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Richtungsstreit in der SPD

Breker: ‚Die Geschlossenheit' - so die einhellige Diagnose der Sozialdemokraten - ‚hat uns bei der Bundestagswahl den Sie gebracht.' Diese Einschätzung scheint überholt zu sein. Begriffe, wie ‚Flügelkämpfe', ‚Richtungsstreit' und ‚Kurswechsel' beschreiben das derzeitige Szenario bei der SPD. Statt Geschlossenheit wird Front gemacht gegen den Bundeskanzler, der ja zugleich auch SPD-Vorsitzender ist. Am Telefon begrüße ich nun Wilhelm Schmidt, den ersten parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Guten Morgen Herr Schmidt.

    Schmidt: Guten Morgen Herr Breker.

    Breker: Herr Schmidt, Detlef von Leicher, Sprecher des Frankfurter Kreises, sagt in der WELT von heute: ‚Wenn der Kanzler versuche, aus einer Politik der sozialen Gerechtigkeit eine Politik der sozialen Kälte zu machen, die vor allem nur die Angebotsseite stärke, dann wird die Fraktion im Parlament dies verhindern'. Hat er recht?

    Schmidt: Da hat er recht. Aber ich bin gleichzeitig der Meinung, daß der Kanzler das nicht will. Also, insofern - glaube ich - ist das eine überspitzte Formulierung auf eine Hypothese gemünzt, die nach meiner Einschätzung so nicht zutrifft. Weder durch das Schröder-Blair-Papier, noch durch den Konsolidierungs- und Sparhaushalt, den wir in nächster Zeit beschließen werden müssen, ist das untermauert. Also ich denke, das ist eine etwas unter dem Aspekt der Abwehr gemeinte Haltung von Herrn von Leicher.

    Breker: Aber die Gewerkschaften sind sich einig, Herr Schmidt. Die Gewerkschaften sehen in dem Sparpaket eine soziale Schieflage.

    Schmidt: Das wundert mich sehr, muß ich sagen, daß die Gewerkschaften - wie Herr Schulte das ja gestern auch zum Ausdruck gebracht hat - das so betonen. Denn wenn man das ganz genau mal analysiert, kann das nicht aufrecht erhalten werden als Auffassung. Wir haben sowohl in den ersten Maßnahmen der Regierung und des Bundestages und der Koalitionsmehrheit schon immer die Arbeitnehmer und die Familien mit Kindern in den Vordergrund gerückt in den vergangenen Monaten, und wir werden das auch beim Spar- und Konsolidierungsprogramm tun, indem wir bei der Gegenfinanzierung sehr kräftig gerade bei den Gutverdienenden und auch bei den großen Unternehmen zur Sache gehen werden.

    Breker: Frau Engelen-Kefer sagt, sie sei enttäuscht und irritiert.

    Schmidt: Ja, gut, das mag Frau Engelen-Kefer sein, aber ich kann nur sagen: Es ist bei näherer Betrachtung und bei wirklich objektiver Analyse nicht so, daß man das aufrechterhalten könnte.

    Breker: Woher kommt denn der Begriff ‚Gerechtigkeitslücke'?

    Schmidt: Ja, das ist ja auch meine Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich solche Äußerungen höre. Es ist so, daß wir selbst natürlich auch als Bundestagsfraktion gesagt haben, wir brauchen ein Zeichen nach draußen, das gleichzeitig dafür sorgt, daß wir in dieser Richtung soziale Gerechtigkeit noch mehr, als das bisher erkennbar ist, tun. Denn das, was ich als soziale Gerechtigkeit eben schon bezeichnet habe, das ist mich auch persönlich zu sehr versteckt in dem Konsolidierungsprogramm. Das Entscheidende ist, daß wir deswegen ja den Begriff ‚Vermögenssteuer' in die Debatte geworfen haben als Fraktion. Und die Fraktion ist sich einig darin, daß die Vermögenssteuer oder etwas ähnliches - zum Beispiel die Erhöhung der Erbschaftssteuer - stattfinden muß, um eben genau dieses noch einmal zum Ausdruck zu bringen, was wir wollen - auch nach außen tretende deutlichere soziale Gerechtigkeit.

