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Ringen um den Mindestlohn

Das Entsendegesetz sollte bei seiner Einführung Mindestarbeitsbedingungen für Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland gewährleisten. Dass es auch zur Einführung von Mindestlöhnen für sämtliche Beschäftigten einer Branche dienen kann, hat sich im Baubereich, bei den Gebäudereinigern und bei den Briefdiensten gezeigt. Nun sollen Arbeitnehmer in sechs weiteren Branchen einen Mindestlohn erhalten.

Von Andreas Baum und Martin Steinhage | 12.02.2009
    "Es ist ein Durchbruch, weil es jetzt ganz klar ist, dass das Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz novelliert werden und auch klar ist, dass es dazu kommen wird, dass zahlreiche Arbeitnehmer aus zahlreichen Branchen zusätzlich von den Regelungen des Entsendegesetzes geschützt werden."

    Bereits im Juli letzten Jahres war sich Bundesarbeitsminister Olaf Scholz sicher, dass er und seine SPD im Ringen mit dem Koalitionspartner einen wichtigen Etappensieg erzielt hatten. Da die Union einen gesetzlichen Mindestlohn kategorisch ablehnt, sollten nach dem Willen der Sozialdemokraten wenigstens in möglichst vielen Branchen feste Lohnuntergrenzen realisiert werden. Das schien im Sommer 2008 erreicht.

    Doch erst jetzt ist es tatsächlich so weit: Konnten bisher rund 1,8 Millionen Beschäftigte - in der Baubranche, bei den Gebäudereinigern und bei den Briefdiensten - über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf Mindestlöhne pochen, wächst dieser Personenkreis nun auf etwa dreieinhalb Millionen Menschen an. - Scholz ist zufrieden:

    "Ich bin sicher, dass wir insgesamt durch das, was wir jetzt machen, dazu kommen werden, dass es ungefähr eine Verdoppelung geben wird der Zahl der Arbeitnehmer, die durch Tarifverträge über das Entsendegesetz geschützt sind. Es wird viele Menschen geben, denen es besser geht, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist. Und das ist eine gute Sache."
    Profitieren sollen die Beschäftigten in insgesamt sechs weiteren Branchen. Dabei werden die Mindestlöhne auch künftig - je nach Wirtschaftszweig - erheblich variieren: So reicht die Spannbreite im Wach- und Sicherheitsgewerbe von glatt sechs bis 8,32 Euro. Dagegen gibt es für eine qualifizierte Tätigkeit in der Mini-Branche der Bergbauspezialarbeiten mindestens 12,17 Euro pro Stunde.

    Die überwiegende Zahl der Betroffenen verdient mit schwerer körperlicher Arbeit weiterhin recht wenig, sagt SPD-Vize Andrea Nahles:

    "Es geht um hart arbeitende Leute: in den Wäschereien, vor allem Frauen, die bei Nässe, Dampf, in größter Hitze schmutzige Wäsche dort reinigen. Es geht um die Entsorger, die in den Sortieranlagen das, was wir nicht ordentlich trennen, sortieren, die den Transport organisieren und aus den Hinterhöfen hier in Berlin die schweren Mülleimer rauskarren. Es geht um diejenigen in der Pflege, die auch noch im Schichtdienst nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengende Arbeit machen. Und die haben anständige Löhne verdient."

    Über das Entsendegesetz können tarifvertraglich vereinbarte Mindestlöhne durch Verordnung der Bundesregierung auf alle Arbeitnehmer einer Branche ausgedehnt werden. Voraussetzung ist, dass Arbeitgeber und Gewerkschaft dies gemeinsam beantragen. Der Mindestlohn gilt dann für alle in diesem Wirtschaftszweig Tätigen. Eine Branche wird jedoch nur in das Entsendegesetz aufgenommen, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens die Hälfte aller Arbeitnehmer in einer Branche beschäftigen.

    Ergänzt werden diese Vereinbarungen nunmehr durch das Mindestarbeitsbedingungengesetz - kurz "Mia". Dessen Novellierung hat ebenfalls vor drei Wochen den Bundestag passiert und soll morgen zusammen mit der Ausweitung des Entsendegesetzes vom Bundesrat gebilligt werden. Das "Mia" zielt auf Branchen mit einer Tarifbindung von weniger als fünfzig Prozent, und damit auf einen immer größer werdenden Bereich in der Arbeitswelt. - Noch einmal Andrea Nahles:

    "Wenn wir eine Tarifbindung im Osten mittlerweile von 35 Prozent und eine im Westen von 61 Prozent haben, mit der Tendenz, dass es jedes Jahr nach unten geht, dann müssen wir uns irgendwann dafür entscheiden hinzugucken und nicht wegzugucken."

