängen von Richard Wright gefördert wurde, schrieb einmal, dass jeder amerikanische Schwarze einen Bigger Thomas in sich trage. Andererseits übte er aber auch Kritik an "Sohn dieses Landes", den er als typischen Protestroman bezeichnete. Baldwin bemängelte die stereotype Darstellung des Romanhelden als Beispielfigur des Rassenkonfliktes und vermisste eine individuellere, menschlich differenziertere Figurenzeichnung. Aber das ist kein qualitativer, sondern ein konzeptioneller Einwand.
Als Richard Wright seinen Roman schrieb, war die Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1964 noch lange nicht absehbar. Nur so ist die eindimensionale Darstellung von Bigger Thomas als einem reinen Opfer des weißen Rassismus ohne eigene Verantwortung zu erklären. Richard Wright hat einen kämpferischen Roman geschrieben, in dem die Fronten des Rassenkonfliktes polemisch und mit aller Schärfe herausgestellt werden. Gerade dadurch hat er ein ebenso interessantes wie aufwühlendes literarisches Zeitdokument geschaffen und zugleich ein nach wie vor packendes Meisterwerk der afroamerikanischen Literatur.
Richard Wright: "Sohn dieses Landes"
Aus dem Englischen von Klaus Lambrecht
Verlag Kein & Aber, Zürich
575 Seiten, 24,00 Euro