    Breker: Die Politik des Bundeskanzlers verprellt die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind ein klassisches Klientel der SPD. Kann man sich das leisten?

    Schmidt: Also ich bin deswegen - ich sage es noch einmal - verwundert, weil ja bis vor wenigen Tagen und Wochen auch die Gewerkschaften mit am Tisch des Bündnisses für Arbeit und Ausbildung und Innovation gesessen haben, und dort diese Töne keine Rolle gespielt haben. Das heißt: Auch dort war schon das Programm in den Grundzügen bekannt. Es ist so, daß seinerzeit die Beteiligten auch auf der Gewerkschaftsseite sich nicht in dieser Weise geäußert haben. Und von daher - muß ich sagen - muß man das auch mal so ein bißchen sichten: Warum melden die sich jetzt in dieser Zeit, und werden nicht einzelne Äußerungen - auch von Schulte oder Engelen-Kefer oder anderen - etwas überbewertet und vielleicht zu deutlich dargestellt in den Medien. Vielleicht haben die es gar nicht so deutlich gemeint.

    Breker: Aber auch bei der SPD in Ostdeutschland rührt sich Widerstand gegen den Kurs des Kanzlers. Der Vorsitzende des SPD-Parteirates Rüdiger Fikentscher aus Sachsen-Anhalt sagt, mit Blick auf die Landtagswahlen im Osten solle man sich vor dem Eindruck hüten, soziale Gerechtigkeit sei der Partei inzwischen egal.

    Schmidt: Ja, das finde ich ja auch. Ich betone das noch einmal: Auch dies fände ich außerordentlich fatal. Das Schröder-Blair-Papier gibt dazu in Ansätzen durchaus Anlaß, und deswegen macht es mir auch Sorge. Es hat ja auch vor der Europawahl eine entsprechende Rolle gespielt. Der andere Teil ist allerdings: Wenn man dann die Fakten sieht und wenn man dann einmal gegenüberstellt, was ist denn getan worden und was wird denn noch geschehen durch das Spar- und Konsolidierungs-programm: Dann kann man das eigentlich objektiv nicht so sehen, und dann würde ich mich auch bemühen - als wichtiges Glied der Partei, wie es ja ein Parteiratsvorsitzender es ja durchaus ist -, das durch eigene Äußerungen nicht noch zu verschärfen, was diesen Eindruck angeht.

    Breker: Aber das Schröder-Blair-Papier, Herr Schmidt, ist doch kein Zufall. Da geht es doch um das Ablegen von traditionellem Ballast.

    Schmidt: Na ja, es ist gemeint gewesen - wie man ja hinreichend weiß - als ein Papier, das die europäische Sozialdemokratie zusammenbringen soll, das heißt, die Flügel der europäischen Sozialdemokratie, die ja noch weiter und größer auseinander gehen, als das in Deutschland zwischen rechts und links der Fall ist. Das ist - glaube ich - schon sehr wichtig, daß man das auch weiß. Denn die englische Sozialdemokratie und die französische und alles, was dazwischen liegt, sind ja durchaus auch ein Faktor, der noch sehr weit einer Einigung bedarf. Darauf war das Papier gemünzt, nicht so sehr auf die Debatte in Deutschland, und von daher ist sie zwar erzeugt worden, auch bewußt - und nun hat sie der Kanzler, er wollte sie ja als Parteivorsitzender haben. Aber andererseits ist sie in Deutschland - glaube ich - übertrieben worden, weil sie in Deutschland gar keine so große Rolle spielen müßte. Wir haben eine gute Programmatik, und wir haben eine gute Ausgangsposition in Form des Koalitionspapiers. Und von daher könnten wir eigentlich ganz ruhig hier unser Sommertheater betreiben, indem wir überhaupt gar nicht so sehr viel machen, wie es jetzt der Fall ist.

    Breker: Nun ist es allerdings anders, genau. Das, was jetzt bei der SPD abläuft, Herr Schmidt, das ist doch keine Programmdiskussion. Das ist doch ein Richtungsstreit!