    Das Mindestarbeitsbedingungengesetz sieht zunächst die Bildung eines unabhängigen Experten-Ausschusses vor. Dieses Gremium prüft, ob in einer bestimmten Branche mit geringer Tarifbindung eine Mindestlohn-Regelung notwendig erscheint. Wird dies befürwortet, ermittelt ein zweiter Ausschuss die konkrete Höhe des Mindestlohns. Dieser Fachausschuss besteht aus je drei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern der betroffene Branche sowie einem unparteiischen Vorsitzenden mit Stimmrecht. Den auf diesem Weg vereinbarten Mindestlohn kann dann die Politik wie beim Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklären. Bestehende Tarifverträge können während ihrer Laufzeit jedoch nicht außer Kraft gesetzt werden. - Unter anderem gelten sowohl das Fleischer- wie das Friseurhandwerk als mögliche Kandidaten für Mindestlohn-Regelungen über das Mindestarbeitsbedingungengesetz.

    Im Arbeitgeberlager stoßen die Initiativen der großen Koalition auf Ablehnung. - Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände:

    "Wir haben in Deutschland eine Tarifautonomie, die besser funktioniert als in jedem anderen Land, und deshalb lehne ich staatliche Eingriffe in die Lohnfestsetzung entschieden ab."

    Während vor allem die Wirtschaftspolitiker in der Union diese Position im Kern teilen, ist der Arbeitnehmerflügel der CDU überzeugt, dass mit den Gesetzesnovellen die Tarifautonomie nicht nur gewahrt, sondern sogar gestärkt werde. - Christdemokrat Gerald Weiß:

    "Wir müssen dort helfen, wo die Lohnfindung gestört ist, wo es eine fehlende Balance gibt, kein Machtgleichgewicht zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern aus welchen Gründen auch immer. Wir wollen nicht, dass schmutziger Wettbewerb, dass Dumping-Löhne kleine Leute benachteiligen und kleine Betriebe benachteiligen, sondern wir wollen faire Bedingungen für kleine Leute und kleine Betriebe in Deutschland haben."

    Dies gilt in besonderer Weise für eine Branche: Für die der Zeitarbeit. Die Sozialdemokraten streiten seit Jahren für eine Mindestlohnregelung für die rund 700.000 Leiharbeiter in Deutschland - die Union hat sich stets dagegen gewehrt, mit dem Argument, dass dies gültige Tarifverträge aushebeln würde.

    Der Kompromiss, der am 12. Januar gefunden wurde, ist ein typischer Schwarz-Roter Kuhhandel. Im Gegenzug für das Einlenken der Union haben die Sozialdemokraten Steuersenkungen zugestimmt. Konsens ist nun, für die Zeitarbeit eine Lohnuntergrenze zu finden und diese im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festzuschreiben. Die Branche soll ausdrücklich nicht qua Entsendegesetz einen Mindestlohn erhalten. So können beide Koalitionäre ihr Gesicht wahren - und den Kompromiss als Erfolg verkaufen, wie es Bundesarbeitsminister Scholz Mitte Januar im Bundestag tat - und dabei bewusst den Begriff Mindestlohn für die Zeitarbeit nicht benutzte:

    "Diese Branche ist gewissermaßen ein Gradmesser für das, was in unserem Lande passiert. Sie, die dort arbeiten, arbeiten in allen Branchen, und deshalb brauchen wir auch dort eine Regelung. Gut, dass wir uns auf einen Weg dazu verständigt haben." (Beifall) "

    Seit dieser grundsätzlichen Einigung aber schiebt die Große Koalition das Thema Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit vor sich her. Auch in dieser Woche ist sie - wieder einmal - nicht im Kabinett beraten worden.

    Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass für eine gesetzliche Regelung eine verbindliche Lohnuntergrenze gefunden werden müsste. Diese Lohnuntergrenze wäre niedrig, denn sie müsste die Löhne der Flächentarifverträge deutlich unterlaufen - der niedrigste sieht ab Juli einen Stundenlohn von 6 Euro im Osten und 7,32 Euro im Westen der Republik vor.

    Die Sozialdemokraten machen keinen Hehl daraus, dass sie die Zeitarbeit am liebsten mit ins Entsendegesetz aufgenommen hätten. Dann aber hätte die Union ihr Wort brechen müssen: Sie hat versprochen, dass Mindestlohnregelungen die Tarifautonomie nicht gefährden dürfen. Mindestlöhne dürfen nicht dazu führen, dass zwischen Tarifpartnern geschlossene Verträge ungültig werden, das ist die Forderung der Industrie - und die von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt.

    " "Ich verlange, dass Tarifverträge durch staatliche Eingriffe nicht außer Kraft gesetzt werden können und Tarifverträge Vorrang vor staatlichen Festlegungen haben, und ich verlange insbesondere auch die Einhaltung der Zusage von Frau Merkel, die Zeitarbeit nicht in das Entsendegesetz aufzunehmen, weil gerade die Arbeitsmarkterfolge der Zeitarbeit ganz wesentlich zu der erfreulichen Entwicklung im Verlauf der letzten Jahre beigetragen haben."

    In der Zeitarbeit, so die Argumente der Arbeitgeber, gibt es Tarifverträge für mehr als 90 Prozent aller Beschäftigten - damit hat die Branche eine höhere Tarifbindung als alle anderen. Was zunächst überraschen mag, hat seinen Grund in einer Gesetzeslücke - und bringt den Beschäftigten weniger Vorteile, als es scheint. Als die rot-grüne Koalition mit der Agenda 2010 die Zeitarbeit grundlegend liberalisierte, legte sie gleichzeitig fest, dass Leiharbeiter künftig der Stammbelegschaft gegenüber gleich zu behandeln und gleich zu bezahlen sind: Die Prinzipien von Equal Pay und Equal Treatment galten fortan dort nicht, wo Tarifverträge zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern etwas anderes festlegten - woraufhin christliche Gewerkschaften, die nicht Mitglied im DGB sind und von diesem nicht als gleichwertig anerkannt werden - umgehend mit einem der Arbeitgeberverbände in der Zeitarbeit einen Tarifvertrag schlossen. Dieser sah Stundenlöhne von unter sechs Euro vor - und, wer ihm beitrat, war nicht gezwungen, seine Leiharbeiter im Betrieb gleich zu behandeln.

    Dem Deutschen Gewerkschaftsbund blieb nicht viel anderes übrig, als mit den verbliebenen Arbeitgeberverbänden ebenfalls Tarifverträge abzuschließen - zu kaum besseren Konditionen. Seit diesem Coup der christlichen Gewerkschaften müssen Leiharbeiter trotz geltender Tarifverträge mit Löhnen zurechtkommen, die am Ende des Monats kaum mehr als den Hartz-IV-Satz einbringen - so schilderte es auch Sven Tech, Betriebsratsmitglied bei der Zeitarbeitsfirma Randstad, bei einer Befragung vor Abgeordneten des Bundestages Anfang November 2008.

    "Wir hören immer wieder von den Kollegen: Wir arbeiten sehr gerne für das Unternehmen, aber wir können es uns von diesem Lohn nicht mehr leisten. - Wir reden hier in der Entgeltgruppe von 6,42 Euro EG1 Ost. Die Kollegen wissen oftmals nicht mehr, wie sie Ihre Familien durchbringen. Und auch in diesen unter den christlichen Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifgebieten ist die Situation noch wesentlich schlimmer. Und wenn solche Mitarbeiter bei uns anfangen, dann sind sie dankbar, für eine gewisse Zeit etwas mehr zu verdienen und damit ihre Familie wieder ein Stückchen weiter voranzubringen und auch ein Stück an der Gesellschaft wieder teilzuhaben."

    Verschlimmert wird die Lage durch Haustarifverträge, die ebenfalls von christlichen Gewerkschaften geschlossen worden waren, und deren Löhne teilweise noch niedriger, nämlich bei vier bis sechs Euro lagen. Die meisten dieser Haustarifverträge sind ausgelaufen, einige aber gelten noch - und andere wirken fort, obwohl sie ausgelaufen sind, weil Arbeitgeber sich weigern, einen Folgetarifvertrag abzuschließen. Die Wut der DGB-Gewerkschaften auf die christlichen wird deshalb kaum noch verborgen. Für den Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, sind sie mit schuld an der Deklassierung der Leiharbeiter in Deutschland.