    Schmidt: Ja, das finde ich auch. Das darf man auch nicht beschönigen. Und ich finde, daß diejenigen, die sich jetzt melden, natürlich auch Positionen besetzen wollen, um einen gegebenen Richtungsstreit zu beeinflussen, das ist aber auch ein natürlicher Vorgang. Wenn nun einmal eine solche Debatte begonnen worden ist, und der Kanzler und Parteivorsitzende hat sie offensichtlich gewollt, dann muß man das auch durchstehen. Also ich finde, das ist jetzt auch eine Sache, bei der die Beteiligten sich nicht so sehr danach orientieren, ob es nun im Tagesgeschäft irgendetwas gibt. Und insofern ist - glaube ich - das, was die Gewerkschaftsvertreter gemacht haben, etwas übertrieben. Aber der Richtungsstreit, der durchaus erkennbar ist, ist - ich sage mal - ein normales Geschehen in einer solch großen Partei. Und wenn eine Programmdebatte entfacht worden ist oder eine programmähnliche Debatte, dann ist es ganz normal, daß auch ein Richtungsstreit dabei stattfindet.

    Breker: Dann wird eine Programmdebatte begonnen, und dann erfahren wir vom SPD-Kanzler, daß das Parteiprogramm kein Katechismus sein muß. Da muß der Parteivorsitzende widersprechen.

    Schmidt: Ja, das stimmt. Also, ich bin auch der Auffassung, man sollte - wenn man eine Programmdebatte führen will, und das ist ja durchaus so, daß das Berliner Programm einer Überarbeitung durchaus bedarf - daß man dann auch sich nicht darüber ärgern darf, daß sich einige nur zu Wort melden, die ihre exponierten Positionen darstellen wollen. Und insofern geschieht genau das, was im Vorfeld dieses Parteitages, der im Dezember stattfinden wird, dann auch notwendigerweise sein wird und sein muß: Es wird kein Programmparteitag. Aber ich denke, es wird so sein, daß wir einige Positionen miteinander klären. Die Fraktion hat sich ja auch - wenn man so will - als ‚kleiner Parteitag' erwiesen. Sie ist ja mit 298 Mitgliedern aus allen 16 Bundesländern auch immer wieder ein großes Forum für die Meinung in der Partei, und die Fraktion war auch der Meinung: Wir dürfen - jedenfalls grundsätzlich - diese soziale Schieflage nicht eintreten lassen. Und das ist als genereller Satz durchaus nicht ganz unwichtig und nicht ganz falsch, und wir werden daran auch uns in unserer Arbeit orientieren.

    Breker: Herr Schmidt, wenn es denn Geschlossenheit war, die der SPD den Wahlsieg beschert hat, dann muß die SPD jetzt Wahlen verlieren.

    Schmidt: Na ja, also man darf auch das nicht überbewerten, wie ich glaube, obwohl ich natürlich schon meine gewissen Sorgen habe. Aber es ist so, daß wir bei der Frage der Geschlossenheit nun auch nicht eine ‚Kanzlerfolgearbeit' immer so betonen dürfen, die einfach so stattfinden sollte, ohne jede Debatte und Diskussion in der Öffentlichkeit: Also, wir wollen schon Diskussionen haben, wenngleich die jetzigen mir ein bißchen zu scharf sind. Und bei mancher Äußerung in der Öffentlichkeit ist es einfach so ein Hinterherlaufen hinter einer Grundsatzsposition, was nach meiner Einschätzung zum Teil jeder Grundlage entbehrt.

    Breker: Man könnte den Eindruck gewinnen, der Kanzler hätte die falschen Berater.

    Schmidt: Das kann ich überhaupt nicht sagen, denn es ist so, daß der Kanzler bei dem Blair-Papier von jemandem beraten worden ist, der inzwischen kein Berater mehr ist. Und inzwischen hat das so etwas wie eine Eigendynamik erhalten, und es kommt gar nicht mehr darauf an, ob der Kanzler und wie der Kanzler beraten worden ist. Und insofern macht es mir gewisse Sorgen. Es sollten sich einige jetzt ein bißchen zügeln und sich ein bißchen zurücknehmen in ihrer Außendarstellung. Dann kommen wir auch wieder auf die Reihe.

    Breker: Dankeschön. Das war in den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk der erste parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Wilhelm Schmidt. Danke für dieses Gespräch.

    Schmidt: Ebenfalls.