    "Was wir brauchen ist eine Gleichbehandlung von Leiharbeit und Stammarbeit vom ersten Tag an, was die Bezahlung angeht, und das heißt, dass die Ausnahmebestimmung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz rausgenommen werden muss, wonach im Grundsatz Leiharbeit und Stammarbeit gleich bezahlt werden muss, es sei denn, es gibt einen abweichenden Tarifvertrag. Und dann haben wir diese Stricherorganisation vom Schlage CGB, die im Grunde Gefälligkeitstarife machen und sich noch für jeden Mist hergeben. Das muss bekämpft werden."

    Dass der christliche Gewerkschaftsbund CGB von Bsirske in einen Zusammenhang mit Straßenprostituierten gebracht wird, zeigt allerdings auch, wie ernst die DGB-Gewerkschaften die Konkurrenz nehmen. Dabei geht es ihnen nicht nur um die Leiharbeiter. Auch in anderen Bereichen geraten die DGB-Tarifverträge durch die niedrigen Lohnabschlüsse der christlichen Gewerkschaften unter Druck - denen der DGB am liebsten den Status von Gewerkschaften absprechen würde. Gerichte haben die christlichen Gewerkschaften aber immer wieder als tariffähig bestätigt - und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört zu ihren Fürsprechern.

    "Der Anspruch des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist hier einer, der vielleicht anderen Gewerkschaften nicht ganz soviel Raum einräumt wie ich das tun würde. Ich finde, wir haben einen intelligenten Kompromiss gefunden, indem wir als Union gesagt haben, wir wollen die Tarifautonomie - auch der christlichen Gewerkschaften - akzeptieren. Aber wenn es Haustarifverträge gibt, die in einem Maße auch Löhne anbieten, die wir nicht für geeignet halten, dann wollen wir eine Lohnuntergrenze einziehen."
    Da sich die zu findende Lohnuntergrenze zwangsläufig an den Tarifverträgen der christlichen Gewerkschaften orientieren wird, werden sie durch diesen Kompromiss künftig sogar aufgewertet. Kein Wunder, dass die Sozialdemokraten auf günstigere Mehrheiten warten wollen - und das Thema erst einmal mit in den Wahlkampf nehmen. Die Union dagegen gibt an, Wort gehalten zu haben. Es gibt keinen Mindestlohn in der Zeitarbeit, sagt der CDU-Arbeitsmarktexperte Ralf Brauksiepe, und die Tarifautonomie bleibt gewahrt, auch wenn sie im Fall der Zeitarbeit niedrige Löhne zementiert.

    "Wo Tarifkonkurrenz ist, werden wir nicht als Gesetzgeber die Tarifkonkurrenz in der Weise lösen, dass wir bestimmte Tarifverträge verdrängen. Deswegen gibt es auch nicht die Aufnahme der Zeitarbeit in das Entsendegesetz. Aber ich habe auch schon in früheren Debatten hier gesagt: Wer ein Interesse an tariflichen Mindestlöhnen hat - und wir haben das -, wer ein solches Interesse hat, der muss auch ein Interesse daran haben, dass möglichst viele Verhandlungspartner sich zu einer freiwilligen Vereinbarungs- und Verhandlungslösung zusammenfinden. Das muss dann der Anspruch sein."

    In der Mindestlohn-Diskussion lassen sich drei verschiedene Philosophien ausmachen. Zum einen die der Großen Koalition: Schwarz-Rot sucht auch auf diesem Politikfeld nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner und setzt daher auf branchenspezifische Lösungen. Zum andern gibt es hierzulande sowohl entschiedene Gegner jeder Form von Mindestlöhnen - als auch Stimmen, die laut und entschlossen nach der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns rufen.

    Dessen Befürworter verweisen unter anderem darauf, dass Branchen-Mindestlöhne nicht das grundsätzliche Problem lösten: Weiterhin würden nämlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen mit Hungerlöhnen abgespeist, sagt etwa Brigitte Pothmer von den Grünen. Die Arbeitsmarktexpertin ihrer Fraktion geht noch einen Schritt weiter, indem sie argumentiert: Behalten bestehende Tarifverträge ihre Gültigkeit, bleiben auch genau die Dumpinglöhne in Kraft, die den Gewerkschaften in vielen Fällen von den Arbeitgebern abgetrotzt wurden:

    "Was hat Ihr Gesetz für einen Vorteil für die Friseurin in Sachsen, die 3,06 Euro verdient, oder für die Floristin in Westdeutschland für 5,94 Euro, oder für das Fleischerhandwerk 4,50 Euro die Stunde? Ich frage mich, warum sollen wir Tariflöhne auf diesem Niveau schützen?"

    Im parlamentarischen Raum sieht das die Linkspartei nicht anders als die Grünen. Und auch die SPD würde, wenn die Union sie nur ließe, längst einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben. - Besonders starken Druck in dieser Diskussion machen die Gewerkschaften, nicht zuletzt angetrieben von der Frustration darüber, dass man in der jüngeren Vergangenheit wegen der eigenen organisatorischen Schwäche viel zu oft erbärmlich niedrigen Tarifabschlüssen hatte zustimmen müssen.

    So ist auch für Verdi-Chef Bsirske klar: Der gesetzliche Mindestlohn muss kommen, alles andere sind nur Scheinlösungen. Schließlich ist die Situation im Niedriglohnbereich unerträglich, und sie wird immer schlimmer, macht Bsirske geltend:

    "2006 arbeiteten 5,5 Millionen Beschäftigte für einen Bruttostundenlohn unter 7,50 Euro und 1,9 Millionen Beschäftigte für Stundenlöhne von 5 Euro brutto und weniger, vor allem Jüngere, Frauen, Migranten. Der Anteil der Niedriglöhner ist besonders stark in Branchen gewachsen, in denen das Lohnniveau ohnehin bereits unterdurchschnittlich niedrig war bzw. der Niedriglohnanteil überdurchschnittlich hoch."

    Franz-Josef Möllenberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, führt ein weiteres Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn an: Er weist darauf hin,

    "dass unser Staat, wir alle gemeinsam, rundgerechnet vier Milliarden Euro jedes Jahr aufwenden müssen, um Menschen, die in Beschäftigung stehen, Zuschüsse zu zahlen über Arbeitslosengeld II, damit die überhaupt ihre Existenz unterhalten können. Wir sind schon der Auffassung: Das sollen die Arbeitgeber zahlen."

    Bei CDU und CSU verfangen solche Argumente nicht: Mindestlöhne könnten absolut kontraproduktiv sein und geradezu als "Jobkiller" wirken, befürchtet Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel:
    "Gegen den einheitlichen flächendeckenden Mindestlohn sind wir deshalb als Union, weil wir Sorge haben, dass dadurch bei den sehr unterschiedlichen Gegebenheiten in Ost, in West, in Nord und Süd doch Arbeitsplätze verlorengehen könnten."

    Mit dieser Auffassung weiß Angela Merkel nicht nur ihre Parteifreunde hinter sich. Auch die meisten Experten teilen diese Meinung. So etwa Viktor Steiner vom DIW, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Ein flächendeckender Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde, wie ihn nicht nur die Gewerkschaften fordern, hätte laut Steiner fatale Folgen:

    "Die würden vor allem geringfügig Beschäftigte betreffen, aber auch gering qualifizierte Arbeitnehmer, vor allem Frauen in Ost- und Westdeutschland. Ich habe nicht den Eindruck, dass hier große Überlegungen angestellt wurden, weil sonst hätte man wohl kaum zu der Einschätzung gelangen können, dass man die Beschäftigungschancen der gering Qualifizierten dadurch verbessert, dass man die Kosten ihrer Beschäftigung erhöht."
    Als Beleg für ihre These führen die Mindestlohn-Gegner neuerdings stets die Situation bei den Postdiensten an - noch einmal Arbeitgeber-Präsident Hundt:

    "Mindestlöhne sind unsozial, weil sie Arbeitsplätze vernichten. Als Folge der Einführung eines Mindestlohns im Briefzustellergewerbe sind eine große Zahl von Unternehmen auf der Strecke geblieben."

    Wobei die Befürworter von Mindestlöhnen für den Arbeitsplatz-Abbau bei den Briefzustellern einen gänzlich anderen Grund sehen: Hier seien im vergangenen Jahr lediglich Jobs gestrichen worden, die von skrupellosen Unternehmen nur so lange angeboten wurden, wie in dieser Branche die Zahlung von Hungerlöhnen möglich war.

    Daher halten es die DGB-Gewerkschaften für reine Propaganda, wenn stets behauptet wird, Mindestlöhne vernichteten Arbeitsplätze. - Aus Sicht der Befürworter eines flächendeckenden Mindestlohns gibt es ein weiteres Argument: In fast allen Ländern der EU sind solche gesetzlichen Lohnuntergrenzen seit vielen Jahren üblich - ohne dass dies zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hätte.